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Es ist, als ob mein Kopf unter Wasser gedrückt wird. Ich spüre die Schwere auf den Schultern, die mich nach unten zieht, weg von der Wasseroberfläche, wo an der Luft die Gegenwart ist, das Hier und Jetzt, wo die Uhr an der Wand tickt, das Zwitschern der Vögel durch das halb geöffnete Fenster zu hören ist, der Wind ums Haus weht, der Regen gegen die Schreiben prasselt, die Werbung aus dem Fernseher plärrt … doch all das höre ich unter Wasser nicht, dort hört sich alles dumpf an, unwirklich und weit weg. Erinnerungen von schlimmen Erlebnissen, die ich am liebsten für immer aus dem Gedächtnis bannen möchte, ziehen wie ein Fischschwarm an mir vorbei. Lautlos. In bunten Farben. Manche blitzartig, anderer verweilen länger, starren einem direkt ins Gesicht. Ich möchte sie wegschlagen, doch meine Hände funktionieren unter Wasser nicht richtig, ich scheuche nur das Wasser auf, ein Art Sprudel bildet sich und sorgt dafür, dass die Erinnerungen und Bilder herumgewirbelt werden, mal näherkommen, mal in die Mitte gezogen werden, doch sie gehen nicht unter, sähe man ihnen zu, könnte man meinen, sie kämpfen ums Überleben, ums Nicht-Ertrinken, dabei sind sie längst tot, vergangen, nur nicht vergessen, und so wirbeln sie immer weiter in diesem Strudel, drängen sich an die Oberfläche, ins Bewusstsein.

  •  ©  Arwyn Yale - aus einem unveröffentlichten Text.

„Ich solle da doch einfach nicht mehr dran denken. Ist doch schon so lange her.“ Die Aussage haben viele Betroffene von Gewalterfahrungen bereits einmal oder sogar öfter gehört. So wie M., die anonym bleiben möchte. „Es ist ja nicht so, dass ich mich hinsetze und denke, ach, heute regnet es, da denke ich mal an das Schlimmste, was mir je passiert ist. Aber manche Leute um mich herum, auch Teile meiner Familie, denken, es geschieht genauso. Dass ich bewusst daran denke. Dabei sind oft Kleinigkeiten die Auslöser. Ein Wort in einem Film, eine Berührung, ein Geruch, z.B eine Alkoholfahne wie beim Täter damals, als der Übergriff stattfand. Und schon bin ich wieder in der Situation drin. Die Realität verschwimmt. Ich nehme die Umwelt wie durch einen Schleier wahr. Dann höre ich manchmal seine Stimme in meinem Kopf. Die Worte, die er gesagt hat. Spüre die Angst, die mich lähmt. Meine Arme, Hände und Beine kribbeln. Ich spüre die Kälte der Klinge an meinem Hals. Es fühlt sich so echt an, doch wenn ich an meinen Hals fasse, ist da nichts.“

Menschen wie M. haben nicht nur das Problem, das Erlebte irgendwie zu verarbeiten und damit möglichst beschwerdefrei weiterleben zu können, sie müssen sich auch oft rechtfertigen, wenn sie nicht so funktionieren, wie die Gesellschaft das erwartet. Es wäre doch nun schon so lange her, irgendwann müsse ja mal gut sein. Guck dir xy an, die hat viel Schlimmeres erlebt und der geht`s doch auch gut. Früher gab’s das nicht, hat man einfach weitergemacht … Dies sind nur einige der häufigeren Sprüche, die Betroffene sich anhören müssen, wenn sie gerade nicht arbeitsfähig sind, weil die Erinnerungen zu präsent sind und psychosomatische Beschwerden auslösen. M. z.B bekommt Körperschmerzen, kann dann kaum gehen. Dazu kommen Panikattacken und Tage, an denen sie kaum das Bett verlassen kann.  Andere haben Magen-Darm-Probleme, immer wiederkehrende Symptome, für die keine organische Ursache gefunden wird, die aber real sind, weh tun, den Alltag behindern. Hilfreich kann ein unterstützendes Umfeld sein. Freunde und Familie, die den Druck nehmen, im Haushalt was abnehmen, mal einkaufen gehen, Verständnis zeigen, keine Vorwürfe machen. Gucken, was helfen könnte, in den Momenten, wo es am schwierigsten ist. Aber nicht jeder hat solche Leute um sich. M.s Familie hat kein Verständnis. Sie würde das doch mit Absicht machen, kam als Aussage einer entfernten Verwandten, als sie eine Familienfeier absagte, weil ihr die vielen Leute und die vielen Fragen (Wie geht’s dir? Hast du schon wieder zugenommen? Arbeitet du eigentlich wieder? Wird mal Zeit jetzt mit Kindern …) zu viel waren. Der Freund trennte sich. Er war sportlich, wollte klettern gehen, ausgiebige Radtouren machen, auf Reisen gehen, doch M.s Panikattacken führten immer wieder zu Konflikten. Einige ihrer Freunde melden sich kaum noch, fragen nicht mehr, ob sie mit ins Kino will oder auf eine Party. 

„Es fragt aber auch keiner, ob er mal so vorbeikommen kann,  auf einen Kaffee, mal reden. Man muss ja nicht über ernste Themen reden. Ich rede ja auch gerne über meine Hobbys oder das Weltgeschehen. Aber fast ist es so, als hätten die Menschen nun Angst, ich würde permanent in Tränen ausbrechen. Dabei bin ich einfach nur nicht fit genug für große Menschenmengen. Das heißt nicht, dass ich nicht gerne an einem Spieleabend in kleiner Runde teilnehmen würde.“

Ich habe M. gefragt, was sie sich wünscht.

- Mehr Verständnis. Mehr Bereitschaft, sich über die Auswirkungen von Traumata zu informieren. Menschen sind unterschiedlich und gehen unterschiedlich mit Dingen um. Man sollte Leid nicht miteinander vergleichen. Mehr Therapieplätze. Vor allem für Leute mit lange zurückliegenden und mehrfachen Traumata sind Therapieplätze rar, die Wartelisten zu lang. Bessere Gesetze. Opferschutz statt Täterschutz. Kein Victim-Blaming, das passiert immer noch viel zu oft.

  •  Ich wünsche mir so viel. Vor allem, irgendwann ein halbwegs normales Leben zu haben, ohne diese Symptome, die mich einschränken und immer wieder Erinnerungen auslösen. Eine Chance auf eine Beziehung und eine eigene Familie. Akzeptiert zu werden, auch wenn ich mal keine Leistung bringen kann.

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