Der Markt soll gar nichts regeln
Von Anarchopulco bis Javier Milei – immer wieder hört man von sogenannten „Anarchokapitalisten“ oder kurz Ankaps. Was sich lange Zeit auf einige wenige rechtsextreme Wirtschaftsliberale beschränkte, scheint immer öfter eine Anziehungskraft auf immer mehr Menschen zu haben. Was also ist von Ankaps zu halten?
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Am 19. November 2023 hat sich Argentinien in der Stichwahl für Javier Milei entschieden. Unter einem fadenscheinigen und absolut falschen Verständnis von Freiheit möchte der Ultraliberale sozialstaatliche Strukturen und den öffentlichen Rundfunk privatisieren. Darüber hinaus machte er Wahlkampf mit Ansagen wie Abtreibung verbieten, den Handel mit Argentiniens wichtigsten Wirtschaftspartner China (Kommunisten!) beenden, die Zentralbank abschaffen und den Pesos durch den US-Dollar ersetzen zu wollen. Viele dieser Vorhaben werden wohl nie umgesetzt werden, da ihm die Mehrheit im Kongress fehlt. Doch der Umstand, dass die argentinische Bevölkerung einen absoluten Spinner gewählt hat, der leichtens mit Trump und Bolsonaro in einer Reihe genannt werden kann, und ein weiteres Mal zeigt wie tief wir im weltweiten konservativen Backlash drin stecken, macht es schwer ihn einfach zu ignorieren. Noch dazu bezeichnet er sich selbst als „Anarchokapitalist“. Etwas, dass bei Anarchist:innen Bauchkämpfe auslöst, hat der Begriff doch rein gar nichts mit dem Anarchismus zu tun.
Was hat das eine mit dem anderen zu tun?
Es ist schon ein Weilchen her, da hat Ewgeniy Kasakow in einer Folge von 99zu1 gesagt, dass er es nicht richtig fände zu behaupten, bestimmte Strömungen wie z.B. „Anarchokapitalismus“ hätten nichts mit Anarchismus zu tun. Er zog einen Vergleich mit dem Islam, indem er darauf hinwies, dass auch islamistische Fundamentalismen durchaus mit dem Islam zu tun hätten. Eben weil in der Ideologie so vieles angelegt sei, dass sich dann die unterschiedlichsten Auslegungen daraus ergeben könnten. Genauso würde es sich auch mit dem Anarchismus verhalten.
Ich fand das irgendwie logisch und bis vor Kurzem habe ich dieses Argument in manchen Diskussionen auch hervorgebracht. Für den Islam, aber auch das Christentum, trifft es auf jeden Fall zu. Denn habt ihr schon einmal im Koran gelesen? Die Suren sind widersprüchlich, to say the least, und die Bibel ist auch nicht viel besser. Außerdem fielen mir, nun auf den Anarchismus bezogen, einige Entwicklungen ein, die so etwas wie „Anarchokapitalismus“ hätten ermöglichen können, wie z.B. der Verlust des Kontakts der anarchistischen Bewegung zur Masse, die Überbetonung einer anti-autoritären Haltung, die mehr Selbstbezug, als kritische Analyse von Machtverhältnissen ist, und überhaupt die Dominanz eines stark individualanarchistisch ausgerichteten Verständnis von Anarchismus.
Mehr als anti-autoritär
Ich habe so meine Probleme damit Anarchismus zu sehr mit „anti-autoritär“ gleichzusetzen. Ihn einzig mit dem Adjektiv „anti-autoritär“ zu beschreiben, lässt so vieles aus, vergisst so vieles zu addressieren und ist mir letztlich auch zu einfach. Ich will nicht einfach anti-autoritär sein. Mir geht es nicht darum alle Hierarchien scheiße zu finden. Mir geht es darum alle ungerechtfertigten und erkauften Hierarchien scheiße zu finden. Mir geht es nicht darum jegliche Autorität abzulehnen. Mir geht es darum jegliche ungerechtfertigte und gekaufte Autorität abzulehnen. Ich will das Kapital abschaffen. Ich will, dass es keine Reichen mehr gibt und demzufolge auch keine Armen mehr. Ich will, dass unsere Systeme – ob Ernährung, Gesundheit, Bildung, whatever it may be – nicht auf Profite ausgerichtet ist, sondern auf den größten Nutzen für das Wohlergehen der allgemeinen Bevölkerung. Ich will, dass wir selbst über die Bedingungen entscheiden unter denen wir arbeiten. Ich will, dass jede Einzelne die eigenen Talente entfalten und erforschen kann. Ich will das Heimat für Menschen bedeutet, sich um ihr Land und die Menschen, die dort leben, zu kümmern und es zu pflegen und nicht eine erfundene Nation (militärisch) zu verteidigen. Das alles lässt sich nicht mit dem Adjektiv „anti-autoritär“ beschreiben, jedenfalls nicht für mich. Ich will das Eigentum eine ganz neue Bedeutung bekommt, dass Besitz gemeinschaftlich organisiert ist und der Rest persönliche Dinge umfasst. Dass alles frei verfügbar und außerhalb jeglicher Kapitallogik ist. Deshalb bin ich Anarchistin.
Alles nur ein Marketing-Gag?
Jedenfalls ist es grundsätzlich falsch Anarchie und Kapitalismus miteinander in Verbindung zu bringen. Und das wusste auch der Begründer des „Anarchokapitalismus“ Murray Rothbard selbst. Der US-amerikanische Ökonom betonte nämlich, dass seine Idee eines unregulierten Marktes in Kombination mit rechter Politik nichts mit Anarchismus zu tun habe.
Ich rate, aber die Tatsache, dass er das Präfix „Anarcho“ wählte, um seinen ultrarechten Wirtschaftsliberalismus zu formulieren, wird wohl dem Umstand geschuldet sein, dass er diesen vor allem mit „anti-autoritär“ gleichsetzte sowie seiner Kritik am Staat. Letztlich handelt es sich dabei vermutlich auch nur um einen Marketing-Gag, „Anarcho“ klingt halt nach Rebellion und Umsturz. Er hätte ja auch einfach einen Begriff wählen können, der besser beschreibt, um was es geht: Fascholiberalismus oder rechtsextremer Ultraliberalismus.
Eine Gesellschaft wie ein Markt
Denn der rechtsextreme Ultraliberalismus will alle gesellschaftlichen Funktionen, die der Staat übernimmt, privatisieren. Die Gesellschaft soll nach Logik des Marktes organisiert werden. Das heißt, unsere Beziehungen zueinander sollen Handels-, Kauf- und Konsumbeziehungen von rationalen, autonomen (männlichen) Individuen sein. Bliebe eine staatliche Struktur übrig, dann wäre sie minimal und einzig dafür zuständig das Privatrecht zu schützen. Einzig und allein die individuelle Freiheit ist von Interesse. Gemeinschaftliche Organisation spielt keine Rolle. Wird sie doch notwendig, so soll sie von privaten Dienstleistern übernommen werden. Eine Gesellschaft, die letztlich auf Leistung und maximaler Konkurrenz beruht. (Wo da Frauen und FLINTA*, Reproduktions- und Sorgearbeit in der Rechnung auftauchen, bleibt ohne Verwunderung offen.)
Allein dadurch lässt sich bereits noch deutlicher erkennen, warum Anarchie und Kapitalismus ein Widerspruch ist. Kapitalismus ist sexistisch, rassistisch, ableistisch und exktraktivistisch, d.h. grundlegend hierarchisch. Es kann und wird keine Gleichheit geben, im Sinne von allen Menschen ähnliche Startbedingungen und Wege der persönlichen Entwicklung bieten. Ultraliberale argumentieren außerdem gerne mit Selbstbestimmung und Freiwilligkeit. Aber in einem System, das auf Ungleichheit aufbaut, um Profite zu erzielen, kann es keine echte Autonomie und Freiwilligkeit geben. Wenn du nicht genügend Geld hast, ist die Möglichkeit selbstbestimmt über deinen Körper zu entscheiden gering. Wenn du nicht genügend Geld hast, sind die meisten deiner Entscheidungen nicht freiwillig, sondern notwendig.
Der Kapitalismus basiert auf einer zerstörerischen Ideologie des Todes. Zu behaupten, es könnte im Kapitalismus so etwas wie „unschuldiges, nicht kriminelles Privateigentum“ geben, so wie es Murray Rothbard tat, ist einfach falsch. Die Gesellschaft nach der Logik des Marktes zu organisieren, bedeutet, das Gesetz des Stärkeren einzusetzen. Und wer anderer ist der Stärkere, als der mit den besten Startbedingungen, den meisten Ressourcen, dem Kapital?
Was heißt hier Befreiung?
Das hat rein gar nichts mit der Idee des Anarchismus zu tun, der seine Ursprünge im Sozialismus hat und ein besseres Leben für alle, ohne Konkurrenz, ohne Unterdrückung und ohne Ausbeutung will. Ein revolutionärer Anarchismus will die Wirtschaft gemeinnützig organisieren und Privateigentum abschaffen, sodass grundlegende Bedürfnisse wie Wasser, Essen, Wohnen für alle frei zugänglich sind und wir alle nur noch so viel arbeiten wie nötig (oder einzelne möchten). Der Markt soll gar nichts regeln. Ein revolutionärer Anarchismus will die Gesellschaft demokratisch und dezentral organisieren, sodass alle, die wollen, Teil des Entscheidungsprozesses sein können. Was und wie viel wir produzieren orientiert sich an den tatsächlichen Bedürfnissen und an den limitierten Ressourcen, die wir auf diesem Planeten vorfinden. Der Staat soll mitsamt des Privateigentums abgeschafft werden, weil er eine sexistische und rassistische Zwangsinstitution ist, die die Eigentumsverhältnisse nicht nur schützt, sondern sogar verschlimmert. Wenn aber nur der Staat und die Regierung abgeschafft werden sollen, um Hierarchien abzubauen, das Kapital allerdings erhalten bleibt, von was für einer Befreiung sprechen wir dann? Richtig, von gar keiner!
Letztlich will ein revolutionärer Anarchismus das Individuum mit dem Kollektiv harmonisieren. Wir wollen weder das Diktat der Gemeinschaft noch den Egotrip des Individuums.
Es ist also in gewisser Weise ein Pech, dass in einer Zeit wie der heutigen, in der der soziale, organisierte Anarchismus dergleich geschwächt ist, andere Ideologien, die „Anarch“ im Namen tragen mehr Aufmerksamkeit bekommen und die Falschinformation über den Anarchismus noch weiter verschärfen. Gerade überwiegt die Anstrengung sich nach allen Seiten hin abgrenzen zu müssen. Es muss uns also gelingen, den sozialen, organisierten Anarchismus zur dominanten Erzählung zu machen.
Foto: © Anarchie&Cello
Zum Weiterlesen
In einer gemeinsamen Erklärung haben vier anarchistische Organisationen in unterschiedlichen Teilen des Landes ihren Blick auf die Wahl Mileis und den Weg vorwärts skizziert. Die Plattform hat ihren Text „Was nun? – Argentinische Anarchist:innen zum Wahlsieg von Milei“ (Öffnet in neuem Fenster) ins Deutsche übersetzt und mit vielen Anmerkungen versehen, um den Kontext vor Ort verständlich zu machen.
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