Emetophobie ist die Angst vor dem Erbrechen. Kein Wunder also, dass alle Betroffenen, die ich kenne (1 offline, 3 offline) den Fachbegriff verwenden, der nicht ganz so schlimm klingt. Wer erbricht schon gerne? Das hören Betroffene dieser Phobie sehr häufig. Aber wie immer – eine Phobie ist mehr, als etwas unangenehm zu finden. Eine Phobie schränkt ein, belastet, im schlimmsten Fall bestimmt sie den größten Teil des Alltags. Heute spreche ich mit Sophie Weigand, die seit frühster Kindheit an dieser Phobie leidet, und sie erklärt ein wenig dazu aus ihrer Sicht als Betroffene. Sophie (Twitter: @literatourismus (Öffnet in neuem Fenster), Instagram: @literatourist (Öffnet in neuem Fenster)) schreibt einen erfolgreichen Literaturblog, arbeitet als Korrektorin, Lektorin, Buchhändlerin und Kultur-Redakteurin und ist studierte Kulturwissenschaftlerin. Hier steht sie mir Rede und Antwort zu einem Thema, das nur wenige kennen.
Foto © Sophie Weigand
https://literaturematters.de/startseite/ (Öffnet in neuem Fenster)Beschreibe bitte in einigen kurzen Sätzen, wie die Phobie dich im Alltag beeinträchtigt.
Vor allem durch (psychosomatische) Übelkeit, bzw. die typische Erwartungsangst, ich könnte etwas Schlechtes gegessen oder mich mit irgendeinem Magen-Darm-Virus angesteckt haben. Übelkeit gehört schon sehr lange zu meinem Alltag, ich reagiere auf Stress oft mit Übelkeit oder allgemein Magen-Darm-Beschwerden. Und wer weiß, ob dieses Mal am Ende nicht doch das Übergeben steht? Ich habe Sorge im medizinischen Kontext, dass ich Medikamente nicht vertrage z. B. Ich meide mitunter Menschen, die für mich ein erhöhtes Risiko bedeuten: Schwangere, Betrunkene, Kinder vor allem. Was jetzt nicht heißt, dass ich mit denen nicht spreche oder panisch vor ihnen davonlaufe, aber ich bin angespannter, weil mein Phobiehirn in Alarmbereitschaft ist. Die phobische Reaktion ist unabhängig davon, ob mir selbst schlecht ist oder eine andere Person sich übergeben muss.
Wurde das mal in einer Therapie behandelt und wenn ja wie und wie zielführend war es?
In der Verhaltenstherapie wurde mit klassischer Expositionstherapie versucht, das Problem anzugehen. Nun ist es bei Emetophobie schwieriger, weil man streng genommen unter therapeutischer Aufsicht Klient:innen zum Kotzen bringen müsste und das ethisch etwas problematisch ist (auch wenn ich Fälle kenne, bei denen das – eher erfolglos – versucht wurde). Mir wurden nur Bilder von kotzenden Menschen gezeigt. Geholfen hat das leider nicht. Am Ende sagte der Therapeut, ihm sei jetzt selbst ein bisschen schlecht. Grundsätzlich hätte man vermutlich noch mehr machen können, aber dieser ganz konkrete Ansatz hat nicht geholfen. Wahrscheinlich, weil ein großes Problem für mich der Kontrollverlust ist. Das Kotzen ist Kontrollverlust. Aber eben auch jede „unkontrollierte“ Form der Emotionalität.
Wann hast du zum ersten Mal den Begriff Emetophobie gehört?
Das muss mittlerweile so fünfzehn, sechzehn Jahre her sein. Vorher dachte ich einfach, ich spinne ein bisschen oder bin überempfindlich.
Kennst du offline weitere Betroffene?
Offline persönlich nicht, nein. Online ein paar.
Ich bin gerade nicht auf dem neusten Stand, aber gibt es mittlerweile erfolgsversprechende Behandlungsmethoden?
Ich glaube, bisher ist klassische Verhaltenstherapie immer noch das Mittel der Wahl. Exposition einerseits (und das meint dann: sich in Situationen begeben, die angstauslösend sind, das muss nicht das Kotzen selbst sein, und die Angst aushalten), die Arbeit an dysfunktionalen Gedanken andererseits. Wofür steht das Übergeben eigentlich? Oft ist es ja eine Stellvertreterangst. Allerdings wäre diese Frage möglicherweise eine, die eher in tiefenpsychologisch fundierter Therapie interessiert. Wann tritt Übelkeit auf? Was stresst mich? Wie kann ich Stress minimieren? (Vielleicht weniger übersteigerte Erwartungen an mich selbst haben, das scheint bei vielen ein Problem zu sein). Wenn man Auslöser der psychosomatischen Übelkeit identifiziert, kann man dafür sorgen, dass sie seltener auftritt. Tatsächlich sollen Emetophobiker:innen aber auch überdurchschnittlich sensibilisiert sein für gewisse Körpervorgänge, die Angst auslösen. Möglicherweise nehmen Betroffene Magenschmerzen und anderes viel intensiver wahr als andere. Ich muss allerdings auch sagen, dass ich wenige Emetophobiker:innen kenne, die von sich behaupten würden, sie seien geheilt.
Was wünscht du dir in Bezug auf die Phobie? Mehr Akzeptanz? Bekanntheit? Therapiemöglichkeiten?
Mehr Forschung wäre sicherlich nicht falsch, vielleicht auch breiter aufgestellte Therapiekonzepte. Das Bewusstsein dafür, dass die Emetophobie (wie viele andere Phobien auch) durchaus verknüpft sein kann mit anderen Problemen und Störungsbildern, sodass die üblichen Ansätze unter Umständen nicht den gewünschten Erfolg haben (können). Auf jeden Fall ist es so, dass die Emetophobie wahrscheinlich nicht so extrem selten ist. Und dass sie leicht verwechselt werden kann mit anderen Erkrankungen, wenn man nicht so genau hinschaut. Gerade die damit verbundenen Magen-Darm-Beschwerden beeinträchtigen häufig das Essverhalten (in dem Glauben: was man nicht gegessen hat, kann man nicht auskotzen). Für weniger geübte Augen sieht das dann oft wie eine Essstörung aus, obwohl klassische Symptome einer Essstörung (z. B. die exzessive Beschäftigung mit dem eigenen Gewicht, Kalorienzählen usw.) gar nicht vorliegen. Das habe ich selbst bei einem stationären Aufenthalt erlebt und es war eher ärgerlich, weil ich zu viel Zeit und Ressourcen dafür verbraucht habe, den diensthabenden Ärzt:innen klarzumachen, dass ich (trotz Untergewicht) nicht essgestört bin. Es gibt Betroffene, die extreme Kontaminationsängste haben. Die tragen nahezu zwanghaft Desinfektionsmittel mit sich herum, gehen nicht auf öffentliche Toiletten, gehen nicht auswärts essen – sie könnten sich ja mit irgendeinem Magen-Darm-Virus infizieren oder eine Lebensmittelvergiftung mit nach Hause bringen. Andere werden abhängig von sogenannten Antiemetika wie Vomex oder MCP und verlassen ohne nicht mehr das Haus. Das ist auch wirklich gesundheitsgefährdend. Sollte man alles mitdenken, wenn es um die Phobie geht.
Hast du oft das Gefühl, mit der Phobie (zuerst) nicht ernstgenommen zu werden, oder denkst du, es ist generell als Phobiker schwierig Gehör zu finden, ganz unabhängig, wie bekannt diese Phobie ist?
Ich denke, dass die Bekanntheit keine so gigantisch große Rolle spielt. Was ich oft erlebt habe, wenn ich es thematisiert habe, war die Antwort: „Na ja, niemand kotzt gern.“ Und das stimmt, aber es verkennt eben den Unterschied zwischen ganz normalem Ekelgefühl und einer phobischen Erkrankung, die im Ernstfall (und ja auch darüber hinaus) Angst- und Panikreaktionen auslöst. Es gibt Menschen, die können sich allein aufgrund ihrer Emetophobie nicht vorstellen, ein Kind zu bekommen. Ich bezweifle, dass die meisten sich von ihrem konventionellen Ekelgefühl so massiv ihre Lebensplanung beeinflussen ließen. Viele denken auch, dass man ja so oft gar nicht kotzt, die Phobie dann also nur sehr selten eine Rolle spielt. Das ist aber eine Fehlannahme. Die Phobie spielt ständig eine Rolle, weil du deinen Angstauslöser ja unentwegt in dir trägst. Kein Fahrstuhl und kein Hund, du selbst und deine Körpersymptome sind der Angstauslöser.
Fällt dir ein skurriles Erlebnis im Zusammenhang mit der Emetophobie ein?
Da gibt es bestimmt unzählige. Vor einigen Jahren hat mich mal eine Freundin besucht, wir wollten uns gemeinsam einen Film ansehen. Sie hatte Migräne, ihr wurde übel und sie ging ins Bad. Nun war meine Wohnung relativ klein und die Chance hoch, dass ich sie höre, wenn sie sich übergibt. Wollte ich nicht, konnte ich nicht, also habe ich mich, dünn angezogen wie ich war, mitten im Winter auf den Balkon gestellt und habe die Balkontür geschlossen. Was schon ein Fortschritt war. Als Kind und Jugendliche habe ich, sobald jemandem aus der Familie schlecht war, fluchtartig die Wohnung verlassen.
Gibt es etwas, das zu dem Thema noch loswerden möchtest?
Es gab mittlerweile schon einige Reportagen über Emetophobie und die Kommentarspalten in den sozialen Medien waren jedes Mal – im übertragenen Sinne ;) – zum Kotzen. Die Leute, die so einen Quatsch hätten, seien verweichlicht, so was habe es früher nicht gegeben, bla bla bla. Wäre cool, wenn Menschen, die so was denken oder lautstark von sich geben, eine Sekunde länger drüber nachdenken, dass solche Phobien ernste Hintergründe haben (können). Man ist nicht verweichlicht, wenn man (zum Beispiel) Angst vor Kontrollverlust hat. Man hat unter Umständen traumatisierenden Kontrollverlust erlebt, aus dem am Ende diese Phobie geworden ist.
Vielen lieben Dank Sophie, für diesen privaten Einblick, und dass du öffentlich über eine Thema sprichst, das sicher mehr tabuisiert ist als viele andere Phobien.