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Arbeit anerkennen

Im Museu da Tapeçaria de Portalegre werden vortreffliche Tapisserien gezeigt. Die handgemachten Wandteppiche sind handwerklich und zeitlich aufwendig. Doch die Handwerkerinnen, die dieses Luxusprodukt erschaffen, werden unsichtbar gemacht. Das wiederum macht die Abwertung von Arbeiter:innen und die Diskriminierung von Frauen deutlich sichtbar.

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Ende März war ich im Urlaub. Das kommt bei mir leider gar nicht so häufig vor. Ich bin ziemlich schlecht darin mir selbst zu gönnen und Urlaub auch mit der notwendigen Ernsthaftigkeit zu planen, die ihm gebührt. Jedenfalls war ich im Südosten Portugals. In einem kleinen mittelalterlichen Dörfchen, auf rund 750 Höhenmetern, umrundet von Schafherden und Olivenhainen genoss ich die Frühlingssonne, während die Vögel fröhlich (oder eher lüsternd) portugiesisch zwitscherten. An einem dieser Tage machte ich einen Ausflug in ein Städtchen in der Nähe, um dort das Museu da Tapeçaria de Portalgre, also das Museum der Tapisserie von Portalegre, zu besuchen.

Spezielle Wandteppiche

Eine Tapisserie ist ein Wandteppich (auch Bildteppich genannt), der durch Bildwirkerei hergestellt wird. Die Teppiche können nicht maschinell, sondern nur manuell hergestellt werden. Das heißt, jede Tapisserie ist handgemacht. Das passiert auf horizontalen und vertikalen Webstühlen. In Portalegre werden die Wandteppiche vertikal gewirkt und zwar mit einem speziellen Stich, der sehr dicht ist. Das führt zu einem sehr genauen und feinen Bild, das präzise Formen entstehen lässt. Und tatsächlich, wenn man andere Wandteppiche mit jenen aus Portalegre vergleicht – und das ist bei einem der ersten Exponate im Museum möglich – ist der Unterschied leicht zu erkennen. Die aus Portalegre wirken fast wie gemalt.

Zentral bei den Tapisserien in Portalegre ist ihre Entstehungsgeschichte. Im Museum wird diese euphorisch erzählt und sie geht ungefähr so: 1946 haben sich zwei Freunde, Guy Fino und Manuel Celestino Peixeiro, in den Kopf gesetzt hangemachte Wandteppiche in Portalegre zu produzieren. Weil das aber gar nicht so einfach ist, wegen der starken Konkurrenz und schlechten Startbedingungen in Portugal, ging es dem Geschäft anfangs nicht so gut. Das änderte sich als der Vater von Manuel Celestino Peixeiro, Manuel do Carmo Peixeiro, den beiden vorschlug einen Stich zu verwenden, den er selbst vor Jahren als Student in der Textilschule entwickelt hatte. Mit diesem Stich fing alles an.

Heute werden die Wandteppiche in limitierten Serien hergestellt. Es sind über 7000 Farben aus reiner Wolle verfügbar. Die Fäden können wiederum miteinander kombiniert werden und so eine endlose Anzahl an Farben erzielen. Mehr als zweihundert portugiesische und internationale Künstler:innen haben ihre Arbeiten in Portalegre in Textil übersetzen lassen. Der Quadratmeterpreis liegt bei 9000 Euro. Bei all der Besonderheit wundert es daher schon, dass die Tapisserien aus Portalegre im deutschsprachigen Wikipedia-Eintrag zum Thema keine Erwähnung finden.

Exkurs: Was ist Tapisserie?

Es gibt zwei Arten von Fäden: Schussfäden, das sind Fäden, mit denen etwas gewebt wird, und Kettfäden, die kettenartig angeordnet sind und in die etwas hinein gewebt wird. Der Schussfaden trägt diesen Namen, weil er in der Weberei am Webstuhl oder an der Webmaschine von einer Kante zur anderen eingeschossen wird. Um das zu tun, wird der Schussgarn auf eine Fliete (das sind kleine Weberschiffchen) aufgewickelt. Bei der Wirkerei wird, anders als beim Weben, der Schussfaden nur bis zum Rand der in den Vorlage angegebenen Fläche hin- und zurück gewirkt. Das ist übrigens der grundsätzliche Unterschied zwischen Weberei und Bildwirkerei.

Als Vorlage dient ein Karton in Originalgröße des späteren Teppichs, auf dem die farbigen Flächen und Konturen eingezeichnet sind (so etwas kommt auch in anderen Künsten zum Einsatz, wie z.B in der Freskenmalerei oder bei Bühnenbilder). Die Übertragung allein ist übrigens schon eine Kunst, denn das Originalbild hat ja oft ganz andere Maße als der spätere Teppich haben soll. Der Karton wird unter den Kettfäden am Flachwebstuhl oder im Rücken des Hochwebstuhls montiert und dient so als Orientierung. Außerdem wird mit Spiegeln gearbeitet - aber das geht jetzt zu weit.

Jedenfalls ist die Bildwirkerei sehr zeitaufwendig und Handwerker:innen benötigen vier bis acht Wochen pro Quadratmeter. Die Wirkerei gehört neben der Töpferei und Weberei im Übrigen zu den ältesten Handwerkskünsten der Menschheit. Die Teppiche wurden und werden als Wandverkleidungen genutzt, um das Haus oder die Herberge nicht nur zu dekorieren, sondern auch zu isolieren bzw. zu wärmen. Aber sie erfüllten auch pädagogische Zwecke und erzählen durch ihre Motive Geschichten.

Und wo sind die Frauen?

Wie ich so durch das Museum ging und mir die Exponate ansah, deren Bandbreite von klassischen über abstrakten, kleineren bis ganze Wände bedeckenden Teppichen reicht, fiel mir eines auf: die Namen derjenigen, die diese Teppiche mit ihren Händen herstellten, fehlten völlig. Und das obwohl das Museum selbst auf dessen Website schreibt: „every Portalegre tapestry is in fact an original work of art by itself, due to its own properties and the means used to translate the original.“ Wenn dem so ist - wieso werden die Handwerker:innen nicht namentlich genannt und ihre Arbeit dadurch anerkannt und gewürdigt? Beim durchklicken der Website konnte ich kein Bild des Teams, nichts konnte ich finden.

Im Gegenteil, wenn man das Museum besucht oder die Website durchstöbert: es ist eine Geschichte der Männer. Doch das Weben oder in diesem Fall Wirken ist Frauenarbeit. In der Werkstatt in Portalegre arbeiten, wie auch in anderen Fabriken und Bereichen der Textilindustrie, vor allem Frauen. Erst vor ein paar Tagen hat sich das Unglück von Rana Plaza zum 10. Mal gejährt. 2013 sind beim Fabrikeinsturz in Bangladesch über 1000 Textilarbeiter:innen gestorben, noch mehr wurden verletzt. Und trotzdem sind noch heute 80% der Arbeiter:innen in der Textilindustrie junge Frauen, die unter unwürdigen Bedingungen arbeiten.

Abermals zeigt sich also auch in Portalegre eine strukturelle Abwertung und Diskriminierung. Die Abwertung von Arbeiter:innen und die Diskriminierung von Frauen. Dabei ist die patriarchale Logik bereits in der Entstehungsgeschichte angelegt: Technologie, Erfindung, Fortschritt ist dem Manne zugeordnet, der dementsprechend auch den Fame und das Geld einkassiert. Die Umsetzung und Produktion, die im Hintergrund passiert, ist der Frau zugeordnet. Daraus resultiert kein Geld - die Handwerkerinnen erhalten angeblich trotz der hohen Quadratmeterpreise keinen üppigen Lohn - und keine oder nur eine indirekte Anerkennung. Die Frage stellt sich also – wer profitiert hier? An wen gehen diese tausenden Euro, abseits der Herbeischaffung von hochwertigen Materialien?

Kein leichter Job

Und die Arbeitsbedingungen sind schwer. Die Handwirkerei ist ein Knochenjob, der sich auf die körperliche Verfassung auswirkt. So wurde mir von verkrümmten Fingern erzählt. Noch dazu wissen nur diese Handvoll Frauen, wie genau die Technik funktioniert. Der Stich ist geheim. Ist es also nicht das Handwerk dieser Frauen, die den Teppich zur Kunst machen? Schließlich ist es eine Herausforderung meist kleinere Originale in großformatige Wandteppiche zu übersetzen und gehen diese über eine einfache Kopie weit hinaus.

Sicherlich war es im Mittelalter üblich, ein Atelier, eine Manufaktur oder Werkstatt zu betreiben, mit Arbeiter:innen, deren Produkte dann den Namen des Künstlers oder der Werkstatt trugen - wir kennen das zum Beispiel von den Alten Meistern, Boticelli und Co. Aber ist das noch zeitgemäß? Gehören die Bildwirkerinnen nicht viel mehr gewürdigt? Finanziell aber auch durch künstlerische und soziale Anerkennung?

Es sollte nicht nur eine Geschichte der erfinderischen Männer erzählt werden, sondern auch die der Frauen, die diesen Erfolg mit ihrer handwerklichen Perfektion überhaupt erst möglich gemacht haben. Und zwar jeder Einzelnen.

Eine Welt ohne Lohnarbeit

Es wird auch in einer Welt ohne Lohnarbeit, eine intrinsische Motivation für die Herstellung von hochwertigen Tapisserien existieren. Das heißt, auch ohne sich daran ökonomisch bereichern zu können, wird es ein soziales und künstlerisches Interesse daran geben, diese Wandteppiche herzustellen. Entweder um das Wissen über die Technik am Leben zu erhalten oder um des künstlerischen Ausdrucks willens.

Doch auch in einer Welt ohne Lohnarbeit geht es um Sichtbarkeit. Es geht nicht darum in einer generischen Masse unterzugehen und schlicht als ersetzbar zu gelten. Es geht um Sichtbarkeit von Arbeiter:innen. Von handwerklicher Arbeit. Von Arbeit, die von Frauen durchgeführt wird. Von unsichtbar gemachten Händen. Denn diese Hände hängen an einem Körper. Der hat ein Gesicht und trägt einen Namen.

Gerade diese Art der Arbeit, die Bildwirkerei, zeigt, wie wichtig es ist, dass wir unsere Leistungen im Sinne von Beiträge zur Gesellschaft jedweder Art anerkennen. Warum sollte sich irgendwer der Tortur der Arbeit hingeben, wenn nicht auch wegen der gemeinschaftlichen Freude daran, etwas geschafft zu haben. Und dem sozialen Status, der damit einhergeht.

Lohnarbeit können wir abschaffen, die Arbeit aber nicht, sie ist Teil der conditio humana. Es ist im Unterfangen alle Menschen gleich zu behandeln aber nicht förderlich die Individualität einzuebnen. Im Gegenteil, sollten wir sie von dem Prinzip der Konkurrenz entbinden, sie nicht künstlich erhöhen. Und doch die Arbeit jeder Einzelnen anerkennen, ganz im Sinne der Kooperation: sie hätte es alleine nicht geschafft, aber ohne sie wäre es auch nicht gelungen. Denken wir Exzellenz nicht als Kader oder Avantgarde, sondern als Teil der Gemeinschaft, für die Gemeinschaft, dann steht sie weder außerhalb von ihr noch über ihr.

Jede:r hat etwas Besonderes zur Gemeinschaft beizutragen. In einer Welt ohne Lohnarbeit, in der die Grundbedürfnisse versorgt sind, werden wir die Zeit und die Muse haben, uns dem zu widmen.

Link zum Museu da Tapeçaria de Portalgre: www.mtportalegre.pt (Öffnet in neuem Fenster)

Foto: © Anarchie&Cello

Morgen ist 1. Mai

und unter dem Motto „Uns aus dem Elend zu erlösen, können wir nur selber tun!“ finden im ganzen deutschsprachigen Raum anarchistische Demonstrationen statt. Wo genau könnt ihr auf anarchismus.de (Öffnet in neuem Fenster) herausfinden.

Rubrik Rückblick

Bereits 1890 war der 1. Mai als Manifestationstag festgelegt worden, doch erst acht Jahre später beim Treffen der Zweiten Internationale in Paris wurde er als internationaler Kundgebungs- und Demonstrationstag beschlossen. Niemand erwartete die weltweite Reaktion darauf. Die Maikundgebungen waren Ausdruck eines Massenbedürfnisses.

Der Ursprung dieses Feier- und Kampftages findet für gewöhnlich weniger Beachtung. Der 1. Mai ist nämlich auch ein Gedenktag an die sechs Anarchisten, die durch die “Haymarket Affäre” als politische Märtyrer gestorben sind. Was war passiert?

1886 fanden Massenstreiks in verschiedenen Fabriken in Chicago statt. Es wurde für den 8-Stundentag und Lohnerhöhung gekämpft. Bei einem dieser Streiks vor den McCormick Reaper Works am 3. Mai 1886 schossen Polizisten in die Massen, töteten mehrere Menschen und verwundeten weitere. Der Fabrikleiter reagierte mit dem beliebten Mittel der Massenaussperrung. Das heißt, er schloss die Fabrik und sperrte die Arbeiter_innen im wahrsten Sinne des Wortes aus. Tags drauf versammelten sich Anarchist_innen zum friedlichen Protest am Haymarket. Kurz bevor die Versammlung sich auflösen wollte, erschien ein Trupp Polizisten, der den Protest störte. Plötzlich zerbarst eine Bombe. Ein Polizist starb, siebzig Menschen wurden verletzt, sechs starben später. Bis heute ist nicht bekannt, wer die Bombe geworfen hatte.

Die acht Männer, die vor Gericht gestellt wurden, waren jedenfalls nicht dafür verantwortlich. Albert Parsons, August Spies, George Engel, Adolphe Fischer, Louis Lingg, Samuel Fielden, Oscar Neebe und Michael Schwab. Sechs von ihnen waren an dem Abend nicht dabei gewesen. Ohne Beweise wurden sie alle für schuldig erklärt, sieben zum Tode verurteilt, einer zu 15 Jahren Gefängnisstrafe. Lingg begang am 10. November 1887 vemeintlich Selbstmord in seiner Zelle. Am 11. November 1887 wurden Parsons, Spies, Engels und Fischer gehängt. Schwab und Fielden wurden begnadigt und zu lebenslanger Haft verurteilt. Sechs Jahre später wurden Fielden, Neebe und Schwab von Gouverneur John P. Altgeld begnadigt, da er feststellte und einräumen musste, dass es eindeutig keine Beweise für ihre Verurteilungen gegeben hatte.

Am 1. Mai legen wir unsere Arbeit nieder, um an unsere Opfer zu gedenken, um uns unserer Kampfeskraft gewahr zu werden und uns, die Solidarität und die Freuden des Lebens zu feiern!

Weiterlesen

Den ganzen Text zum Gedenken an den 1. Mai mit dem Titel "Den Kämpfen, den Freuden, der Solidarität" gibt es hier (Öffnet in neuem Fenster) zu lesen. In diesem Text habe ich den Ursprung des 1. Mai vor allem auch durch die Gedenkreden der Anarchistin Voltairine de Cleyre (1866-1912) erzählt, die eine Zeitgenossin der Geschehnisse am Haymarket war und über 20 Jahre lang Gedenkreden gehalten hat.


Wer mehr über Voltairine de Cleyre erfahren möchte, kann das Porträt "Voltairine de Cleyre und die Freiheit des Versuchens" über sie von mir lesen, das in der undogmatisch-libertären digitalen Zeitschrift espero (Öffnet in neuem Fenster) erschienen ist.

Kategorie Arbeit

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