#Anarchy2023 in St. Imier
Für ein paar Tage im Juli 2023 befand ich mich in einer kleinen anarchistischen Stadt. St. Imier im Schweizer Jura wurde von bis zu 4000 Anarchist:innen besucht, die das 150jährige Jubiläum der Gründung der anti-autoritären Internationale 1872 feierten. Es war sehr schön. Doch es gab auch Konflikte.
Diesen Newsletter anhören:
Ich war auf dem Weg zum ZAF, dem leerstehenden Altenheim in St. Imier, in dem fast eine Woche lang viele Workshops stattfanden. In Sankt Immer im Schweizer Jura fand im Juli nämlich das internationale anti-autoritäre Treffen statt und ich war gerade auf dem Weg in das herrschaftliche Gebäude, um einen Workshop über den organisierten Aufbau des Anarchismus zu besuchen. Ich ging hinter einem Paar her, als ich die Treppen zum Eingang emporstieg. Das Paar hielt kurz Inne und eine der beiden zeigte auf ein Poster, das auf den Treppen angebracht war. „How can we win?“ und die Zimmernummer, stand darauf. Ich nickte. Auch ich frage mich, wie wir gewinnen können. Also disponierte ich kurzerhand um und nahm an dem Workshop teil.
Wir sprachen über Strategien, um diese und die vielen Welten dieser Erde zu gewinnen. Zwei der Strategien waren einerseits das offene Sprechen darüber, dass man selbst Anarchist:in ist und über die anarchistische Idee, am Arbeitsplatz, in der Schule, egal wo, andererseits schöne Beziehungen untereinander zu gestalten, Freude und Freundschaft zu pflegen.
Ich bin Anarchist:in
Offen darüber zu sprechen, dass ich Anarchistin bin, beschäftigt mich schon länger. Daraus entstand auch das Format kontrA (Öffnet in neuem Fenster), in dem ich den größten Vorurteilen und Mythen begegne und Antwortmöglichkeiten gebe. Denn offen Anarchist:in zu sein, bedeutet häufig Anstrengung. Nämlich die Anstrengung, sich der Ablehnung und den Vorurteilen gegenüber zu wappnen, die unweigerlich kommen werden. Das ewige von Vorne beginnen, erklären, erörtern und streiten. Sich mitunter blöde Vorurteile gefallen lassen zu müssen, die allesamt auf Ignoranz beruhen. Und das gilt für linksradikale Kontexte genauso wie für liberale.
In St. Imier war das freilich nicht der Fall. Es war ja das Treffen zum 150. Jubiläum der Gründung der anti-autoritären Internationale 1872. Bakunin, Malatesta und 12 weitere Delegierte gründeten die anarchistische Internationale nachdem es davor in Den Haag zum Bruch zwischen den autoritären und anti-autoritären Kommunist:innen gekommen war. Wenngleich einige Besucher:innen sich vielleicht nicht als Anarchist:innen bezeichneten, so war doch als Anti-autoritäre ein Bezugspunkt zum Anarchismus vorhanden.
Ort der Kreativität
In vielerlei Hinsicht, war das Treffen in St. Imier sehr schön. In vielerlei Hinsicht kann es ein Beispiel sein für selbstorganisiertes Beisammensein. Ein freundlicher Bauer hatte seine abschüssige Wiese für einen Zeltplatz hergegeben, auf dem jede:r zelten konnte. Anderswo gab es auch einen FLINTA*-Zeltplatz und für jene, die nicht zelten wollten oder konnten, gab es Schlafplätze in Häusern. Zwischen Rue de la Clef und dem Bach La Suze, in der Nähe der Rue Bakounine, stand dann auch unser Zelt auf der hügeligen Wiese. Die Kühe grasten gleich daneben. Die Sonne schien. Friedlich und heiß. Einige Besucher:innen trugen ihren Sonnenbrand mit sich herum.
Von Beginn an war St. Imier für mich ein Ort der Kreativität. Bereits bei meinem ersten Fußweg vom Parkplatz zum Zeltplatz sah ich Musiker:innen. Auf einem etwas abschüssigen Vorsprung stand ein Querflötist und musizierte – ob er der sich unter ihm erstreckenden Natur eine Ode bot?
Ein anarchistisches Städtchen
Die ganze Stadt war Begegnungs- und Austragungsort des internationalen anti-autoritären Treffens. In der Eissporthalle fand die Buchmesse statt und war die größte Essensausgabe zu finden, zentral war auch das espace noir, einem anarchistischen Kulturzentrum, das Buchladen, Café und Bühne beherbergt, im Pfarrhaus wurde Kinderbetreuung angeboten, auf dem Marktplatz gab es Drinks und Theateraufführungen, im Kulturzentrum CCL stand ein Klavier, auf dem eine Besucherin lange improvisierte, während Andere sich an den Strom hängten, lasen oder zu einem Workshop gingen und am äußeren Stadtrand war ein altes, leerstehendes Altersheim, in dem viele Workshops stattfanden und auch das Familiencamping möglich war, das ZAF. Es gab zwar nicht überall Internet, jedoch Computer mit denen durch das Programm gebrowst werden konnte. Das Essen besorgte eine Küfa, die täglich frisches Brot buk und auch für Allergiker:innen passendes Essen anbot. Ein Care Team war zugegen, um Awareness zu schaffen und etwaige Konflikte zu lösen. Und an vielen Plätzen der Stadt gab es Infotische, die für Orientierung sorgten. Alles was anfiel, Müllentsorgung, Wasserversorgung etc., wurde von Freiwilligen selbst organisiert. (Mehr dazu bei Übertrage (Öffnet in neuem Fenster) und Trailor (Öffnet in neuem Fenster).)
Ich habe kaum Einheimische gesehen und war mir nicht sicher, ob sie sich während des Treffens verdrückt hatten, um auch dem Lärm zu entgehen, die die Musik bis in die Nacht hinein unweigerlich mit sich brachte. Aber ich hörte von Nachbar:innen, die die Besucher:innen des Treffens lobten. Für mich war es das erste große anarchistische Treffen dieser Art. Ich fand die Möglichkeit mich durch die ganze Stadt zu bewegen großartig. Es war so groß, dass viele Dinge gleichzeitig passierten.
Für ein paar Tage im Juli 2023 befand ich mich ganz einfach in einer kleinen anarchistischen Stadt, wie schön das doch ist.
Mitunter war ich aber auch überfordert von diesem riesigen Punk Festival und Szenetreff. Trotzdem: Danke an die Organisator:innen und vielen Freiwilligen, die #Anarchy2023 ermöglicht haben.
Konflikte auf dem Treffen
Es gab aber auch verschiedene Konflikte auf dem Festival. Bei so vielen verschiedenen Menschen mit unterschiedlichen Ansichten auch keine Überraschung. Teilweise aber doch etwas verwunderlich. So sahen Menschen es als notwendig an, die Bahngleise, die durch den Ort gehen, an Stellen zu überqueren, an denen das nicht vorgesehen war. Und waren dabei nicht mal in der Lage den nahenden Zug zu sehen und vorbeifahren zu lassen, was möglich gewesen wäre. Lösten so zwei Notbremsungen aus, weshalb die Bahn einen Schienenersatzverkehr für die Zeit des Festivals einrichtete, um die Sicherheit aller Beteiligten zu wahren. Es heißt, die Kosten von 60.000 CHF werden wohl der Orga in Rechnung gestellt. Unnötig einfach.
Aber es gab auch andere Konflikte. Das Orga-Team war bereits am zweiten Tag überfordert, überarbeitet und suchte ständig nach Mithelfenden. Aus diesen Engpässen heraus streikte auch das Care-Team am letzten Tag. Weiße Menschen mit Dreadlocks wurden dazu aufgefordert diese abzuschneiden. Auf der Buchmesse kam es zum Eklat, weil u.a. das Buch L'impasse Islamique mit einem islamophoben Vorwort des libertären Kapitalisten Michel Onfray aufgelegt war, die Betreuenden des Tisches das Buch nicht wegnehmen wollten, sodass Kritiker:innen es verbrannten und es zur körperlichen Konfrontation (Öffnet in neuem Fenster) kam. Und bei Diskussionen rund um den Ukraine-Krieg soll den an der Front gefallenen Genoss:innen aus einer antimilitaristischen Kritik (Öffnet in neuem Fenster) heraus abgesprochen worden sein, Anarchist:innen zu sein. Speziell die letzten Punkte sind Themen, die kontrovers und am Puls der Zeit sind und wenig überraschend auch die Teilnehmenden des Treffens in St. Imier beschäftigten. Allerdings allesamt Themen, deren Umgang damit gewalttätig war.
Feuer und Fäuste
Ich verstehe, dass wir alle viel Hass und Herabsetzung erlebt haben. Ich verstehe, dass diese Gewalt in uns eingeschrieben ist. Doch in den allermeisten Fällen können wir diese Schmerzen heilen. Das wiederum ist ein schmerzhafter Prozess, weder einfach noch angenehm. Aber es geht. Was nicht geht, ist sich ob dieser Schmerzen und Erfahrungen wiederum mit Gewalt auf das Gegenüber zu reagieren.
Als Anarchist:innen reden wir von der Möglichkeit einer harmonische Gesellschaft und Liebe und Freiheit – und im selben Augenblick üben wir diese falsche Militanz gegeneinander aus.
Was wäre so schwierig daran gewesen, eine öffentliche oder semi-öffentliche Diskussion einzurichten, bei der islamophobe Literatur, transphobe Äußerungen, problematische Autoren und dergleichen besprochen werden? Von mir aus täglich. Um diesen Prozess der Aushandlung zu beginnen, fortzuführen. Uns ehrlich und vor allem offen zu begegnen, ohne Angst, aber mit ganz viel Empathie und Mitgefühl? Oder, wenn das zu viel verlangt ist, eben zu diskutieren und Argumente statt Gewalt sprechen zu lassen? Ist das Feuer, sind die Fäuste wirklich notwendig gewesen?
Keine legitime Gewalt
Ich wünsche mir eine Erklärung, aber die gibt es nicht. Denn der pure Affekt hat regiert. Die beteiligten Menschen waren nicht gesprächsbereit und so kam es zum Äußersten. Die Beteiligten wollten scheinbar klare Verhältnisse sehen, einfache Antworten auf komplexe Fragen, um das eigene schwarz-weiße Weltbild bloß nicht um Grautöne ergänzen zu müssen. Nichts hat den Einsatz von Gewalt legitimiert. Gewalt, die gegen Genoss:innen gerichtet war. Reicht es nicht, dass Anarchist:innen von allen Seiten angegriffen und diffamiert werden, müssen wir uns auch noch gegenseitig die Köpfe einschlagen?
Zum Glück war es möglich das Treffen in St. Imier zu erleben, ohne diese Gewalt mitzubekommen. So kann ich den Menschen, die ich treffe, erzählen, dass ich eine echt schöne Zeit hatte und die Leute gelächelt haben, wenn sie an mir vorbei gingen. Dass sie sich friedlich ausgetauscht, freudig umarmt, gemeinsam musiziert, gegessen, nebeneinander geschlafen haben.
Sie haben gejodelt, verdammt! Hinter jeder Ecke zeigte sich ein kreatives und freundliches, ja, freundschaftliches Miteinander.
Dabei kann ich unterschlagen, dass weißen Menschen mit Boycott an der Bar gedroht wurde, wenn sie ihre Dreadlocks nicht abschneiden. Oder eben Bücher verbrannt und Kinnhaken geübt wurden.
Gewalt kann legitim sein, in Form von Selbstverteidigung und behutsam geplanter revolutionärer Gewalt. In St. Imier waren die gewaltvollen Verhältnisse in keinster Weise legitim. Schlimmer noch, dieser gewalttätige Umgang unter Genoss:innen, diese komplette Abwesenheit von Aushalten von Ambivalenzen und Gesprächsbereitschaft auf Augenhöhe, hindert den notwendigen Prozess der Auseinandersetzung und verhärtet die Fronten. Manche nannten es hinterher ein Desaster, aus dem etwas Neues, Schönes entwachsen soll. Das halte ich für unwahrscheinlich.
Eine Bitte
Ich bin nicht aus irgendeiner Szene. Ich bin in ganz verschiedenen Strukturen und Kontexten organisiert, die vor allem liberal sind, und habe damit in meinem Alltag wahrlich schon genug Scherereien. Ich würde wirklich gerne davon erzählen wie schön St. Imier war und von der anarchistischen Bewegung schwärmen, doch wird mir das mit solchen Geschichten schwer gemacht. Wer will sich uns denn dann noch anschließen? Und trotz all der individual-anarchistischen Ansätze auf dem Treffen – das Ziel ist immer noch die Massen zu erreichen zu organisieren.
Macht es uns nicht schwerer, als es sowieso schon ist. Denn so gewinnen wir sicher nicht.
Foto: © Anarchie&Cello
Gemeinsam Lesen
Ich habe in St. Imier und auf dem Holzrock Festival den Text "Anarchismus und Organisation" eingelesen, den Rudolf Rocker 1921 geschrieben und im Verlag "Der freie Arbeiter" erschienen ist. Hört in Teil 1 (Öffnet in neuem Fenster) und Teil 2 (Öffnet in neuem Fenster) rein und lernt von dem Anarchosyndikalisten, der für die deutsche revolutionäre Gewerkschaftsbewegung so maßgeblich und wichtig war.
You are not alone
Sendet anarchistische Grüße an eure Liebsten, Genoss:innen und ferne Freund:innen! Mit den neuen Postkarten von Anarchie & Cello, die exklusiv von moteus und Lilian Wieser gestaltet worden sind, könnt ihr den Podcast unterstützen. Mit dem Geld kann ich die Musiker:innen und Künstler:innen auch finanziell honorieren und das Angebot ausbauen. Schaut doch mal hier (Öffnet in neuem Fenster) ob was für euch dabei ist. Es sind übrigens noch more in the making, also stay tuned <3