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Die Bewegung macht die Zeit

Oft wird Anarchismus als rückwärtsgewandt dargestellt. Der Film UNRUEH zeigt in unaufgeregten Bildern: es geht Anarchist:innen nicht darum technologischen Fortschritt zu verhindern, sondern sich vom Takt seiner Herrschaft zu befreien.

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St. Imier im Schweizer Jura, 1877. Josephine Gräbli (Clara Gostynski) arbeitet in der örtlichen Uhrenfabrik „Centralines“ als Regleuse. Als solche ist sie, wie viele andere Frauen, dafür zuständig die Unruhe, das mechanische Herzstück jeder Uhr, zu montieren. Dieses treibt das Räderwerk an und hält es in der richtigen Balance. Josephine ist außerdem Teil der anarchistischen Bewegung, die dort stark organisiert ist. Nicht zuletzt, weil sie so als arbeitende Frau eine Krankenversicherung erhält. Auch der Russe Pjotr Kropotkin (Alexei Evstratov) hat von den revolutionären Kräften im Ort gehört. Er sucht den Kontakt mit den Anarchist:innen und stellt als Kartograph eine anarchistische Karte der Region her, die keine Grenzen kennt und die die überlieferten Namen berücksichtigt, statt jene von der Verwaltung offiziell festgelegten.

Schlüsselmoment der Geschichte

UNRUEH, der zweite Langfilm des Regisseurs Cyril Schäublin, wurde international gefeiert und erhielt auf der Berlinale 2022 den Preis für die beste Regie (Sektion Encounters). In diesem unaufgeregten Film widmet sich Schäublin einem Schlüsselmoment der Geschichte des 19. Jahrhunderts: die Arbeit der Uhrmacher:innen verändert sich grundlegend durch die Modernisierung der Industrialisierung. Statt in eigenen Ateliers, arbeiten sie nun unter den Konditionen der Massenproduktion in der Fabrik. Und das unter enormem Druck durch die massive internationale Konkurrenz. Und ideologisch ist es eine Zeit sich entgegenstehender Positionen: Nationalismus trifft auf Internationalismus, wie auch die bürgerliche Ordnung der Kapitalinteressen auf proletarische und solidarische Selbstverwaltung.

Keine Propaganda

Dabei will der Film erst einmal nichts. Den Bildern und der Erzählung liegt keine politische Absicht zugrunde. Im Gegenteil, wenn wir mit den Arbeiter:innen im Hof stehen, um zu rauchen, oder bei einem möglichen Tombola-Gewinn beim Stadtfest mitfiebern, wirkt der Blick der Kamera eher beobachtend. Wie bei einer ethnographischen Feldforschung verweilt er auf den Gesichtern, erforscht die Mimik und Gestik der Körper und begleitet sie durch ihren Alltag. Oder die Kamera bewegt sich wie ein:e Betrachter:in eines Gemäldes, mal ganz nah heran. Bis die Gesamtheit in ihre kleinsten Einzelteile zerfällt und die Dinge wie unter der Lupe, die beim Montieren der Unruhe Verwendung findet, ihren minutiösen Aufbau verraten. Dann wieder befindet sich die Kamera weit entfernt. Dermaßen, dass die Menschen in ihrer Umgebung unterzugehen scheinen. Den Darstellenden werden marginale Orte am Bildrand zugewiesen. In ein Eck gerückt hebt sich so die Umgebung empor, fast als wäre sie die wahre Protagonistin.

Wer macht die Bewegung?

Dass es keine Protagonist:innen gibt, zeigt sich auch dadurch, dass weder eine Helden- noch eine Antiheldengeschichte erzählt wird. Auch Kropotkin, der später in seinem Leben zu einer bekannten Person des Anarchismus wurde, und dies nicht zuletzt auch durch den Einfluss der Uhrmacherinnen, ist nur einer von Vielen. Was er auch selbst sagt: „Je ne suis pas protagoniste“ - Ich bin kein Protagonist. Erzählt wird vom Zusammenleben der Arbeiter:innen: bei der Arbeit in der Fabrik hören sie Grußworte von Genoss:innen anderer Sektionen und verweigern die Produktion von Taschenuhren fürs Militär. In der Freizeit sehen wir sie beim Tauschen und Kaufen von Photographien bekannter Persönlichkeiten, beim Musizieren miteinander im Chor und beim Sammeln von Geld für streikende Genoss:innen in den USA bei der Tombola. Diese Bilder, diese Erzählweise sind ein Gegenentwurf zur Hyperindividualisierung unserer Zeit, die uns weiß machen will, es sei erstrebenswerter persönlichen Ruhm und Erfolg zu erlangen, als solidarisch in Gemeinschaft zu leben. So gelingt es dem Film eine Bewegung zu zeigen, anstatt einzelne Akteur:innen hervorzuheben. Und es wird klar, dass nicht eine Person allein, sondern alle, die daran beteiligt sind, an der Entstehung und dem Erhalt der Bewegung mitwirken.

Konkurrierende Zeitregimes

In all dem zeigen sich die technologischen Neuerungen als treibende Kraft hinter wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungen. Auf die ein oder andere Weise scheinen die Menschen geradezu wahnhaft mit dem technologischen Fortschritt umzugehen: ob das obsessive Zeitmessen und die ständige Auseinandersetzung mit den verschiedenen Uhrzeiten (es gibt vier: die der Kirche, der Fabrik, der Gemeinde und des Telegraphs) und ihrer Synchronisation, das ständige Anpreisen und Herstellen von Fotografien oder die Diskussion darum, welche Landkarte nun im Beisl aufgehängt werden soll (es kommt zu einer basisdemokratischen Abstimmung durch Handzeichen für die anarchistische Landkarte, bei der auch Gendarm mitstimmen) – die Dokumentation, Standardisierung und damit einhergehende Hierarchisierung durch neue Technologien nehmen eine immer stärkere Rolle im Alltag der Menschen ein, egal ob Arbeit oder Freizeit.

Veränderte Produktionsbedingungen

Doch nicht nur das Verhältnis zur Zeit, sondern auch die Produktionsbedingungen änderten sich Ende des 19. Jahrhunderts drastisch. Insbesondere die Uhrmacher:innen im Schweizer Jura bekamen die Globalisierung und Entstehung neuer Kapitalmärkte intensiv zu spüren. Denn damals war die Schweiz mit 80% Weltmarktführer für Uhren. Erstmals war es möglich Bestandteile der Uhr auszutauschen und sie dadurch günstiger herzustellen. Das führte zu einer Demokratisierung von Uhren – mehr Menschen konnten sie sich leisten –, aber auch international zur Entstehung neuer Fabriken und Marktakteur:innen. Eine Konsequenz daraus war, dass v.a. ungelernte Frauen in den Fabriken beschäftigt wurden, was die Lohnkosten und Produktionskosten weiter senkte und die Konkurrenzfähigkeit erhielt.

Es geht um Sekunden

Dieser Krise begegneten Fabrikbesitzer durch eine Steigerung der Effizienz. In UNRUEH sieht man, wie mit einer Stoppuhr jeder Arbeitsschritt, ja sogar die Wege zwischen Fabrikgebäuden und dem Weg nach Hause nach Feierabend gemessen werden (sollen). Die Zeiten werden in Statistiken erfasst und die Mehrproduktion Einzelner Arbeiterinnen berechnet. Wer zu langsam arbeitet oder zu wenig produziert, erhält keine Lohnerhöhung oder wird entlassen. Dabei wirken die Vorarbeiter wie im Wahn. Denn es geht nicht mehr um Stunden oder Minuten, sondern um Sekunden, die eingespart werden sollen. Insofern führte die Jagd nach der Effizienz bereits Ende des 19. Jahrhunderts zu einer argen Zuspitzung der Arbeitsprozesse. Josephine reagiert hingegen mit einer direkten Aktion und fordert ihre Kolleg:innen dazu auf to go canny – also das nächste Mal langsamer zu arbeiten. Andererseits bleibt eine direkte Aktion aus, als eine Arbeiterin mit zwei Wochen Gefängnis bestraft wird, weil sie ihre Gemeindeabgaben nicht bezahlt hat. Von den Anarchist:innen kommt keine Reaktion und der Fabrikbesitzer bietet der Arbeiterin an, alles nötige bereitzustellen, sodass sie im Gefängnis weiter arbeiten kann.

Instrumente der Herrschaft

Wenn also die Vorarbeiter hinter den Regleuses stehen und ihre Zeit stoppen, um ihnen dann nahe zu legen nächstes Mal ein paar Sekunden schneller zu arbeiten, wird klar: die Uhrmacher:innen produzieren die Instrumente ihrer eigenen Knechtung. Mit einem entschleunigten Blick – der heute noch mehr als damals dem Lebensgefühl widerspricht – zeigt der Film das Aufkommen der kapitalistischen Moderne und ihrer Herrschaftsmethoden. In der aufkommenden Moderne ermöglichte der technologische Fortschritt Zeit und Raum zu vereinheitlichen. Durch die Synchronisation der Uhrzeit an verschiedenen Orten, konnte die Kommunikation verbessert und die Produktion gesteigert werden. Aber diese Neuerungen haben auch immer negative Seiten: eine Uhr sagt dir, ob du zu schnell oder zu langsam arbeitest, ein Fotoapparat stellt nicht nur Erinnerungsstücke her, sondern auch Fahndungsbilder für die Exekutive und Landkarten setzen Grenzen, wo bisher noch gar keine waren.

All diese Dinge sind im Film aber erst im Entstehen. Das alles, was uns heute normal erscheint, war damals noch keine ausgemachte Sache. So wurde z.B. diskutiert, welche Zeit als Standardzeit eingeführt werden sollte (natürlich fand der Fabrikbesitzer, dass seine Zeit die exakteste sei, wobei sie acht Minuten gegenüber den anderen Zeiten vorging und so immer wieder zu Verspätungen der Arbeiter:innen führte, die dann abgestraft wurden). Doch zeigt der Film auch den Beginn einer Beschleunigung, die heute unsere Gesellschaft ausmacht: die Hetze, das Burnout, die ständige Kapitalisierung des eigenen Selbst auf Social Media oder das obsessive „beschäftigt sein“.

Die Frage bleibt: wer gibt den Takt an?

Sind Uhrmacher:innen also Anarchist:innen geworden, um sich gegen Modernisierung zu organisieren? Nein, aber dieser Trugschluss ist weit verbreitet. Denn bereits in diesem frühen Stadium sozialistischer Bewegungen wurde der Anarchismus als Modernisierungsgegner diffamiert und zwar in erster Linie von Marx und seinen Anhänger:innen. Und auch wenn viel später spezifische antimoderne Tendenzen in eine antizivilisatorische Strömung mündeten, so hat der Anarchokommunismus oder der organisierte Anarchismus nichts mit einer Ablehnung von technologischem Fortschritt zu tun. Im Gegenteil gibt der Fabrikbesitzer gegenüber dem Nationalratsabgeordneten an, er lese lieber die anarchistische Presse, da sie ihn auf die kommende Krise vorbereitet und davor bewahrt habe viel Geld zu verlieren. Anarchist:innen wussten also durchaus technologischen Fortschritt zu nutzen.

Die Schweizer Uhrmacher:innen sind Anarchist:innen geworden, weil sie am eigenen Leib erfuhren, was ein unreflektierter Einsatz von neuen Technologien heißt: nämliche neue Formen von Herrschaft und Knechtung. Und sie sind wegen ganz praktischer Angelegenheiten solidarischen Zusammenlebens Anarchist:innen geworden. Wie z.B. die Krankenversicherung für alle Arbeiter:innen – ja, auch für Frauen. Anarchist:innen kämpften also damals – und das tun sie auch noch heute – für einen reflektierten Einsatz von Technologien, sodass diese das Leben bereichern, statt es einzuengen und aufgrund von Profitinteressen auszubeuten. Die Idee sollte nämlich nicht sein, dass Maschinen den Menschen den Takt angeben, sondern umgekehrt die Menschen sie wohl überlegt anwenden. Etwas, das heute in Zeiten von Big Data wieder dieselben Fragen aufwirft und uns vor kollektive Herausforderungen stellt, wie damals die Uhrmacher:innen in St. Imier.

Fotostil: © Grandfilm

Rubrik Rückblick

Und was haben nun ausgerechnet Uhrmacher:innen mit Anarchismus zu tun? Um diese Frage zu beantworten, blicken wir kurz in die Geschichte. In den 1860er und 70er war St. Imier nämlich nicht nur Zentrum der internationalen Uhrenindustrie, sondern auch Hochburg und Drehscheibe des organisierten Anarchismus. Eine der allerersten Sektionen der IAA (Internationale Arbeiterassoziation), also der 1. Internationale, war die Jura-Föderation. Diese bestand hauptsächlich aus Uhrenarbeiter:innen der West-Schweiz. Ihre Vorgängerinnenorganisation gab es bereits 1866, die 1869 zur Romanischen Föderation wurde. Es war diese, die am bekannten Streit zwischen Marx und Bakunin beteiligt war, der 1871 in Den Haag zur Spaltung der 1. Internationale führte. 1872 wurde daraufhin in St. Imier die anti-autoritäre Internationale gegründet. Michael Bakunin war selbst nur zwei Mal und nur kurz dort. Doch mit der Gründung der Internationalen Allianz der sozialistischen Demokratie wurde St. Imier zu einem zentralen Erinnerungsort, auf den sich das Stadtmarketing auch heute noch positiv bezieht.

Weiterlesen:

Ihr wollt mehr über die Uhrmacherinnen erfahren? Cyril Schäublin hat sich mit seinem Film besonders auf das Buch Anarchistische Uhrmacher in der Schweiz. Mikrohistorische Globalgeschichte zu den Anfängen der anarchistischen Bewegung im 19. Jahrhundert von Florian Eitel bezogen, das es hier (Öffnet in neuem Fenster)frei zu lesen gibt.

Keine Anarchistin, aber pfiffige Journalistin Teresa Bücker hat mit ihrem Sachbuch Alle_Zeit. Eine Frage von Macht und Freiheit über Zeit als die zentrale Ressource unserer Gesellschaft geschrieben und Vorschläge (Öffnet in neuem Fenster)für eine neue Zeitkultur gemacht.

Sich treffen:

Vom 20. bis 23. Juli 2023 findet in St-Imier (Jura, CH) die Internationale Anti-Autoritäre Versammlung 2023 (Öffnet in neuem Fenster) statt, um den 150. Jahrestag des Kongresses von St. Imier zu feiern, auf dem 1872 die Anti-Autoritäre Internationale gegründet wurde. Ein Ereignis, das die Geburtsstunde der organisierten anarchistischen Bewegung markiert.

Kategorie Film & Serien

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