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Neiman und Foucault - Teil 3: Foucault und die Linke

"Sexualität und Wahrheit 1: Der Wille zum Wissen" zu ignorieren, so, wie Susan Neiman dieses in “Links ist nicht woke” tut, ist bei einem Sujet wie "woke", das den sozialen Kämpfen von BPoC entstammt, doppelt sträflich. Auch, weil es sich um eine Auseinandersetzungen mit dominanten Strömungen in der politischen Linken handelt, die Foucault auch harsche Kritik einbrachte.

 Der grobe Plot, oben kurz angerissen, in “Der Wille zum Wissen” besteht darin, dass im Zuge der Entstehung der Sexualwissenschaften und durch die Wirkung der Psychoanalyse gerade auch auf der Linken Menschen dazu gebracht wurden, sich als Subjekt einer schaurig in ihnen wohnenden und sie regierenden Sexualität zu begreifen, die zu befreien sei. Das damit korrespondierende humanwissenschaftliche Wissen produzierte eine Sexualwissenschaft, die mit der "Einpflanzung von Perversionen" arbeitete. In Hermeneutiken des Selbst hatte man eigenes Begehren und die gesamte Persönlichkeit daraufhin abzuklopfen, ob nicht irgendwo in den Untiefen der Psyche noch etwas lauerte, dass sich jenen sexuellen Spielarten entzog, die für die Reproduktion zuständig waren. Die frühe Industrialisierung brauchte Menschenmaterial, das gezeugt und geboren werden sollte.

 "Die Fortpflanzung, die Geburten- und Sterblichkeitsrate, das Gesundheitsniveau, die Lebensdauer, die Langlebigkeit mit allen ihren Variationsbedingungen wurden zum Gegenstand eingreifender Maßnahmen und regulierender Kontrollen: Bio-Politik der Bevölkerung."[1] (Öffnet in neuem Fenster)

 Ist doch super, alle sollen länger leben. Humanismus pur. Könnte man meinen. Probleme entstehen jedoch für viele im Zuge der Kontrolle von Verhalten - wie z.B. bei der Schwangerschaftsverhütung. Die Bio-Politik fügt sich zudem ein in Prinzipien kapitalistischer Produktion ein:

 "Die Abstimmung der Menschenakkumulation mit der Kapitalakkumulation, die Anpassung des Bevölkerungswachstums an die Expansion der Produktivkräfte und die Verteilung des Profits wurden auch die durch Ausübung der Bio-Macht in ihren vielfältigen Formen und Verfahren ermöglicht. Die Besetzung und Bewertung des lebenden Körpers, die Verwaltung und Verteilung seiner Kräfte waren unentbehrliche Voraussetzungen."[2] (Öffnet in neuem Fenster)

 Praxen wie Masturbation, sich der Fortpflanzung entziehende "hysterische" Frauen, gleichgeschlechtliche Praxen besetzten Mediziner und Psychiater mit ausgefächerten pathologisierenden Diagnostiken. Sie schufen damit das Raster, das noch in den zu Beginn zitierten Gutachten vor Gericht nachwirkte. Sie produzieren das Deviante - Macht ist produktiv.

Da die Reproduktion so wichtig war, wurde sie in kleinbürgerlichen Gefügen noch der Arbeiterschaft aufgeprägt - raus aus dem Gängeviertel, rein in die 3-Zimmer-Wohnung und schön in der Familie bleiben. Foucault spürt auch jene historischen Situationen auf, in denen sich Rassismus formieren konnte.

 "Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist es dazu gekommen, daß die Thematik des Blutes beschworen wird, um den in den Sexualitätsdispositiven wirkenden Typus politischer Macht mit einer geschichtlichen Mächtigkeit zu unterlegen. An diesem Punkt formiert sich der Rassismus - der moderne, staatliche, biologisierende Rassismus: eine ganze Politik der Bevölkerung, der Familie, der Ehe, der Erziehung, der gesellschaftlichen Hierarchisierung, des Eigentums und eine lange Reihe ständiger Eingriffe, in den Körper, in das Verhalten, in die Gesundheit, in das Alltagsleben haben ihre mythische Rechtfertigung aus der mythischen Sorge um die Reinheit des Blutes. Der Nazismus war zweifellos die naivste und deshalb heimtückischte Verquickung der Phantasmen des Blutes mit den Paroxysmen der Disziplinarmacht."[3] (Öffnet in neuem Fenster)

 Rassismus tritt hinzu, weil auf einmal Erblinien wie zuvor schon beim Adel nun in den endlich mal klar nachvollziehbaren Fortpflanzungslinien nach all dem unkontrollierten Kopulieren des Lumpenproletariats nachvollziehbar wurden. Dass das empirisch wirkte, zeigt sich in meiner Familiengeschichte. Da in der "Erblinie" meiner Großmutter zu viele uneheliche Kinder aufwuchsen, deren Vater nicht bekannt war, erhielt sie im Nationalsozialismus keinen "Ariernachweis". Im Süden der USA waren Einsprengsel falschen Erbguts für die Nachkömmlinge ggf. fatal und galten als "Rassenschande".

 Ja, man kann das Erbe der Aufklärung im Sinne der gleichen Rechte aller dagegen ins Feld führen. Man kann aber nicht wegredigieren, dass solche Politiken trotz Aufklärung bis heute nachwirken. Als in Georgia aufgewachsen kennt Neiman diese Prinzipien. Sie glaubt jedoch, dass solche Mechanismen, die bis in an "Whiteness" orientierte Schönheitsnormen reichen, politisch nicht benannt werden dürften, weil das ja tribalistisch sei. Es wirkt aber direkt auf Verteilungsgerechtigkeit ein. Somit fordern viele mittlerweile anonymisierte Bewerbungen, um diese Mechanismen auszuhebeln. Ja, im Sinne abstrakter Prinzipien. Aber die anzuwenden erfordert auch Kenntnisse lebensweltlicher Ausgrenzungs- und Hierarchiebildungspraxen.

***

Wenn Foucault über "Moral" schreibt, dann meint er die abstrakten Prinzipien des Kategorischen Imperativs, den er als Kant-Übersetzer natürlich kannte. Als Teil der Arbeit zur Gewinnung der französischen Parallelinstitution zum Doktortitel übersetzte er Kants "Anthropologie". In seinem Spätwerk untersuchte er die Regulierung von Praxen, Sichtweisen und Selbstverständnissen im Alltag. In der Einleitung zu "Sexualität und Wahrheit 2: Der Gebrauch der Lüste" taucht Moral folgendermaßen auf:

 "Unter "Moral" versteht man ein Ensemble von Werten und Handlungen, die den Individuen und Gruppen mittels diverser Vorschreibeapparate - Familie, Erziehungsinstitutionen, Kirchen usw. - vorgesetzt werden."[4] (Öffnet in neuem Fenster)


Die präskriptiven Elemente bezeichnet Foucault als Moralcode, hinzu tritt tatsächliches Moralverhalten.

"Ein Drittes ist die Art und Weise, wie man sich führen und halten - wie man sich selber konstituieren kann soll als Moralsubjekt, das in Bezug auf die den Code konstituierenden Vorschriften handelt."[5] (Öffnet in neuem Fenster)

 Diese Trinität aus Code, Verhalten und Subjektivierungsweise in Relation zum Code gruppiert sich um "ethische Substanzen". Als solche Substanzen galten Begierden, ganz konkret auch Körpersäfte. In der Antike formulierten solche Codes Anleitungen zur Arbeit an sich selbst; zu Herausbildungen von Tugenden und somit, kantianisch, auch Pflichten gegen sich selbst. In den antiken Schriften finden sich dem folgend "Problematisierungsweisen", also Arten, etwas als Problem zu identifizieren. Als theoretisches Tool funktioniert dieser Begriff hervorragend; es hilft bei aktuellen Diagnostiken, zu überprüfen, was, wie und warum als Problem geschildert wird. Wenn Menschen "woke" als Problem behaupten, dann zumeist, weil Marginalisierte es wagen, aus anderer Sicht selbst Probleme zu benennen, als es die Mehrheitsgesellschaft ihnen vorschreiben möchte. Erst wird so Devianz hergestellt und anschließend Aussagen delegitimiert.

 In der Antike galt analog: Wenn zur "Knabenliebe" so viel Texte produziert wurden, so deshalb, weil es ein Problem darstellte, dass ein freier Mann sich von einem anderen freien Mann penetrieren ließ. Was eben nicht aktiv, somit unfrei sei. Diese "Problematisierungsweisen" sind Sujet seines Spätwerks. Was jeweils zum Problem wird, das hat Texte hervorgebracht, und die Verschiebungen von Athen über die römische Stoa bis hin zum frühen Christentum ist Gegenstand seiner Untersuchung.

 Klar ist, dass ein solches begriffliches Instrumentarium aktuell eher in Diskussionen rund um vegane Ernährung oder Selbstoptimierung für den Arbeitsmarkt anzuwenden ist. Da erscheinen sie jedoch weit häufiger, als dass beim Einkaufen nun individuelle Maximen mit möglichen Prinzipien allgemeiner Gesetzgebung abgeglichen würden. Alles rund um das Funktionieren im Kapitalismus ist hochgradig moralisch aufgeladen; so z.B. die Diskurse über undisziplinierte Faulenzer, die aufrechten Steuerzahlern nur auf der Tasche lägen. Es regiert die Vorstellung, man habe als "ethische Substanz" vor allem Eigenschaften für potenzielle Arbeitgeber zu kultvieren - im Sinne der Verwertbarkeit - und würde dadurch und nur dadurch gesellschaftliche Wertschätzung erfahren können. Diese Mechanismen wirken. Wiederum kann man sie unter Rekurs auf allgemeine Menschenrechte auch kritisieren; das gelingt jedoch besser, wenn man sie mit Foucault zuvor auch begreift.

 Das Buch von Neiman strotzt nicht zuletzt von der Naivität derer, die glauben, durch rigide-doktrinäres Auslegen von bestimmten Prinzipien der Aufklärungsphilosophen und deren Beschwörung würden solche Mechanismen mal eben so verschwinden. Das verdeckt gerade die gesellschaftlichen Felder, in denen mit Foucault, und viele Studien folgen ihm, solche Mechanismen inmitten des ganz realen Kapitalismus aufsprüte - als "Unterwerfungs- und Subjektvierungsweisen". Menschen werden subjektiviert in Märkten, die voller Binnenmoral stecken und auch moralisierend auf großer politischer Bühne debattiert werden. Das ist sogar Susan Neiman aufgefallen. Sie ist sich aber nicht zu blöd, folgendes zu schreiben:

"Did Angela Merkel know she was channeling Foucault when she called for a "democracy that confirms to markets" (marktkonforme Demokratie)?"[6] (Öffnet in neuem Fenster)

 Gegenfrage: ist Susan Neiman in der Lage, die kritische Ausrichtung von Foucaults Schriften zu verstehen? Tatsächlich hat er sich die Mühen der Ebene aufgebürdet, geforscht und Begriffe gefunden, die Subjektvierung und Unterwerfung durch Märkte überhaupt fassen zu können, anstatt Kant für das Poesiealbum aufzubereiten und zu glauben, das sei nun linke Gesellschaftskritik.

Die "Gouvernementalitätstudien", die auf einige von Foucaults Vorlesungen aufbauen, haben genau das zum Inhalt. Wenn man sich dann darauf zurückzieht, dass man ja gar keine Exegese Foucaultscher Schriften betreibe, sondern nur deren Wirkung auf "woke" erforsche, ist zumindest entgangen, dass es um diese Analyse von Alltagspraxen in Arbeitsverhältnissen bei "woke" eben auch geht. Man achte auf Diskriminierung am Arbeitsplatz, wo oft BPoC Weißen die Büros putzen. Neiman ignoriert das, mutmaßlich als Tribalismus der Gegenaufklärung. Um stattdessen Folgendes zu behaupten:

 "For neoliberalism human capital is both descriptive of who we are and normative of we should be. (Develop your brand) We will never know if Foucault agreed, but he leaves us with no tools to contest it." (S. 253)

 Doch. Foucaults Bücher und Vorlesungen sind voll davon. Dazu muss man sie allerdings auch lesen und nicht nur Youtube gucken. Stattdessen affirmiert Neiman selbst Prämissen, die die neoliberale Ordnungen zusammenhalten:

 " Nicht mehr der Held, sondern das Opfer soll nun das Subjekt der Geschichte sein. (...) Anerkennung wird hier nicht mehr damit verbunden, was man in der Welt getan hat, sondern eher, was einem angetan wurde." (Öffnet in neuem Fenster)

Mit anderen Worten: nur Leistung zählt. Während Marx' Analysen des Lumpenproletariats oder das Leiden von Minenarbeitern in afrikanischen Minen keine Rolle spielen solle. Solche Passagen noch unter links zu verbuchen erfordert Mut. Dann feiern wir doch stattdessen "Helden" wie Musk und Trump.

 Zum Neoliberalismus sind zwei Vorlesungsbände erschienen, in denen er sich mit diesen Doktrinen, also denen von Hayek, Friedman und anderen, aber auch dem Ordoliberalismus auseinandersetzte. Was Neiman nicht auffiel. In der Version Ludwig Erhardts enthielt dieser sozialstaatliche Komponenten.

 Die Fragestellung dieser Studien war die bereits erwähnte frage: "Wie schaffen wir es, nicht so dermaßen regiert zu werden?"

 Traditionell linke Politiken folgten wie Foucault und anders als Neiman bei der Beantwortung nicht bruchlos abstrakten Gerechtigkeitsvorstellungen. In der marxistischen Tradition bilden Widersprüche und Interessengegensätze die treibende Kraft fortschrittlicher Bewegungen, nicht abstrakte Gerechtigkeitskonzeptionen auf der Basis der Schriften von Immanuel Kant: Klassengegensätze, der Widerspruch zwischen Produktivkraftentwicklung und Produktionsverhältnissen.

Marx führte eine Kritik der Menschenrechte (!) durch, in der er den Widerspruch zwischen Citoyen und Bourgeois entfaltet. Das heißt: zwischen der Staatsbürgerrolle derer, die wählen dürfen und sich im Rahmen von demokratischen Öffentlichkeiten politisch engagieren und denen, die als Besitzbürger über das Eigentum an Produktionsmitteln verfügen und so Menschen ausbeuten können. Klassische linke Kämpfe sind Verteilungskämpfe. Spätestens Bourdieu hat ausgearbeitet, dass Kapital auch als kulturelles, soziales und eben ökonomisches existiert.

 "Woke" ist aus dieser Perspektive eine Form des Verteilungskampfes um Ressourcen und Zugänge zu allen Bereichen des Kapitals. Es geht um Produktionsmittel auch in Medien, Wissenschaft und Kulturbereichen.

 Die jeweiligen Positionen stellen auch nicht die Akteure her. Die Rolle des Homosexuellen ist eine zugewiesene. Da ist zunächst nur Begehren, Liebe, ein anderes Verhältnis zu Geschlechtlichkeit kann eine Rolle spielen. Anschließend folgt die Konfrontation mit sozialem und kulturellem Kapital, ggf. ziemlich handfeste. Dass diese dann Räume schaffen, in denen sie denen begegnen, die schlicht ihre Interessen teilen, das ist kein "Tribalismus". Das ist legitime Interessenpolitik.

 Ebenso Forderungen nach Partizipation, eine klassisch linke Forderung, und Repräsentation, das ist urdemokratisch. Es gibt auch kein Selbstempfinden als "schwarz" in westlichen Gesellschaften, das sich nicht formen würde an einer Norm des Weißseins mit erheblichen Folgen. Stuart Hall hat sich die Finger wund geschrieben, um dergleichen zu analysieren. Menschen verbieten zu wollen, das zu äußern, indem man es als "Stammesdenken" diskreditiert, ist eine Verschleierung tatsächlicher Machtverhältnisse. Die Interessen Deklassierter zu negieren führt jedoch nicht in linke Politik, sondern in Formen der Herrschaft. 

 Im Kommunistischen Manifest findet sich deshalb noch die Diktatur des Proletariats als Zwischenstufe hin zum Sozialismus. Das Mittel: nicht etwa die 1 zu 1-Umsetzung von abstrakten Gerechtigkeitsvorstellungen, sondern Klassenbewusstsein, also Partikularismus, das auf die Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmitteln zielt und in das Absterben des Staates münden sollte. Eben jener Instanz, die im real existierenden Sozialismus zum diktatorischen Monstrum mutierte.

 Das hat Foucaults Denken nachhaltig geprägt, dass so etwas möglich wurde: der Staat, der sich in Verfassungen doch auf abstrakte Gerechtigkeit beruft, ist zugleich Möglichkeitsbedingung sozialer Ungerechtigkeit, von Segregation und Queerfeindlichkeit. Seine Schriften sind vor allem Kritik des Staates, der neben den Grundrechten Instanzen  schafft wie das Gutachterwesen vor Gericht, um das, was er als seine Grundlage ausgibt, zu unterlaufen.

 Heute ist die Mauer weg. Man kann sie aber in der Rezeption nicht einfach so ignorieren und so tun, als habe es sie nicht gegeben. Als sei on top Kolonialismus nur irgendein Unfall gewesen, nicht etwas die macht- und gewaltthaltige Inbesitznahme von Menschen und Territorien aufgrund des Dünkels, als "Aufgeklärte" und "Vernunftbegabte" den "Naturvölkern" überlegen zu sein.

 Mit Kant und Habermas denke ich, dass nur eine Selbstkritik der Vernunft das überwinden kann. Eine solche Selbstkritik wischt Neiman vom Tisch. Sie kennt zumindest im behandelten Buch auch keine Unterscheidung zwischen Vernunfttypen, wie sie doch von Kant (reine und praktische Vernunft, Urteilskraft), von Max Weber (Zweckrationalität, Wertrationalität) und Habermas (strategisch-funktionale Rationalität, verständigungsorientiert-kommunikative Rationalität in praktischen Diskursen) vorgenommen wurde. Das ist auch nicht nur ein Thema für Doktorarbeiten. Das kann man täglich erfahren, wenn man als Schwuler instrumentalisiert wird, weil Rechte gegen den "Regenbogen-Faschismus" agitieren, um den Fortbestand ihres "weißen Volkes" abzusichern.

 Foucault kann man so lesen, dazu gibt es auch viel Literatur, dass er eine Kritik der instrumentellen Vernunft mit anderen Mitteln formulierte und dabei auf das Problem stieß, dass es als wahr auftretende Diskurse im Kontext der Humanwissenschaften gab, die Freiheitsspielräume einschränkten, ja, Menschen diskredierten und inhaftierten. Er verfährt nicht methodisch irrational oder anarchistisch, sondern außerordentlich systematisch. Was ihn mit Adorno verbindet, ist, dass er um die Machtwirkung "identifizierenden Denkens" wusste. Dieses weist Menschen Plätze zu in der Gesellschaft, definiert sie als Teil des jeweils funktional Sinnvollen und Auszusortierenden. Er wusste auch, dass positive formulierte Utopien in das Gegenteil dessen münden können, was sie doch zu verwirklichen vorgaben.

 Denn so weh es manchen auf der Linken tut, die manchmal völlig ignorieren, dass zwischenzeitlich die Mauer fiel und das Sowjetimperium implodierte, ist Foucaults gesamtes Schaffen tatsächlich auch eine Kritik der Linken. Ich denke, dass Teile als linke Selbstkritik zu lesen sind, vor allem die Schriften zur Macht. Andere Teile erheben diesen Anspruch gar nicht erst.

 Foucault opponierte offen gegen den "Terror der Dialektik der Temps Modernes", also der von Jean-Paul Sartre herausgegebenen, linken Zeitschrift. Die "Ordnung der Dinge", ein irrwitzig kompliziertes und schwieriges Buch, bei dem man ohne philosophische Kenntnisse zunächst gar nichts versteht, avancierte deshalb zum Bestseller. Es wurde als Attacke auf Sartre gelesen. Die Linke der 50er und 60er Jahre ging auch alles andere als freundlich mit Schwulen um. Die heutige rund um Neiman ja auch nicht.

 "Die Ordnung der Dinge" formuliert einen Generalangriff auf hegelmarxistische Geschichtsphilosophie. Sartres Antwort auf die Foucaultsche Kritik vulgärmarxistischer Historienkonstruktion fiel entsprechend aus: der habe nur eine Geologie verfasst und DIE GESCHICHTE als Richter dabei ausgeblendet - ein Fortschrittskriterium, damals noch, dass dazu führte, dass im Namen DER GESCHICHTE viele Menschen im Gulag umkamen.

 "Sexualität und Wahrheit 1" ist zudem ziemlich explizit eine Kritik des damals weit verbreiteten Freudomarxismus, der auch in der Kritischen Theorie Marcuses zentral wirkte. Nach Erscheinen von Solschenyzins "Archipel Gulag" zeigte sich Foucault entsetzt, schrieb eine begeisterte Kritik zu Glucksmanns "Meisterdenkern" und ätzte gegen die Annahme, der Stalinismus beruhe wohl nur auf einem "Lesefehler" der Texte von Marx. Bei Foucault wie bei Lyotard wirkt der Schock eines in den Totalitarismus umkippenden Marxismus zentral in den Impulsen ihres Denkens. Deshalb finden sich bei Foucault tatsächlich auch Passagen, die man ähnlich bei Konservativen in den 70ern fand. Folgender z.B.:

 "In der Tat wissen wir aus der Erfahrung, daß der Anspruch, dem System der gegenwärtigen Realität zu entkommen, um allgemeine Programme einer anderen Gesellschaft, einer anderen Weise zu denken, einer anderen Kultur, einer anderen Weltanschauung hervorzubringen, nur zur Rückkehr der gefährlichsten Traditionen geführt hat."[7] (Öffnet in neuem Fenster)

 Diese Motive leiteten aber auch das Denken der so genannten "Alternativbewegung" an. Diese setzte auf alternative Wohnformen, auch Hausbesetzungen, Indie-Label in der Musikproduktion, Bio-Läden selbst gründen, selbstverwaltete Stadtteilzentren, die taz. Foucault nahm an einem der Gründungsmomente teil, dem "Tunix"-Kongress in Berlin 1978. Diese sich explizit als links situierende Veranstaltung setzte sich ab von SDS, DKP und K-Gruppen und suchte Wege Denkens und Handelns außerhalb dessen, was Robert Kurz den "exoterischen Arbeiterbewegungsmarxismus" nannte.

Foucault verspürte Sympathien für Anarchismus und wollte dem entrinnen, was Lyotard als "Die großen Erzählungen" rekonstruierte. Lieber spezifisch historisch arbeiten, sich auf Lokales fokussieren und auf konkrete Intervention, als nun zu glauben, als Akteur DIE GESCHICHTE auf ihr grandioses Ziel der totalen Befreiung hin anzutreiben und dabei über Leichen zu gehen.

Wie Neiman auch erwähnt, halte ich die Debatte für offen, ob sich nicht Anknüpfungspunkte zu Anarchokapitalisten sich finden lassen. Weil er vor allem staatliche Praxen kritisierte. "Die Ordnung des Diskurses", seine Antrittsvorlesung am Collège de France, ist einer der Lieblingstexte solcher Gruppierungen geworden. Auf Pasolini, Gramsci und andere Denker der Linken berufen die sich aber auch. Verknüpfungen zu Carl Schmitt, die Neiman herbei suggeriert, indem sie Referate zu Foucault und Schmitt aneinanderklebt, als hätten sie etwas miteinander zu tun, finden sich wenn, dann bei Giorgio Agamben, der explizit Hannah Arendt, Foucault und Schmitt verband.

In einem weiteren Aufsatz, den Susan Neiman scheinbar zumindest auszugsweise gelesen hat, entwickelt Foucault sein Programm der Anknüpfung an die Aufklärung. Kant habe, so Foucault, in seiner berühmten Schrift "Was ist Aufklärung?" die Frage nach der Aktualität, der spezifischen historischen Situation gestellt. Foucault entwickelt die Idee eines philosophischen Ethos, der, ohne ins Doktrinäre oder Metaphysische zu kippen, in einer kritischen Haltung zum jeweils punktuell zu identifizierenden Problemen im Gegenwarts-Geschehen interveniert - prozessual gedacht. Aufklärung ist eine Praxis, ja, ein Ethos der Reflektion, Kritik und Entwicklung von Gegenstrategien angesichts konkreter, historischer Situationen. Sie kann methodisch so praktiziert werden, dass sie die Entstehung aktueller Felder verdichteter Macht analysiert und aus dieser Analyse Freiheitsspielräume gewinnt. Slogans wie "Die Geschichte der Gegenwart" ergeben sich aus dieser Programmatik, eben der Annahme, dass Genealogien wie im Werk Foucaults, die die Analyse des Entstehens aktueller Entwicklungen, derzeitige Brennpunkte gesellschaftlicher Entwicklungen erklären können. Ziel ist die Verflüssigung von Macht und somit auch Verhinderung von Herrschaft bei maximaler individueller Freiheit.

 Susan Neiman stürzt sich, der Methode des mit Social Media kompatiblen "Cherry Pickings" folgend, auf folgende Gedankenaufgänge, die ich aus der deutschen Übersetzung zitiere: Erpressung der Aufklärung! Da haben wir den Schurken auf frischer Tat ertappt!

 "Dieses Ethos impliziert zunächst die Zurückweisung dessen, was ich die "Erpressung" der Aufklärung nennen möchte. Ich denke, dass die Aufklärung, als eine Gesamtheit politischer, ökonomischer, sozialer, institutioneller und kultureller Ereignisse, von denen wir noch zu einem großen Teil abhängen, ein besonderes Feld der Analyse darstellt. Ich denke auch, dass sie als Unternehmen, das zwischen dem Fortschritt von Wahrheit und der Geschichte der Freiheit eine direkte Beziehung herstellt. (...) aber das heißt nicht, dass man für oder gegen die Aufklärung sein muss. (...) Wir müssen versuchen, mit der Analyse unserer selbst als solche Wesen fortzufahren, die zu einem gewissen Teil von der Aufklärung determiniert sind. Solch eine Analyse impliziert eine Reihe historischer Untersuchungen, die so präzise wie möglich sein sollten; (...) sie werden an den "gegenwärtigen Grenzen des Notwendigen" orientiert sein, das heißt an dem, was nicht oder nicht länger zur Konstitution unserer selbst als autonome Subjekte erforderlich ist."[8] (Öffnet in neuem Fenster)

 Diese Passage belegt auch, wie unsinnig es ist, die historischen Untersuchungen in der Diskussion Foucaults außen vorzulassen.

 Eben das ist seine Praxis: in Detailuntersuchungen in die Quellen hinabzusteigen. Solche, die nicht genau so gut als Kalenderspruch von Parteivorsitzenden an deren Wand hängen können. Solche, die sich nicht dazu missbrauchen lassen, idealisierte Bilder der je eigenen Historie aus Texten herauskristallisieren, um daraus Doktrinen zu formen.

 Der tatsächliche Einfluss Foucaults auf postkoloniale Forschung besteht so auch nicht darin, nun die Welt in schwarz und weiß, Opfer und Unterdrücker einzuteilen, sondern genau hinzuschauen, was im heutigen Ghana, Algerien oder Namibia tatsächlich passiert ist und wie das auf Gegenwart wirkt. Sich in Quellen zu vertiefen und Prozesse zu rekonstruieren, denen nicht immer gleich die "große Erzählung" der Aufklärung oder der Befreiung übergestülpt werden kann, um alles Besondere daraus abzuleiten. So kann - um nur ein Beispiel zu nennen - das im Subsahara-Raum rekonstruierte Konzept des "Siedlerkolonialismus" nicht bruchlos auf Israel angewendet werden.

 Mit anderen Worten: sich die Mühe zu machen, Aufklärung konkret historisch zu untersuchen. Was ist wo wann wie wirklich passiert? Das zeichnet Bilder des tatsächlichen Prozesses der Modernisierung, die sich bei einem "Pro & Contra" rund um Aufklärung, als ginge es um ein Fußballspiel, wo man den Aufklärern dann Chöre widmet wie "Hier gewinnt nur einer, Voltaire halt und sonst keiner!", nicht aufspüren lassen.

 Foucault hat keine Bücher zur philosophischen Hermeneutik verfasst und sich so auf einem anderen Terrain bewegt als zum Beispiel Habermas in der "Der philosophische Diskurs der Moderne" oder Derrida in der "Grammatologie". Das Denken Foucaults ersetzt auch nicht das Denken von Kant, Habermas oder Rawls. Meines Erachtens appelliert es jedoch daran, sich nicht in idealisierenden Rekonstruktionen zu verfangen, sondern da hinzuschauen, wo Macht sich zu Herrschaft verdichtet.

 "Was ist Aufklärung?" lohnt auch deshalb die Lektüre, weil Foucault hier noch einmal sein Gesamtwerk selbst systematisiert:

 "Wie haben wir uns selbst als Subjekte unseres eigenen Wissens konstituiert? Wie haben wir uns als Subjekte konstituiert, die Machtbeziehungen ausüben und sich ihnen unterwerfen? Wie haben wir uns als moralische Subjekte unsere Handlungen konstituiert?"

 Das fasst zusammen, was ich wortreich weiter oben ausführte. Die erste Frage führte in die Analysen in "Wahnsinn und Gesellschaft", "Archäologie des Wissens" und "Die Ordnung der Dinge", die zweite in "Überwachen und Strafen" und "Sexualität und Wahrheit 1: Der Willen zum Wissen", die dritte in den drei Folgebände von "Sexualität und Wahrheit". Und all das, um Freiheitsspielräume zu erkunden.

 ***

 Bisher habe ich es nur angedeutet, aber das gesamte Buch von Neiman, soweit es Foucault betrifft, vollzieht folgendes:

(Quelle: X; die Weißungen verwiesen auf Folgetweets)

Neimans Foucault-Charakterisierungen tönen manchmal wie Gutachter einst vor Gericht, die über X urteilten -siehe den Anfang des ersten Teil dieser Artikelfolge:

"X. ist total unmoralisch, zynisch, ja sogar geschwätzig." Analog: F. sei gefährlich, weil er hypnotisiere, anstatt zu argumentieren (S. 180)  - so schreibt Neiman unter Bezug auf Amérys Foucault-Kritik. Ein nihilistischer, amoralischer Verführer der Jugend und zudem auch noch Ästhet, wie ebenfalls Améry zitiert wird.

 Das sind bis heute wirksame schwulenfeindliche Klischees. Typisch linke zudem, wie Didier Eribon in "Zurück nach Reims" aufzeigt in Auseinandersetzung mit Pierre Bourdieu und dessen Beschreibungen von verschiedenen Schülern: 

"Ist Heterosexualität etwas dermaßen Selbstverständliches, dass man sie gar nicht oder nur indirekt im flüchtigen Gegenbeispiel eines Klassenkameraden anzusprechen braucht, der Geige spielt, dessen Homosexualität "vermutet" wird und der sich einer regelrechten Hetzjagd ausgesetzt sieht, durch die sich die Mitschüler, der alten Opposition von "Ästheten" und "Athleten" folgend, ihrer Heterosexualität versichern? (...) Und wie soll man abstreiten, dass diese Wahrnehmungsweisen oder besser diese von jeher in ihnen eingeschriebenen Dispositionen in Bourdieus Denken und Schreiben fortgewirkt haben, wenn er an einer früheren Stelle seines Buches kurz davor steht, Foucault als einen "Ästheten" im negativen Sinn zu bezeichnen?"[9] (Öffnet in neuem Fenster)

 Diese Einordnung eines schwulen Philosophen als amoralischem Ästheten fügt sich ein in allgemein queerfeindliche Schemata und hat Tradition bei linken Theoretiker*innen.

 Das Buch von Neiman insgesamt formuliert Verbote an Schwule, eigene Erfahrungen als politisch zu begreifen und diskreditiert die von BPoC auch noch als "tribalistisch", so, dass der Blick des Kolonisatoren durchscheint, der fremde "Stämme" untersucht.

 Es ist ein Dokument maternalistischer Entmündigung, um Marginalisierte in Ohnmacht zu halten und schreckt dabei auch nicht vor Diskreditierung zurück.

 Insofern gibt es Foucault recht: moralischer Universalismus kann dazu missbraucht werden, ein Allgemeines zu konstituieren, das im Sinne der Normalisierung Devianz produziert - um deren Opfer so weit zu entmündigen, dass es verboten scheint, über erfahrenes Leid zu sprechen.


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[1] (Öffnet in neuem Fenster) Foucault, Michel, Der Willen zum Wissen, S. 166, Frankfurt/M. 1983

[2] (Öffnet in neuem Fenster) Ebd., S. 168

[3] (Öffnet in neuem Fenster) Ebd., S. 178

[4] (Öffnet in neuem Fenster) Foucault, Michel, Der Gebrauch der Lüste, Frankfurt/M. 1989, S. 36

[5] (Öffnet in neuem Fenster) Ebd. S. 37

[6] (Öffnet in neuem Fenster) Neiman, Susan, a.a.O, S. 248

[7] (Öffnet in neuem Fenster) Ebd. S. 49

[8] (Öffnet in neuem Fenster) Foucault, Michel, Was ist Aufklärung?, in: Erdmann, Eva/Forst, Rainer/ Honneth, Axel, Ethos der Moderne, Frankfurt/New York 1990, S. 45 f.

[9] (Öffnet in neuem Fenster) Eribon, Didier, Zurück nach Reims, Berlin 2016, S. 155

Kategorie Gesellschaft

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