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Unklar: Wie entsteht Verantwortlichkeit ohne Hierarchie?

Eine Gruppe von Frauen sitzt in angeregtem Gespräch um einen Tisch im Freien.

Puh, die Denkumenta 3 ist vorbei, und ich bin (wie jedes Mal) sehr geschafft und sehr beglückt zugleich. Und klüger. Es ist irgendwie eine andere Welt, sich in einer gewachsenen feministischen Kultur zu bewegen, ohne Parteien, ohne Flaggen, mit viel Zuhören, mit engagierten Beiträgen, ohne großes Geschrei, mit einer überschaubaren Menge von Konflikten, ohne Angeberei und Besserwisserei, aber stattdessen mit Leuten, die echt dran interessiert sind, was die andere sagt. Und das lag NICHT daran, dass wir inhaltlich total einig waren.

Hä? Denkumenta (Öffnet in neuem Fenster)? Das ist eine selbst organisierte feministische Konferenz, initiiert von Frauen aus Österreich, Deutschland, Schweiz und Niederlande (aber offen für andere Geschlechter), die vorige Woche zum dritten Mal stattgefunden hat. Die erste Denkumenta haben wir 2013 als Autorinnen vom “ABC des guten Lebens” (Öffnet in neuem Fenster) organisiert, die zweite war 2019 und bereits thematisch offener. Inzwischen hat sich das Netzwerk weiter ausgeweitet, viele neue Leute sind dabei. Einige kamen auch, weil sie hier im Newsletter davon gelesen hatten, wie toll!!!

Das Thema war diesmal “Unklar. Die Sehnsucht nach Eindeutigkeit und das Ringen mit der Unklarheit” (Öffnet in neuem Fenster).

Eine Gruppe von Frauen bildet einen Kreis

Eine Fragestellung, die sich für mich herausgeschält hat an diesen vier Tagen und der ich in nächster Zeit wahrscheinlich noch nachhängen werde, ist die Frage nach unklaren / nicht hierarchischen Strukturen und wie darin Verantwortung / Verantwortlichkeit entstehen kann.

Insbesondere zwei Slots waren es, die das direkt angestoßen haben. Einmal ein Beitrag von Andrea Kölzer, die in Kassel lebt und die Documenta15 vorgestellt hat, von der sie sehr begeistert war. Das “Unklare” dabei war die Frage, wie der Antisemitismus in einigen ausgestellten Werken und die Debatten und Aufklärungen rundherum mit der kollektiven Konzeption des kuratierenden Kollektivs ruangrupa zusammenhängt. Wenn niemand letztverantwortlich ist für das, was geschieht, wo sind dann Korrektive, wenn rote Linien überschritten werden? Und wer legt fest, wo eine rote Linie ist? So, wie es bei der Documenta gelaufen ist, war es nicht gut: Antisemitismus bekam Platz im öffentlichen Raum und die Aufmerksamkeit wurde ganz auf diesen und die Kritik daran gezogen, während viele interessante, wichtige und gute Werke/Aspekte der Documenta medial hinten runter fielen. Das Ergebnis war nicht Auseinandersetzung oder gar Verständnis, sondern verhärtete Fronten, weil so viele berechtigte Anliegen nicht zum Zuge kamen. Bad Practice also, aber warum? Was hätte sich anders machen lassen?

Teil eines Stuhlkreises mit Frauen verschiedenen Alters

In diesen Strukturen vielleicht nichts, das jedenfalls wäre eine mögliche These aus dem zweiten Slot, der mich inspiriert hat. Es war eine Präsentation von Manuela Kalsky zu dem von ihr mit verantworteten Projekt “Neues Wir” (hier die Webseite, in niederländisch) (Öffnet in neuem Fenster). Ihre These ist, dass in “superdiversen” Kulturen und Gemeinschaften - das heißt in solchen, wo keine weltanschauliche Gruppe eine Mehrheit hat - die klassischen hierarchischen Strukturen von Organisation und Entscheidungsfindung nicht mehr funktionieren. Manuela schlug vor, dass wir uns zukünftig bei der Organisation von Gesellschaft an Rhizomen orientieren (als Metapher), also horizontalen verflochtenen Gewächsen, die sich ohne Zentrum, aber in Beziehung zueinander ausbreiten und verändern. In der Diskussion versuchten wir am Beispiel des “Neuen Wir” (das laut Manuela mehr oder weniger so organisiert ist), herauszufinden, wie genau das mit Verantwortung und Entscheidungsprozessen läuft. Letztlich hat das Projekt, da es ja auch noch in der “alten Welt” verankert ist, klassische Verantwortungsstrukturen (einen Vorstand, Geldgeber etc.), und auch wenn diese bisher nicht konkret eingreifen, so ist doch schon das Wissen um ihre Existenz womöglich eine Abkehr vom Prinzip des Rhizoms.

Ein Plakat auf dem steht: "Platz für Unklarheit (anstelle von Klarheit) eröffnet überlebensnotwendige Denkräume.

Dass die klassischen Hierarchien und Institutionen, die wir aus dem Patriarchat geerbt haben, dysfunktional geworden sind, finde ich evident. Entscheidungsstrukturen sind oft überbürokratisch, bei Aushandlungsprozessen geht es mehr um Macht, Partikularinteressen, Geld als um das Allgemeinwohl und die Suche nach dem, was sinnvoll ist. Alle wollen reden, niemand hört zu. Marketing rules. Die Medien stiften oft mehr Verwirrung als Aufklärung, das bringt mehr Geld ein und das brauchen sie ja. Auch hier ist Verantwortungsdiffusion verbreitet (wie wir am Beispiel des Umgangs mit sexualisierte Gewalt in der evangelischen Kirche gelernt haben.) Und so weiter.

Die Idee, dem eine Struktur ohne Zentrum und Hierarchie zur Seite zu stellen, in denen sich Dinge anders entwickeln können, finde ich total verlockend und letztlich auch notwendig. (Die Metapher vom Rhizom ist zugleich eine Beschreibung der bereits vorhandenen Realität als auch ein Wunsch, wie die Welt werden könne). Allerdings stellt sich die Frage, was wir tun, wenn diese hierarchie- und zentrumsfreien Strukturen menschenfeindliche Dinge hervorbringen oder sonst destruktiv werden. Müssen wir das hinnehmen? (Schließlich: Was ich menschenfeindlich finde, finden andere womöglich ganz in Ordnung?) Oder: Können wir auf das Gute in den Menschen vertrauen oder darauf, dass wenn wir Hierarchien abbauen, schon nichts sehr sehr sehr Schlimmes passieren wird? (Ich bin skeptisch, aber andererseits: Was bleibt uns übrig?) Gibt es eine Möglichkeit, auch ohne klassische Hierarchien und Machtstrukturen Verantwortlichkeit herzustellen und Grenzen zu ziehen, die trotz aller Hierarchielosigkeit nicht (sanktionsfrei) übertreten werden? Oder ist das bereits ein Widerspruch in sich?

Naja, man könnte sagen, die Denkumenta selber war so was. Es gab zwar formal Verantwortliche für die Orga (jemand muss die Initiative ergreifen, das Tagungshaus mieten, die Finanzen verwalten, ein Thema aussuchen, die Betten verteilen, eine Struktur für das Programm vorgeben, Termin bekannt machen, Leute einladen usw.), aber eigentlich wussten alle, dass sie letzten Endes selbst dafür verantwortlich sind, wie die Konferenz wird.

Auch wichtig: Keine Institution dahinter, keine Honorare für niemand, Selbstkostenpreis, solidarische Preisgestaltung, die am Ende aber trotzdem aufgeht (es war sogar genug Geld für Kaffee und Kuchen am Nachmittag da).

Ich vermute, in diese Richtung sollten wir weiterdenken. Hierarchielose Strukturen können wahrscheinlich nur schlecht funktionieren, wenn man sie unvermittelt in eine hierarchische Welt hineinpflanzt. Aber eine andere Welt haben wir ja nicht, in die wir sie pflanzen können. Neue Strukturen müssen mit einem Kulturwandel einhergehen, den die Beteiligten auch wollen. Oder zumindest ein genügend großer Anteil. Und sicher spielt hier auch die Idee von weiblicher Autorität mit, aber wie genau?

To be continued….

Haha, vielleicht gibt es ja irgendwann eine Denkumenta 4, womöglich finden sich welche, die dafür Verantwortung übernehmen wollen. Wir werden sehen!

liebe Grüße,

Antje

PS: Ganz unten gibts wieder Buchgeschenke.

Neu im Internet

Feministische Lehren aus Widerstand und Verfolgung. Mein Vortrag vom 22. Juli bei der FAU Dresden zum Nachhören im Podcast (Öffnet in neuem Fenster).

Gleiches Recht für alle: Das Auto braucht auch auf dem Lande Raum zum Parken. Meine Glosse auf den Vorschlag der FDP, Deutschland wieder autofreundlicher zu machen. (Link) (Öffnet in neuem Fenster)

Antjelas ein Buch

Neu auf meinem Youtube-Kanal:

Cat Bohannon: Eva (Öffnet in neuem Fenster). Das Wunder des weiblichen Körpers und wie er seit 200 Millionen Jahren die Entwicklung auf der Erde vorantreibt.

Gute Links

“Wertschätzung und Anerkennung in der Pflege ist wichtiger als Bezahlung.” Ein interessantes Gespräch mit der Pflegewissenschaftlerin Petra Blumenberg. Es ist Teil einer neuen Serie im Internetforum bzw-weiterdenken, bei der Juliane Brumberg Frauen aus verschiedenen Berufsfeldern dazu interviewt, was in ihrer Branche gut und schief läuft. (Link) (Öffnet in neuem Fenster)

Wie leicht der Zugang zu Abtreibungen ausgehebelt werden könnte. Viele glauben, eine Debatte über Abtreibung in der derzeitigen Situation wäre Wasser auf die Mühlen der Rechtspopulisten und halten deshalb an dem "Kompromiss" zum § 218 fest, der Abtreibungen grundsätzlich verbietet. In diesem Text erklären zwei Juristinnen, warum dies ein Irrtum ist. Denn rechtsextreme Netzwerke und Parteien arbeiten gezielt daran, den Zugang zu Abtreibungen faktisch einzuschränken. Auch die AfD hat entsprechende Vorhaben in ihren Parteiprogrammen stehen. (Link) (Öffnet in neuem Fenster)

Termine

Freitag, 13. September 2024 | OLDENBURG
Trotzdem: hoffnungslos mutig
Vortrag beim Frauentag im Kulturzentrum PFL Oldenburg, Peterstraße 3.

Freitag, 18. Oktober 2024 | LEIPZIG
10 Jahre Care-Revolution
Podium mit Nadia Shehadeh, Mike Laufenberg und mir, 20 Uhr (ab 18 Uhr Abendessen), Leipzig Alt-Lindenau (mehr) (Öffnet in neuem Fenster) (Öffnet in neuem Fenster).

Freitag, 25. Oktober 2024 | DARMSTADT
Antifeminismus als Gefährdung der Demokratie
Vortrag und Diskussion bei der Luise Büchner Stiftung, 19 Uhr, Literaturhaus, Kasinostraße 3.

Buchgeschenke

Manchmal habe ich Bücher doppelt, zum Beispiel als Print und als E-Book, oder ich habe eins versehentlich zweimal gekauft (schusselig wie ich bin), oder ich habe das Buch zwar gelesen, will es aber nicht behalten, oder ich sortiere mein Bücherregal aus …

… deshalb frage ich hier im Newsletter nach, ob jemand ein Buch geschenkt haben will.

Diesmal gibts:

Blätter für deutsche und internationale Politik, die aktuelle Ausgabe Nr. 8/24 (mit einer Rezension von mir drin, aber auch sonst vielen interessanen Beiträgen) / Die Blätter sind eh eine empfehlenswerte Publikation.

Torrey Peters: Detransition, Baby (Roman) (hier meine Empfehlung bei AntjelaseinBuch) (Öffnet in neuem Fenster)

Ina Praetorius: Immer wieder Anfang. Texte zum geburtlichen Denken.

Philippe Kellermann: Begegnungen feindlicher Brüder. Zum Verhältnis von Anarchismus und Marxismus in der Geschichte der sozialistischen Bewegung.

Bei Interesse bitte einfach per Mail mit dem Betreff Bücherverlosung Newsletter“Adresse schreiben, first come first serve. Wer mag, kann mir anschließend die Portokosten per paypal an post@antjeschrupp.de (Öffnet in neuem Fenster) ersetzen, aber muss nicht. (Wirklich nicht).

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