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"... wenn ihr euch mit TikTok und Co die Aufmerksamkeitsspanne zerballert habt ..."

Nicht verzweifeln! So versteht man den "Neuen Strukturwandel der Öffentlichkeit" durch "Social Media" …

Die Headline zitiert einen Tweet von ARTE - siehe Screenshot. Als Reaktion auf einen User, der ARTE den Habitus zuwies: "HIER SIND SIEBEN STUNDEN DOKU SELBST SCHULD WENN DU NICHT AUFPASST".

 Ob das auf ARTE-Programme generell zutrifft lasse ich offen - auch in Zusammenhängen der Programmproduktion dieses immer noch herausragenden Senders häufen sich Affekte gegen alles, was als "didaktisch" oder "belehrend" gilt. Das sei nicht filmisch und unterhaltsam.

 

SHORT FORM UND LONG FORM

 Meines Erachtens ignoriert diese - auch vom Dauerbeschuss durch die politische Rechte erzeugte - Zugangsweise zum Medialen große Teile dessen, was z.B. auf Youtube oder in Podcasts tatsächlich produziert wird und erfolgreich ist. Als einer der, ja, ich würde sogar sagen Vordenker, der "Long Form" agiert der Youtube-Philosoph Dan Koe. Will man mit Habermas und über ihn hinaus den "Neuen Strukturwandel der Öffentlichkeit" verstehen, so lernt man bei Dan Koe definitiv mehr als bei Andreas Reckwitz. Eine der Pointen von Habermas Veröffentlichung gleichen Namens ist, dass Menschen erst lernen müssten, dass sie nun in Social Media auch Produzierende sind. Sie selbst produzieren eine Masse von Veröffentlichungen, von kurzen Tweets, Telegram-Gruppen-Infos und TikTok-Videos bis hin zu sehr langen Vorträgen bei Youtube. Solche, die Menschen ohne viel Gestaltung direkt in die Kamera des Computers oder eine Audiosoftware sprechen. Dan Koe vertritt die These, dass Kurzformen zwar "Instant Gratification" und kurzes Triggern produzierten, aber für die Positionierung als "Content Creator" nix nützten. Long Form hingegen signalisiere Kompetenz, Tiefe und Autorität.

 Im Netz politisch direkt wirkt ist allerdings die kurze Form. Scheinbar, dazu später mehr. Aktuell vor allem TikTok. Der Erfolg der AfD, aber auch der FDP bei den letzten Bundestagswahlen läge vor allem an diesem Kanal. AfD-Vertreter sprächen in Talkshows so, dass Bits & Pieces flugs in TikTok-Videos voller knackiger und provokativer Aussagen zusammen geschnitten werden könnten. Was da funktioniert, dazu später mehr. Auch dazu hat Dan Koe viel zu sagen. Die FDP habe es geschafft, Protagonisten wie Christian Lindner schlicht sympathisch und der Jugend zugewandt zu präsentieren. Ich beziehe mich hier subsummierend auf viele Texte, die ich zu dem Thema gelesen habe.

 Der TikTok-Algorithmus funktioniert so - ich spiele dort selbst mittlerweile mit Videos und kann das schon nach kurzer Erfahrung bestätigen -, dass er zunächst allem eine Chance gibt. Er spült jedes Video in die Timelines von Menschen mit ähnlichen Interessen. So entsteht schnell der Eindruck, es habe viele Views erhalten. Als View wird jedoch schon das Scrollen durch viele vom Algorithmus in die Timelines katapultierte Filmchen angezeigt. Erhält ein Clip viele Reaktionen, Likes und Kommentare, so gelangt er in eine Schleife: automatisch kickt die KI ihn immer wieder neu in die Timelines der User. So entsteht ein "Schneeballeffekt". Bei wieder vielen Reaktionen zirkuliert er weiter und "geht viral". Wichtig sind die ersten 3 Sekunden, damit Kids und Berufsjugendliche dranbleiben. Diese haben so gestaltet zu sein, dass sie etwas triggern. Später hier im Text wird deutlich werden, wieso das, was da triggert, gerade den rechten Parteien nutzt.

 Der Witz ist, dass Social Media dabei komplett selbstreflexiv ist. Was ich hier zusammenfasse, taucht in unzähligen Tutorials bei Youtube als "How to" auf. Viele dort verdienen damit ihr Geld, erläutern solche Mechanismen und locken zugleich in kostenpflichtige Schulungsprogramme hinein. Diese vertiefen das Wissen sodann.

SOCIAL MEDIA-IMPERATIVE

 Die Grundzüge des Operierens in der Neuen Öffentlichkeit eignen sich User in den unzähligen Handlungsanleitungen an. Ich kann hier keine grundlegende Analyse der ganzen Imperative liefern. Das sollten Medienwissenschaftler tun. Geht man allerdings mit Habermas davon aus, dass kommunikative Prozesse, verständigungsorientierte mit erhobenen Geltungsansprüchen ebenso wie strategische, nur auf Effekte abzielende, konstitutiv für mediales Produzieren sind, dann sollten sich jene, die an Universitäten dafür bezahlt werden, diesen Regelsystemen intensiver widmen und machen das ja vielleicht auch schon. Es sind tatsächliche Imperative, also Handlungsanweisungen. Viele unterschätzen, wie begierig Social Media User nach Direktiven suchen - Orientierungsmarken im Social-Media-Chaos.

 Diese Short-Form wirkt politisch gefährlich. Seien es Rechtsextreme oder Islamisten - sie operieren ziemlich erfolgreich auf diesem Feld. Dirk Laabs, investigativer Journalist, der bahnbrechende Filme zum 11. September, zum Brexit gestaltete und Bücher zu AfD-Erfolgen schrub, fasste diese Wirkung jüngst in einem Twitter-Thread zusammen:

Die Long-Form hingegen wirkt tiefer, stellt Strukturen bereit. Und, wie das so ist im Kapitalismus, dreht sich vieles um die Träume vom großen Geld. Wer aktuell Vorstellungen des Nachwuchses über Verdienstmöglichkeiten erfahren will, der sollte sich Videos von Iman Gadzhi (Öffnet in neuem Fenster)oder auch dem zur recht verrufenen Andrew Tate anschauen. Die Wunschproduktionsmaschinerie läuft bei beiden auf Hochtouren. Auch sie verdienen ihr Geld vor allem mit Kursen, die sie anbieten, und sind für viel gerade Jungmänner Role-Models. Gerade auch progressive Politiken kommen gar nicht umhin, sich damit zu beschäftigen. Wie viele Lieferando-Fahrer*innen oder Menschen, die in Amazon-Lagern arbeiten, sich deren Videos wirklich angucken, weiß ich nicht. Aber selbst der Kampf gegen die Klimakatastrophe läuft ins Leere, öffnet er sich nicht diesen Wunsch- und Bedürfnisproduktionen.

 

DAS EH SCHON ERFOLGREICHE UND DAS INDIVIDUELLE

 Es führte nun zu weit, hier all die Business-Modelle, die propagiert werden vom Affiliate-Marketing bis hin zu regen Kopiertätigkeiten mit Hilfe von KI reichen, aufzuzählen. Ziel ist immer das große Geld. Ähnlich wie im Falle des Spektrums von Long- bis zu Shortform existiert auch hier eine Polarität.

 An einem Ende steht ein "Stehle und verwandele", um im Internet erfolgreich Kapital zu generieren. Einen Pol, einen technisch sehr avancierten, bilden Youtuber wie der "AI Guy (Öffnet in neuem Fenster)". Er führt aus, wie man mit diversen Tools checkt, welche Videos bereits erfolgreich sind. Sie erstellen in Software wie Leonardo AI Video-Abwandlungen davon, lassen die Originl-Texte von Chat GBT umformulieren, speisen diese in anschließend in einen Off-Text-Sprachgenerator ein. Zum Schluss spuckt ein Schnittprogramm einen neuen Film aus.

 Das wirkt ein wenig wie die Karikatur von Praxen in der TV-Produktion, die international bewährte Formate einkaufen und sie in nationale Märkte einspeisen oder einfach nur so kopieren, dass Urheberrechte nicht verletzt werden. Es hängt eng mit der Normalverteilung zusammen, Thema in meinem letzten Newsletter (Öffnet in neuem Fenster) - man zielt direkt auf deren Scheitelpunkt. Das ist auch nicht neu - der Erfolg der BRAVO in den 90er Jahren gründete in der konsequenten Adaption der "Trend-Charts", Musik betreffend. Die Redaktion wusste, was in der nächsten Woche in die Top Ten einsteigen würde und platzierte diese Acts als zentrales Thema im Heft. Dieser Methode folgen auch Parteien, die sich an Meinungsumfragen und dem, was sie für den "durchschnittlichen Bürgerwillen" halten, orientieren: immer auf dem Scheitelpunkt der Normalverteilung wollen sie surfen, in der Annahme, sich dann an die Spitze bereits existenter Trends zu setzen. Helmut Kohl beherrschte diese Praxis wie kein Anderer. So kommt es auch dazu, dass AfD-Positionen immer stärker die Politik dominieren; man hält sie für zentral in statistischen Filtersystemen.

 Eine Zwischenstufe in den Polen zwischen Kopie und dem Setzen auf Bewährtes nehmen Modelle ein, in denen individuelle Skills mit dem bereits Etablierten verbunden werden. Wieder spielt Chat GBT dabei eine zentrale Rolle. Der Business-Youtuber Matt Gray (Öffnet in neuem Fenster)stellte dazu einen Ideengenerator in Netz. Mit seiner Hilfe kann Contente entwickelt werden. Der ist frei zugänglich. Eine Text-Matrix, deren Parameter User in Chat GBT eingeben - das Programm spuckt sie dann aus.

So sähe das bei mir aus:

Plötzlich ploppen da Themen wie "Cancel Culture", weil als Thema verbreitet, auf. Ein wenig wirkt es so, als würde Jens Balzer solche Systeme anwenden, bevor er seine Bücher schreibt. Solche Kombi-Möglichkeiten, mach, was Du kannst, und dann füttere Chat GBT, lehren viele Youtuber und Instagrammer. Chat GBT sammelt das eh schon weit Verbreitete ein, nicht anders funktioniert ja dieses Programm: Bekanntes aus dem Netz saugen und neu kombinieren. Das erspart Recherche - etwas komplexer als die Trend-Charts 1993, aber es funktioniert.

 Der andere Pol ist "Sei Deine Nische! Gehe davon aus, dass Du und Deine Geschichte viele Menschen interessiert. Alles andere ist unwahrscheinlich. Aber verpacke es so, dass es auffällt!"

 

DAN KOE'S IMPERATIVE

 Für diesen Ansatz steht der bereits erwähnte Dan Koe in vielen, zum Teil auch sehr guten Videos. Da kann man viel lernen.

 In "The Greatest Skill of the 21st Century (the Top 1% Exploit this) (Öffnet in neuem Fenster)" erläutert er - für mich zum Teil kontraintuitiv - 9 Methoden, Individuelles an die Mechanismen der Aufmerksamkeitsökonomie anzupassen. Die Regeln - Imperative - sind die folgenden:

1.) Verwende Zahlen. In seinen Worten:

"Using Numbers in your hooks, headlines or tweets will make people stop to see what the numbers relate too. Statistics, Dollar Amounts, Metrics "I sent 322 cold emails" or "After 293 days". Using Lists: "7 bad habits"."

 Für viele Journalisten nix Neues, ja. In politischen Kommunikationen taucht es seltener auf. Wobei manchmal zugespitzte und oft auch falsche Zahlen von der politischen Rechten gedoppt werden.

 2.) Verwende "Pattern interrupts - breaks people out of their normal conditioned patterns". Zahlen könnten bereits eine Methode sein, Muster zu unterbrechen. Man wolle dann genau wissen, worauf sie referieren. Man solle sich also etwas einfallen lassen, was den hypnotischen Sog des Scrollens durch Timelines unterbricht. Ein anderer Youtuber empfiehlt hierzu explizit kontraintuitive Fragestellungen. "Mythos gesunde Ernährung - lebt man dank Pommes länger?", "Verdient man ohne Schulabschluss mehr Geld?". Letzteres ist übrigens eine bei Youtube weit verbreitete These - Schul-und Universitätswissen münde nur in jene Konformität, die Andere dazu benutzen können, Dich auszubeuten.

3. ) "Negativity Bias" - der menschliche Geist sei konditioniert, auf das Negative Furchterregende zu starren, sich darauf zu fokussieren. Das triggere den Überlebensmechanismus. Insofern kann noch da, wo eine positive Botschaft vermittelt werden sollte, ein Trick die Aufmerksamkeit erregen. Also: die frohe Botschaft lieber in etwas Negatives umformulieren. Statt "Du kannst Großes erwarten" sollte stattdessen lieber gesagt werden: "So kannst Du Versagen vermeiden!".

 4.) "Group-Callout": "Wenn Du in Deinen 20ern bist...", "Wenn Du St.Pauli-Fan bist ...", "Wenn Du im Osten wohnst", dann habe ich hier eine Message für Dich! Können auch Väter, Mütter, Schwule, Schwarze sein, Radfahrer oder Eigenheimbesitzer. Klar, die Zielgruppe adressieren. Passiert das noch viel in politischer Kommunikation?

5. ) "Problem Callout" - sich auf "Pain & Conflicts" beziehen und Lösungen anbieten - wie man also potenziell von dem profitiert, was die "Content Creator" anbieten. Dieses "Problemlösen", auch bei Rahel Jaeggi zentral für Lebensformen und politischen Fortschritt, bildet ein Zentrum der Internet-Didaktik. Habe für meinen Stil gänzlich unüblich einfach mal "Nicht verzweifeln! So versteht man den "Neuen Strukturwandel der Öffentlichkeit" durch "Social Media" in die Überschrift gepackt. Mal schauen, ob das funktioniert.

 6.) "Social  Proof" - eine uralte Marketingtechnik. Meine Seite mit einem eher banalen Zitat aus meiner Rezension taucht nunmehr, von Suhrkamp dort platziert, unter Daniel Loicks "Die Überlegenheit der Unterlegenen" bei Amazon auf. Alle Eso-Gurus bei Youtube werben mit "Testimonials", die berichten, wie die Methoden der Prediger neuer Spiritualität ihr Leben veränderten. Sammle also einfach positive Reaktionen in Social Media und pappe sie an Deine neuen Produkte.

7. ) "Confidence and conviction" -  das weiß auch jeder Journalist. Verheddere Dich nicht in Relativierungen, "es könnte ja sein, dass X", "Ganz sicher bin ich mir nicht, aber ...". Menschen suchen Orientierung. Gebe sie ihnen, indem Du Dich vollkommen überzeugt gibst. Spare nicht mit Zugriff auf das Allgemeine: "Ganz Deutschland hasst die AfD", "Die Welt nutzt Social Media".

(Quelle: Dan Koe, das oben verlinkte Video)

8. ) "Active Voice" - noch eine Methode aus dem Wolf-Schneider-Grundkurs - vermeide Passivkonstruktionen, damit niemand Dir zuruft "Du Opfer!"

9. ) "Warnings". Darauf falle ich ständig herein. "Vermeide folgende 7 Fehler, wenn Du Ziel X erreichen willst!" "Daran bin ich auch jahrelang gescheitert! Wie Du Erfolg mit Sicherheit vermeidest, das erfährst Du hier!" Da Menschen ständig Angst haben, Fehler zu machen, triggert das sofort. Taucht das in politischer Kommunikation auf?

 Dass andere Komponenten in politischer Kommunikation wirken, sollte selbsterklärend sein. Die fortwährende Wiederholung, dass es eigentlich nur ein Problem gäbe, Migration, diese mit "Negativity Bias" aufzuladen und Politik darauf zu reduzieren, von "Remigration" bis zu massenhaftem Abschieben dann die eine Lösung anzubieten, ist allgegenwärtig.

 Es sind aber alles auch Tools, die man für progressive Politiken nutzen könnte. Nur "Negativity Bias" wie im Falle der Klimaaktivisten allein reicht in der Regel nicht aus, wenn sich Menschen von den Lösungen keine konkreten, für sie erlebbaren Vorteile erhoffen (oder diese nicht sehen wollen).
Wichtig erscheint mir zudem, dass es nicht nur die "Instant Gratificaton"-TikTok-Shortform gibt. Sondern dass die anderen Pole auch existieren und dabei viel Publikum erreichen. Für die Öffentlich-Rechtlichen ein anderer Weg in die Zukunft, als manche ihn derzeit verfolgen ...

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Kategorie Medien

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