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Urbane gewaltlose Guerilla

„Ich schreie seit Jahren, weil ich nicht mehr sprechen kann. Aber es ist nicht möglich gehört zu werden“, sagte die bolivianische Anarcha-Feministin María Galindo vor ein paar Wochen in Wien.

TRIGGERWARNUNG: Sexuelle Gewalt

Gemeinsam mit Julieta Paredes und Mónica Mendoza gründete María Galindo 1992 in Bolivien die anarchafeministische Gruppe Mujeres Creando (in etwa, schöpfende Frauen). Sie wurden bekannt für ihre künstlerischen Interventionen im öffentlichen Raum. Allen voran zieren ihre Graffitis die Straßen in La Paz und anderen Städten. Da heißt es z.B. „ni la tierra ni las mujeres somos territorio de conquista“ - weder das Land noch die Frauen sind Territorium der Eroberer, „no se puede descolonizar sin despatriarcalizar“ - dekolonisieren ist nicht möglich ohne zu depatriarchalisieren oder „el feminicidio es un crimen del Estado patriarcal“ - der Femizid ist ein Verbrechen des patriarchalen Staates.

Für die Mujeres Creando gehören Handarbeit, kreative Arbeit und intellektuelle Arbeit zusammen. Sie sind gleichwertig und drei Teile derselben Sache. Daher haben sie auch Arbeitskooperativen gegründet, ein Haus organisiert, wo sie ihre Erzeugnisse verkaufen und Räume des alltäglichen Lebens einrichteten. Außerdem gründeten sie Radio Deseo (Öffnet in neuem Fenster). Galindo selbst macht fast jeden morgen zwei Stunden die Sendung La Loca Mañana. Mit dem Haus und Radio stehen sie in Dialog und Austausch mit der Gesellschaft. Über den Staat hinaus und ohne auf ihn angewiesen zu sein.

Kunst und Gewalt

María Galindo selbst ist bekannt für ihren künstlerischen Output. Straßenkunst, Filme machen, Bücher schreiben, Performances aufführen. Bei ihren Performances (Öffnet in neuem Fenster) oder Vorträgen (Öffnet in neuem Fenster), bricht es aus ihr heraus, bis ihr die Stimme versagt. „Ich schreie seit Jahren, weil ich nicht mehr sprechen kann. Aber es ist nicht möglich gehört zu werden“, sagte sie vor ein paar Wochen im Schauspielhaus Wien. Ihr bleibt nichts anderes übrig. Galindo prangert in ihrer Arbeit die politischen Verhältnisse in Bolivien und das Patriarchat, den Kolonialismus und Kapitalismus an. Im selben Atemzug schlägt sie aber auch etwas Neues vor und fordert zum aktiven Machen auf. Und das als erste öffentliche Lesbe Boliviens. All das veranlasste die Herrschenden, sie von Beginn an als Gefahr zu sehen, sodass die Polizei sie bei ihren Auftritten und für ihren Aktionismus angriff.

„Ich habe mal eine Performance gemacht bei der ich mehrere Kleidungsstücke übereinander angezogen habe, die ich dann nach und nach auszog und dann immer noch bekleidet war. Bei einer dieses Performances wurde ich nachts um drei Uhr morgens von der Polizei festgenommen und auf die Polizeiwache gebracht. Sie haben meine Anzüge weggemacht und dann haben zwei Polizistinnen ihre Finger in meine Vagina gesteckt, nur um zu prüfen, ob ich doch eine Frau bin. Das wurde ganz legal an mir gemacht in Bolivien. Es ist ein Spiel, um zu sehen, was ich zwischen den Beinen habe. Es ist ein faschistisches Spiel. Was hast du zwischen deinen Beinen? Das zu zeigen, als Probe, als Prüfung deines Weibseins oder deines Mannseins, ist Faschismus, ist Gewalt, ist staatliche Gewalt.“

Die Polizist_innen waren auf der Suche nach ihrem Geschlecht, um zu beweisen, dass sie ein Mann sei, weil sie die herrschenden Norm des Staates in Frage stellte. Aber auch um sie für ihren Ungehorsam als Frau und noch dazu lesbische Frau zu bestrafen. Vor dem Hintergrund aktueller Diskussionen, habe ich sie gefragt, wer für sie eine Frau sei.

„Frausein ist immer eine Frage, sie braucht keine Antwort, muss keine Antwort haben, muss keine Beschränkung haben, muss keine Aufgaben haben. Frausein ist eine Frage, aber Frausein ist auch ein Muss-sein und auch Mannsein ist ein Muss-sein, von dem wir uns befreien wollen.“

Solange wir die binären Normen rund um Geschlecht und Sexualität aufrechterhalten, reproduzieren wir gewaltsam und zwangvoll die herrschenden patriarchalen Strukturen des modernen Staates.

Feminismus und Anarchismus

Diese Erfahrungen haben auch zur Entstehung von Mujeres Creando geführt. Anfang der 1990er Jahre habe der Neoliberalismus in Bolivien schon seinen Fuß in der Tür gehabt und sollte sich in den kommenden Jahren konsolidieren, erzählte Galindo in einem Interview (Öffnet in neuem Fenster). Die Linke war einigermaßen geschwächt, sowohl als Bewegung als auch als politische Alternative. Also beschlossen Mujeres Creando eigene Diskurse und Räume zu schaffen. Einerseits in Abgrenzung zu ebendieser Linken, die Julieta Paredes als homophob, arrogant und totalitär bezeichnet hatte. Eine Linke, die weiterhin Heterosexualität als Norm und Feminismus als spaltend verstand. Andererseits gegenüber den immer präsenter werdenden entwicklungspolitischen Nichtregierungsorganisationen. Paredes beschrieb Mujeres Creando daher auch als eine „Verrücktheit“ jener Zeit, in der auch den Frauen Stimme und soziale Räume gegeben werden sollte.

Das erklärt wohl auch, was Galindo damit meinte, als sie mir in unserem Gespräch erzählte, dass es damals als junge Frau in der radikalen Linken war, als sie Anarchistin und Feministin wurde.

„Als ich sehr sehr jung war, war ich Teil einer radikalen Partei der Linken und da bin ich Feministin und Anarchistin geworden. Denn, es war so deutlich, dass alles rund um den Staat altmodisch ist. Der Staat ist ein Idiot. Der Staat hat keine Antworten. Den Staat zu verwalten, bringt auch keine Lösung. Und die Linke hat eine Obsession mit Nationalstaaten. In Lateinamerika hat jeder Nationalstaat eine nationale Identität gebaut. Und diese nationale Identität ist wie die Haut, sie ist überall. Aber die Haut ist krank und wir müssen sie wegmachen. Und da hilft Anarchismus viel, da spielt Anarchismus eine Rolle. Denn wir sollen nicht alles durch den Staat denken.“

Sicherlich habe der Anarchismus auch seine Probleme, meinte Galindo (Öffnet in neuem Fenster). Mujeres Creando waren Anarcha-Feminist_innen, wollten aber nicht Teil einer feministischen Strömung innerhalb des Anarchismus sein. Daher nannten sie sich Feminist_innen mit einer anarchistischen Sicht auf Macht. Außerdem lehnten sie es ab organisatorische Schwierigkeiten zu reproduzieren, die anarchistische Bewegungen oft haben. Als Bezugspunkt nannte Galindo den Anarchosyndikalismus in Bolivien, wie z.B. die Organisierung der las culinarias, der Haushalts- und Heimarbeiterinnen.

Manuell, kreativ und intellektuell

In Sachen Organisierung halten Mujeres Creando nicht viel von homogenen Räumen oder Organisationen unter „Gleichen“. Gleich, insofern Identitätsmerkmale geteilt werden, wie z.B. indigen, weiß oder puta (dt. Hure). Differenzen zu homogenisieren, sei gleichbedeutend mit einer kurzfristigen organisatorischen Perspektive. Demzufolge ist ihre Basis die Heterogenität. Ich habe Galindo also danach gefragt, wer für sie das revolutionäre Subjekt sei.

„Ich sage, ich organisiere mich nicht, um zu denken, wer nicht dabei sein darf. Weil das Erlebnis, „du darfst nicht da sein“, dieses Erlebnis haben wir alle, egal wer du bist: weiß, nicht weiß, Frau, nicht Frau, dick, dünn, groß, klein, Europäer, jeder kennt „du darfst nicht dabei sein“. Exklusion ist ein Erlebnis für uns alle. Werden wir Revolution machen, um das zu wiederholen? Also ich arbeite mit jede_r, die mitmachen will und jede_r betrachtet sich selbst, wie sie*er will. Es ist wichtig für mich Identität zu überwinden. Die Frage von Revolution, von Wandlung ist nicht etwas, das wir durch Identitätsfragen beantworten werden. Es ist ganz falsch, wenn wir denken, eine Lesbe, weil sie Lesbe ist, denkt deutlicher als eine Frau, die keine Lesbe ist. Oder eine Frau, die trans ist, ist keine richtige Frau. Das alles ist Faschismus oder zumindest ist es die Tür durch die Faschismus hereinkommt.“

Dementsprechend steht die bekannte Phrase „indias, putas y lesbianas“ (Indigene, Huren und Lesben) von Mujeres Creando für unterschiedliche Identitäten, Orten der Ökonomie, kulturelle Backgrounds, ethische Herkunft und sexuelle Orientierungen, die Organisierung zwar komplizierter machen, aber auch ihre Komplexität steigere und sie intensiver und dichter werden lasse. Die Praxis der Mujeres Creando kommt aus der Praxis und nicht aus der Theorie. „Unsere Allianz ist eine ethische, keine ideologische“ beschreibt Galindo (Öffnet in neuem Fenster) ihren Modus Operandi. Ihre Waffe ist die Kreativität, Kunst das Mittel des politischen Kampfes. Dazu gehört eben auch Graffitti, als Aneignung der Straßen und des öffentlichen Raums und auch Sichtbarmachen der Bewegung.

„Wir haben etwas zu sagen. Wir wiederholen nicht vier europäische Theoretiker:innen. Wir haben etwas zu sagen und wir sagen es mit Farbe, mit Körpern, mit vomits und dem ganzen Rest.“ Sie haben dennoch eine theoretische Position und einen Vorschlag für die eigene Gesellschaft. Die Straße ist hierfür der Ort der Revolte, des sozialen Wandels, der Revolution.

Urbane gewaltlose Guerilla

Mujeres Creando ist laut Galindo eine urbane gewaltlose Guerilla. Kreativität als Kampfmittel bedeute eine eigene Sprache zu entwickeln und in eine symbolische Hegemonie zu intervenieren. Außerdem sei für Galindo (Öffnet in neuem Fenster) in Bolivien die Straße der einzige demokratische Ort, der existiere. Denn die politischen Institutionen hätten allesamt einen kolonialen, rassistischen, homophoben und klassistischen Hintergrund.

Das klingt wie ich es von Europa kenne. Demokratie als Polis, als Arena, als öffentlicher Ort der Austragung diskursiver Kämpfe. Daher war ich zuerst etwas enttäuscht, aber vielleicht ist das eine der Folgen des Kolonialismus, dass alles unweigerlich ähnlich klingt. Und anders herum ist gerade auch dieser Ort der Gemeinschaft und Gegenseitigkeit, der Entscheidungsfindung demokratisch gestalten kann, nicht nur eine Idee der Antiken Griechen, sondern auch eine indigene Idee, die die kolonialen Philosophen der Aufklärung für sich beanspruchten. Gleichsam wird die Quelle des Feminismus häufig in Europa verortet. Diese eurozentrische Sicht kommt aus dem bürgerlichen Staat der Moderne. Galindo versteht Feminismus als ein planetares weltweites Phänomen, für das es nicht nur eine Herkunft und Entwicklungsgeschichte gibt, sondern vielfache und komplexe, die aus den Kämpfen der Frauen überall herkommen. Andernfalls wäre es ein kolonialer Feminismus. Um diesen Gedanken auch für den Anarchismus aufzugreifen, habe ich sie gefragt, ob sie sich eher auf indigene Anarchismen beziehe und ob Anarchismus nicht auch ein euro-hegemoniales Projekt sei.

„Ich bin nicht Anarchistin geworden, weil ich Bakunin gelesen habe. Ich bin Anarchistin und Feministin geworden durch meine Angehörigkeit als ganz junge Frau in der radikalen Linken in Lateinamerika. Bitte Europäer:innen vergesst, dass ihr die Besitzer_innen von Ideen, von Ideologien, von Feminismus, von Anarchismus oder von Ökologie seid. Die Welt ist wunderschön und ganz groß und es gibt viele Bücher, die ihr nie übersetzt. Die nicht übersetzt werden, die nicht verkauft werden in euren wunderschönen Buchhandlungen. Und ihr erreicht nicht das Denken der Welt. Und ihr seid in dem Sinne unwissend. Ich kenne deine Geschichte besser als du meine. Du weißt nichts über meine Geschichte. Wir lernen in der Schule eure Geschichte. Unsere Geschichte lernen wir nur, wenn möglich. Also ihr seid nicht die Besitzer:innen - von nichts.“

Im Austausch mit internationalen Genoss_innen überkommt mich oft ein Gefühl von Scham. Wegen der Vorherrschaft europäischer Ideen in der Welt, die gewaltsam durchgesetzt und aufrecht erhalten werden. Oder privilegiert behandelt werden, wie auch Sozialismen. Galindos Worte treffen genau da rein und bedeuten für mich eine Art von Befreiung: das was wir als Sozialismen bezeichnen, existiert weltweit in einer Vielfalt, die wir in Europa vermutlich gar nicht begreifen können. Sich von kolonialen Kontinuitäten zu befreien, heißt dann, nicht in diesem Gefühl stecken zu bleiben. Nach 500 Jahren Kolonialismus können sowieso keine eindeutigen Trennlinien gefunden werden und muss es vielleicht auch nicht. Viel mehr gilt es zuzuhören, was die Genoss_innen erzählen. Wirklich zuzuhören.

Wer kann zuhören?

Die postkoloniale Denkerin Gayatri Spivak hat mal einen grundlegenden Text für die Postcolonial Studies geschrieben, namens „Can the Subaltern speak?“ - Kann die Subalterne sprechen? In dem Text verneint sie das basically und behauptet, die Subalterne sei sprachlos. Auf diese Aussage habe Galindo, so erklärte sie während des Publikumsgesprächs im Schauspielhaus, eine Replik. Denn es stelle sich nicht die Frage, ob die Subalterne sprechen könne, sondern viel mehr: „Kann die Hegemonie, können die Mächtigen zuhören?“

Galindo schreit in ihren Performances, weil die Mächtigen einfach nicht zuhören können. Während unseres Gesprächs führte sie aus: „das Problem ist nicht Sprachlosigkeit, sondern es gibt keine Hörmöglichkeiten im System. Nicht in der Academia, deswegen ist Spivak in einem Gefängnis, wo sie das Hören verloren hat. Und auch die Mächtigen haben das Hören verloren.“ Aber das ist noch nicht alles, so erklärte Galindo weiter: „Das Problem hat die Hegemonie. Sie hat das Problem nicht hören zu können, nicht sehen können, nicht spüren zu können, nicht erfahren zu können, nicht zu Fuß spazieren zu können, nicht die Welt erleben zu können. Wir sind in den Händen von Leuten, die nicht lebendig sind.“

Foto: © Anarchie&Cello

kontrA naiv

In der neuen Folge von kontrA geht es um den Vorwurf gegenüber Anarchist:innen und Linke naiv zu sein. Das ist selbstverständlich eine Strategie, um eine anti-kapitalistische Weltanschauung zu delegitimieren. Es handelt sich um eine Herrschaftslüge, um uns zu vermitteln, dass eine Befreiung von einer profitorientierten Eigentumsgesellschaft nicht möglich sei und wir es daher gar nicht erst versuchen sollen.

Hört die ganze Folge kontrA hier (Öffnet in neuem Fenster).


Kategorie Kunst

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