Physiologische Marker bei ADHS: Revolution oder allgemeine Stressindikatoren?
Kann man “objektive” Marker der Stressverarbeitungsstörung bei ADHS beschreiben?
Die Hoffnung, ADHS mit objektiven Markern diagnostizieren zu können, begleitet die Forschung seit Jahren. Eine aktuelle Studie, veröffentlicht in Frontiers in Psychiatry, untersucht physiologische Parameter wie Herzfrequenzvariabilität (HRV), elektrodermale Aktivität (EDA) und Atemfrequenz, um ein Modell zu entwickeln, das ADHS-Kinder von neurotypischen Gleichaltrigen unterscheidet. Die Ergebnisse scheinen vielversprechend – doch eine kritische Auseinandersetzung zeigt, dass der Weg zu diagnostischen Biomarkern noch weit ist.
Untersuchungsaufbau im Detail: Wer wurde untersucht?
Teilnehmer:
69 Kinder mit ADHS, zwischen 7 und 12 Jahren, die keine Medikamente einnahmen.
29 neurotypische Kinder (Vergleichsgruppe), mit ähnlichen soziodemografischen Merkmalen, aber einem höheren Anteil an Mädchen (62 % vs. 26 % in der ADHS-Gruppe).
Methoden:
Die Studie untersuchte physiologische Parameter in zwei Zuständen:
Ruhezustand (Baseline): Die Kinder waren entspannt, mit offenen Augen.
Stresstest: Die Kinder führten aufmerksamkeitsfordernde Computeraufgaben durch (CPT-3 für die ADHS-Gruppe und CSAT-R für die Vergleichsgruppe).
Gemessen wurden:
HRV: Ein Maß für die Variabilität des Herzschlags (Indikator für emotionale Regulation).
EDA: Hautleitfähigkeit, beeinflusst durch die Aktivierung des sympathischen Nervensystems.
Atmung und Hauttemperatur: Ergänzende Parameter für die Stressreaktion.
Ziel: Ein Modell zur Unterscheidung von ADHS- und neurotypischen Kindern anhand dieser physiologischen Parameter zu entwickeln.
Zentrale Ergebnisse: Allgemeine und spezifische Veränderungen
1. Basale Unterschiede im Ruhezustand
Die ADHS-Gruppe zeigte:
Erhöhte HRV: Ein scheinbares Paradoxon, da höhere HRV oft mit besserer emotionaler Regulation assoziiert wird. Die Autoren interpretieren dies als Zeichen eines abnormalen hypoerregten Zustands bei ADHS.
Niedrigere EDA: Sowohl die tonische (langsame) als auch die phasische (schnelle) Aktivität waren bei ADHS-Kindern reduziert, was auf eine hypoerregte sympathische Aktivität hinweist.
Höhere Hauttemperatur: ADHS-Kinder hatten im Durchschnitt 2,3 °C höhere Temperaturen als die Vergleichsgruppe.
2. Unterschiede bei der Stressreaktion
EDA: Unter Stress zeigte die ADHS-Gruppe stärkere Veränderungen in der tonischen und phasischen EDA, was auf eine verzögerte, aber stärkere emotionale Erregung hindeutet.
Atemfrequenz: Die Atmung der ADHS-Kinder war weniger stabil, mit höherer Frequenz und geringerer Amplitude.
Temperatur: Während neurotypische Kinder eine Abkühlung der Peripherie zeigten, blieb die Temperatur bei ADHS-Kindern stabil oder stieg sogar leicht an.
3. Modell zur ADHS-Diagnostik
Das entwickelte Modell, das HRV, EDA und Atemfrequenz kombiniert, erreichte:
85,5 % Genauigkeit
85,7 % Sensitivität (korrekte Identifikation von ADHS-Kindern)
85,2 % Spezifität (korrekte Identifikation neurotypischer Kinder)
AUC von 0,95 (hervorragende Trennfähigkeit).
Was wurde genau gemessen?
a) Herzfrequenzvariabilität (HRV):
Die HRV misst die zeitliche Variation zwischen Herzschlägen und gibt Hinweise auf die Aktivität des autonomen Nervensystems (ANS). Zwei Hauptaspekte wurden untersucht:
Zeit-Domäne-Parameter: z. B. SDNN (Standardabweichung der Abstände zwischen aufeinanderfolgenden Herzschlägen) und RMSSD (Quadratwurzel der mittleren quadratischen Unterschiede der Herzschlagabstände). Beide Marker reflektieren parasympathische Aktivität und damit die Fähigkeit zur Erholung.
Frequenz-Domäne-Parameter: z. B. LF/HF-Ratio, ein Indikator für das Gleichgewicht zwischen sympathischem („Kampf oder Flucht“) und parasympathischem („Ruhe und Verdauen“) System.
b) Elektrodermale Aktivität (EDA):
Die EDA erfasst die elektrische Leitfähigkeit der Haut, die durch Schweißdrüsenaktivität (Sympathikus) beeinflusst wird. Sie wird unterteilt in:
Tonische EDA: Langsam ansteigende Werte, die den allgemeinen Erregungszustand widerspiegeln.
Phasische EDA: Schnelle Reaktionen auf spezifische Reize, wie Stress oder Aufmerksamkeit.
c) Atemfrequenz und Stabilität:
Die Atemfrequenz wurde als Marker für Stressreaktionen genutzt. Ein stabiler Atemrhythmus ist ein Zeichen für effektive Selbstregulation.
d) Hauttemperatur:
Gemessen wurden Temperaturveränderungen in der Peripherie (Finger) und im Gesicht. Temperaturveränderungen sind ein Zeichen für die Umverteilung des Blutflusses unter sympathischer Kontrolle.
Wurde eine Veränderung unter Medikation untersucht?
Nein, die Studie untersuchte ausschließlich unbehandelte Kinder (treatment-naïve).
Die Autoren schlossen medikamentierte Kinder bewusst aus, um die Wirkung der Medikation nicht als Störfaktor in die Ergebnisse einfließen zu lassen. Dies hat den Vorteil, dass die physiologischen Parameter „rein“ sind und nicht durch Substanzen wie Methylphenidat (z. B. Ritalin) oder Amphetamine beeinflusst werden.
Was weiß man aus der Forschung über Medikation und physiologische Parameter?
HRV: Medikamente wie Methylphenidat senken häufig die HRV, indem sie die sympathische Aktivierung erhöhen und die parasympathische Aktivität unterdrücken.
EDA: Stimulanzien steigern die EDA, was auf eine verbesserte Reaktion auf kognitive Anforderungen hindeutet.
Kritische Reflexion der Studie
1. Sind die Ergebnisse spezifisch für ADHS?
Viele der beobachteten Veränderungen könnten auch bei anderen neuropsychiatrischen Störungen auftreten, z. B. Angststörungen, Depressionen oder chronischem Stress. Dies reduziert die Spezifität der Ergebnisse.
2. Methodische Schwächen:
Unterschiedliche Stresstests (CPT-3 und CSAT-R) erschweren den direkten Vergleich.
Kleine Stichprobengröße und unausgewogenes Geschlechterverhältnis.
3. Fehlende Langzeitdaten:
Es bleibt unklar, ob die beobachteten Veränderungen stabil sind oder sich im Verlauf ändern.
Zukunftsperspektive: Was braucht es für objektive Marker?
Integration von Medikation: Zukünftige Studien sollten untersuchen, wie sich Medikamente auf physiologische Parameter auswirken und ob sich daraus prädiktive Marker für Therapieerfolg ableiten lassen.
Langzeitbeobachtungen: Um die Stabilität der physiologischen Unterschiede zu prüfen, sollten Kinder über mehrere Jahre hinweg beobachtet werden.
Vergleich mit anderen Störungen: Nur durch den Vergleich mit anderen neuropsychiatrischen Diagnosen können spezifische Marker für ADHS identifiziert werden.
Fazit: Wichtige Erkenntnisse, aber noch kein Durchbruch
Die Studie liefert wertvolle Hinweise auf physiologische Unterschiede bei ADHS-Kindern, jedoch ohne klare Spezifität oder Anwendbarkeit in der Diagnostik. Die Entwicklung objektiver Marker bleibt ein ambitioniertes Ziel, das weitere Forschung erfordert – idealerweise mit Berücksichtigung von Medikation und Langzeitdaten.
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LG Martin
Quelle: Castro Ribeiro, T., García Pagès, E., Huguet, A., Alda, J. A., Badiella, L., & Aguiló, J. (2024). Physiological parameters to support attention deficit hyperactivity disorder diagnosis in children: A multiparametric approach. Frontiers in Psychiatry, 15:1430797. doi: 10.3389/fpsyt.2024.1430797 (Öffnet in neuem Fenster)