Stigmatisierung im Hilfesystem
Von Tina Steiger
„Diese Frauen sind alle“ - keinen anderen Satz habe ich in meiner Beschäftigung mit dem Gewaltschutz für Frauen häufiger gehört, als diesen. Was danach folgt sind Reihungen aller möglichen Vorurteile und Einzelerfahrungen (!) mit Gewaltbetroffenen, die dann als Stereotype über alle „diese“ Frauen herangezogen werden.
„Diese Frauen sind alle Borderlinerinnen.“
„Diese Frauen gehen alle zurück zum Täter.“
„Diese Frauen hinterlassen Schutzwohnungen renovierungsbedürftig.“
„Diese Frauen wollen sich an ihren Ex-Männern rächen.“
„Diese Frauen ziehen im Gericht ihre Aussagen wieder zurück.“
„Diese Frauen sind alle zu belastet, um erziehungsfähig zu sein.“
„Diese Frauen sind Teil des Konflikts.“
„Diese Frauen sind manipulativ.“
„Diese Frauen wollen nur das Geld.“
Die Sätze stammen von Therapeut:innen, von Fachkräften in Jugendämtern, von Frauenhausleitungen (!), von Polizist:innen, von Fachkräften aus der Kinderhilfe und von Verfahrensbeteiligten in Familiengerichten.
Genau diese Leute müssten den Gewaltschutz für Frauen und damit für die Kinder gewährleisten. Und genau mit diesen Aussagen tun sie das nicht. Im Gegenteil, denn sie agieren mit diesen Aussagen über Betroffene indirekt pro Täter. Sie stigmatisieren von Gewalt betroffene Frauen und belegen sie mit nicht fundierten Klischees, die genau die Narrative bedienen, in denen hilfesuchende Frauen als intrigant, geldfokussiert und als verantwortungslose Mütter generalisiert werden. Das ist das Fundament jeder Täter-Opfer-Umkehr.
Weisen Betroffene und Betroffeneninitiativen darauf hin, dass kein Gewaltschutz noch Kinderschutz so funktioniert, dann kreischt es aus den Ecken „Aber wir sind die ausgebildeten Fachkräfte.“ Ja? Wenn der Orthopäde eine Patientin mit Migräne vor sich hat, ist auch er die medizinische Fachkraft. Verschreibt er ihr jedoch eine Lösung für einen verstauchten Knöchel, dann weiß sie sehr wahrscheinlich besser, dass er ihr nicht wird helfen können.
Es ist notwendig, Betroffene als die wichtigsten Expertinnen für sich und ihre Kinder anzuerkennen und mit ihnen gemeinsam gute Lösungen zu erarbeiten. Individuell und im Vertrauen, dass die Frauen eigenverantwortlich gute Entscheidungen treffen.
So unglaublich viele ausgebildete Fachkräfte haben kein fundiertes Wissen zu Gewalt, Täterstrategien, Kinderschutz bei Männergewalt, Coercive Control oder dem Einfluss patriarchaler Ausbildungsinstitute auf Verfahrensbeteiligte. Sie wenden stattdessen Narrative der Parität zwischen Männern und Frauen an und betonen, neutral und „pro Kind“ zu agieren. Nur so funktioniert Gewaltschutz eben nicht. Weder über eine 50/50 Schuldannahme, noch über eine Selbstüberhöhung per Neutralität. Wer bei Gewalt beim Opfer Mitschuld und Auslöser sucht, agiert pro Täter.
Ich möchte heute nicht darauf eingehen, wieso jedes der oben genannten Einzelvorurteile abzulehnen ist, weil unwahr und voller Geschlechter-Bias. Und auch nicht, woher sie rühren und was sie über die sprechende Person aussagen. Das zu recherchieren, bleibt heute „Fachkräfte“- Hausaufgabe.
Eins sei jedoch angemerkt. Frauen sind dann betroffen, wenn Männer sich entscheiden, Täter an ihnen zu werden. Diese, Täter und Opfer, finden sich laut dem Bundeskriminalamt in allen sozialen Milieus, unter allen Berufen und allen akademischen Graden.
Wer seine Sätze mit „diese Frauen sind alle“ formuliert, zeigt vor allem, dass er großen Aufholbedarf in Sachen Gewaltschutz und Kinderschutz bei Gewalt gegen die Mütter hat. Zudem offenbaren diejenigen, dass ihre Haltung vielleicht allgemein gegen Gewalt, aber nicht pro Opfer ist. Das macht in Summe ein Hilfesystem, das in sich ein Schutzrisiko darstellt.