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Armuts-/Sozialbericht 2024

Vor Kurzem wurde der aktuelle Sozialbericht präsentiert und veröffentlicht. Bevor wir uns mit den negativen Entwicklungen befassen, sei eine Sache positiv erwähnt: Der Sozialstaat funktioniert noch!

Im Jahr 2022 haben die Leistungen des Sozialstaates fast 1 Million Menschen vor Armut geschützt (Momentum Institut (Öffnet in neuem Fenster)). So weit so wichtig - Sozialstaatliche Leistungen zu kürzen ist demnach bekannterweise der falsche Weg. Doch was sagt der aktuelle Sozialbericht auf Basis der Zahlen von 2022 aus, was ist bereits bekannt, was wurde besser oder schlechter? Sehen wir es uns an…

EU-Ziele werden voraussichtlich nicht erreicht

Die EU hat sich 2022 das Ziel gesetzt, die Zahl der armuts- oder ausgrenzungsgefährdeten Menschen bis 2030 zu reduzieren. Konkret heißt das für Österreich, diese Zahl auf 13,4% zu senken. Zwar hat sich die Zahl der SozialhilfeempfängerInnen seit 2018 von 310.000 auf 250.000 verringert (dazu weiter unten mehr), die EU-Berechnung beinhaltet allerdings mehr Faktoren als das bloße Einkommen in Zahlen. Laut dieser Berechnung waren 2022 in Österreich 17,5% bzw. 1,5 Mio Menschen armuts- oder ausgrenzungsgefährdet - darunter auch 300.000, die einer Erwerbstätigkeit nachgingen (working poor). 2,3% bzw. 201.000 Menschen galten 2022 als erheblich depriviert - konnten sich also die Ausgaben des täglichen Bedarfs nicht leisten (Hanna Lichtenberger auf X (Öffnet in neuem Fenster)) . Diese Menschen leben laut Definition in absoluter Armut. 2018 lag die Zahl der Armuts- oder Ausgrenzungsgefährdeten übrigens noch bei 16,8%. Kein signifikanter Anstieg seither - rein statistisch betrachtet - allerdings signifikante individuelle Auswirkungen auf die betroffenen Personen.

Österreich scheint sich demnach eher von den Zielen bis 2030 zu entfernen, als sich anzunähern. Was also tun, um dem entgegenzuwirken?

Neue alte Forderungen der ExpertInnen

(WU Wien - Karin Heitzmann, Jeremias Staudinger)

“Mindestlebensstandards für alle BürgerInnen”

ExpertInnen mahnen erneut seit Jahren bekannte Maßnahmen für einen armutsfesten Sozialstaat ein. Sie verweisen erneut auf die Wichtigkeit von präventiven Maßnahmen zur Armutsvermeidung, führen aber auch die Notwendigkeit bedarfsorientierte Unterstützungsangebote im Rahmen kurativer Armutspolitik an. Zusätzlich plädieren ExpertInnen seit Jahren dafür, Armut als die mehrdimensionale Problemlage (materiell und nicht-materiell) wahrzunehmen, die sie ist und die notwendigen Messungen von Armut entsprechend durchzuführen. Wie bereits seit Jahren legen die ExpertInnen dar, dass ein armutsfester Sozialstaat nur mit festgesetzten Mindestlebensstandards (nicht Höchstsätze wie aktuell in der Sozialhilfe) für alle BürgerInnen erreichbar ist.

Teilhabe durch Erwerbsarbeit

(Uni Wien - Jörg Flecker, Anita Heindlmann, Johanna Neuhauser, Hannah Quinz; FORBA - Georg Adam)

“Mindestlöhne, Arbeitszeitverkürzung, Abschaffung prekärer Arbeit”

Eine konkrete Forderung ist Teilhabe durch den Zugang zu Erwerbsarbeit für alle Menschen im erwerbsfähigen Alter. Hierfür gibt es mehrere vorgeschlagene Maßnahmen:

  • Arbeitsplatzgarantie - für alle Langzeitbeschäftigungslosen wie z.B. in Marienthal

  • zielführende Mindestlohnpolitik über der Armutsgefährdungsschwelle - durch Generalkollektivverträge oder entsprechende Branchen-Kollektivverträge, alternativ durch gesetzliche Mindestlohnvorgaben generell oder in branchenweise in Niedriglohnbranchen, Vergabemindestlöhne bei öffentlichen Auftragsvergaben

  • Senkung der hohen Teilzeitquote - durch Arbeitszeitverkürzung, ein Recht auf Aufstockung einer Teilzeitstelle, Förderung von langer Teilzeit wo Vollzeit nicht erwünscht oder möglich ist, Vermeidung kurzer Teilzeit, Anhebung der Mindestlöhne in Branchen mit hohem Teilzeitanteil

  • Beseitigung prekärer Arbeit - durch Regulierung von Leiharbeit und Subunternehmertum, Beseitigung von Scheinselbstständigkeit und Verstärkte Rechtsdurchsetzung durch Personalaufstockung, abschreckende Strafen und verstärkte Kooperation zwischen Behörden

  • Gehalt statt Taschengeld für Menschen mit Behinderung

Armutsfeste soziale Infrastruktur und Sachleistungen

(WIFO - Christine Mayrhuber, Julia Bock-Schappelwein, Stefan Angel, Marion Kogler, Silvia Rocha-Akis, Ulrike Famira-Mühlberger)

“Investitionen in Bildung, Gesundheit und Pflege”

Die WIFO-ExpertInnen fordern gleiche Chancen beim Zugang zu hochwertigen öffentlichen Dienstleistungen. Dafür sind heute Investitionen in Bildungs-, Gesundheits- und Pflegedienstleistungen notwendig, die mittel- und langfristig wirken. Das hat Auswirkungen auf die Qualifizierung, die Erwerbsfähigkeit und die Möglichkeit für Frauen berufstätig zu sein. Die empfohlenen Maßnahmen in diesem Bereich sind:

  • frühe Förderung von Kindern, Stärkung der individuellen Kompetenzen

  • qualitativ hochwertige und für alle zugängliche Bildungseinrichtungen

  • informelle Pflege verstärkt in formelle Settings überführen

  • Ausbau der Pflegeangebote mit attraktiven Löhnen und Arbeitsbedingungen

  • Ausbau präventiver Maßnahmem zur Vermeidung von Obdachlosigkeit - wie z.B. Delogierungsprävention, niederschwellige und flächendeckende Hilfs- und Beratungsangebote

  • Förderung und Bereitstellung von bezahlbarem Wohnraum

Monetäre Transferleistungen

(FORBA - Ingrid Mairhuber, Myriam Gaitsch)

“Mindestsicherung und unabhängige Frauen”

Die ExpertInnen machen einen armutsfesten Sozialstaat auch an Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Care-Arbeit, Absicherung von betreuungsbedürftigen Kindern, Langzeitpflegebedürftigkeit, Alter und bei Erwerbslosigkeit, sowie an kurativer Armutspolitik fest. Die konkreten Empfehlungen im Bereich der monetären Transferleistungen sind:

  • Anhebung aller Transferleistungen der verschiedenen Sozialversicherungssystemen (z.B. Arbeitslosen- und Pensionsversicherung) über die Armutsgefährdungsschwelle

  • Absicherung der Unabhängigkeit von Frauen - z. B. durch eigenständigen Leistungsanspruch für (Ehe-)Frauen bei der Ausgleichszulage der Pensionsversicherung

  • Flächendeckendes, leistbares und qualitativ hochwertiges Angebot an Betreuungs-, Bildungs- und Pflegedienstleistungen inklusive Rechtsanspruch

  • Armutsfeste Einkommensersatzleistungen und sozialversicherungsrechtliche Ansprüche bei Elter- bzw. Pflegekarenz/-teilzeit

  • Reform der bestehenden familienpolitischen Transferleistungen - Bündelung und Neuausrichtung um Armut zu vermeiden

  • Wiedereinführung der Mindestsicherung - diskriminierungsfrei, bedarfsorientiert und auf individuelle Problemlagen angepasst

Weitere Forderungen werden zum Beispiel von der Volkshilfe Österreich gestellt. Die aktuellen Zahlen und der Sozialbericht zeigen, dass es ohne Kindergrundsicherung nicht mehr geht. Auch die ExpertInnen der OeNB lassen mit der Forderung nach Erbschafts- und Vermögenssteuern, sowie einer Steuer auf Bodenrente aufhorchen. Diese seien nötig um die Verteilung in Österreich gerechter zu gestalten und damit Armut zu verhindern.

Armutsfester Sozialstaat Österreich?

Die Forderungen, einen armutsfesten Sozialstaat der Zukunft zu errichten, sind nicht neu. Betrachtet man die wiederkehrenden Forderungen und Empfehlungen der ExpertInnen auf der einen Seite und die gesetzlichen Entwicklungen der letzten Jahre auf der anderen, so zeigt sich erneut ein desaströses Bild. Statt die Empfehlungen der ExpertInnen ernst zu nehmen und entsprechende Maßnahmen auszubauen, werden seit Jahren wirkungsvolle Maßnahmen zurückgebaut. Von Mindeststandards ging es zu Höchstsätzen, von der Mindestsicherung zur Sozialhilfe. Von Stärkung der Unabhängigkeit von Frauen zu Herdprämien. Statt Betreuungs- und Pflegeangebote auszubauen, werden zusätzliche Barrieren errichtet (z.B. Kindergartensteuer in Oberösterreich). Statt bundesweit flächendeckende Mindestmaßstäbe zu entwickeln und umzusetzen, findet gefühlt ein Kampf um den Schlechtestbietenden statt (unterschiedliche Ausführung der Sozialhilfe). Statt Stigmata und Beschämung abzubauen, werden diese scheinbar noch verstärkt - z.B. durch Presseaussendungen oder offizielle Interviews von Verantwortlichen, die immer wieder auf die individuelle Verantwortung der Menschen hinweisen, dabei aber die strukturellen Probleme (die zu fremdbestimmten Rahmenbedingungen ohne Einfluss für Einzelne führen) verheimlichen. Das hat auch zur Folge, dass immer mehr Menschen, die Anspruch auf Sozialhilfe hätten, diesen nicht wahrnehmen. Die von ExpertInnen genannte Zahl dieser sogenannten “Non-Takers” beträgt mittlerweile über 70.000 Menschen.

Armut scheint zunehmend von den Verantwortlichen gewollt. Während mit sinkenden absoluten Zahlen von SozialhilfeempfängerInnen hausieren gegangen wird, spricht niemand darüber, dass viele Armutsbetroffene gar keinen Anspruch mehr auf Sozialhilfe haben. Denn sie fallen den Höchstsätzen und Kann-Bestimmungen der Sozialhilfe zum Opfer. Du willst Sozialhilfe? Geh und verklag zuerst deine Eltern/erwachsene Kinder. Willst du nicht? Dann Pech gehabt. Niemand spricht darüber, dass es tatsächlich eine Rolle spielt, in welchem Bundesland man von Armut gefährdet oder betroffen ist. Wobei diese Tatsache sogar erkannt wird. Allerdings nur als Argument dafür, dass die Sozialhilfe-Höchstsätze nach unten angepasst und somit bundesweit einheitlich gestaltet werden sollen. In einer Zeit in der immer mehr Menschen sich das Leben nicht leisten können.

Natürlich muss an dieser Stelle auch erwähnt werden, dass die letzten Jahre auch von mehreren Krisen geprägt waren. Doch statt genau in diesen Krisen ein Hauptaugenmerk auf Armutsgefährdete und -betroffene zu haben, bekamen diese Gießkannenprinzip und vermeintliche Hilfen, die dann doch keine waren (Wohnschirm - Lest bald mehr dazu bei uns).

Berücksichtigt man das niedergeschriebene Koalitionsziel der aktuellen Bundesregierung, die Armut zu halbieren, so scheint dies mittlerweile in weiter Ferne.

„Wenn jedes fünfte Kind, jede dritte Alleinerzieher*in und jede sechste Mindestpensionistin in Armut leben müssen, können wir uns nicht darüber freuen, den Status quo zu erhalten. Die Regierung hat die Versprechen, die sie diesen Menschen gegeben hat, nicht eingehalten.“

Quellen:

Kleine Zeitung - Sozialbericht präsentiert (Öffnet in neuem Fenster)

Heitzmann/Staudinger Studie “Armutsfester Sozialstaat der Zukunft" (Öffnet in neuem Fenster)

FORBA - Armutsfeste soziale Infrastruktur und Sachleistungen (Öffnet in neuem Fenster)

Statistik Austria - Armut 2022 (Öffnet in neuem Fenster)

Sozialbericht 2024 - Part 2 (Öffnet in neuem Fenster)

OTS - Volkshilfe zum Sozialbericht (Öffnet in neuem Fenster)

der Standard - OeNB ExpertInnen fordern Vermögens- und Erbschaftssteuern (Öffnet in neuem Fenster)

Kategorie Aktuell

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