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ADHS-Diagnostik endlich vereinfachen: Wie Hausärzt*innen den Weg zur Diagnose verkürzen können

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Heute schauen wir uns an, wie wir die Diagnostik von ADHS bei Erwachsenen in Deutschland verbessern können – aus einer pragmatischen Perspektive und ganz im Sinne der Betroffenen selbst. Denn eins steht fest: Viele neurodivergente Menschen brauchen unkomplizierte, schnelle und zugängliche Hilfe. Der aktuelle Fachartikel zeigt einen Ansatz, der in einer Hausarztpraxis umgesetzt wurde – und liefert uns einige Anhaltspunkte, wie wir das auch hier bei uns realisieren könnten.

Aktuelle Herausforderungen bei der ADHS-Diagnostik in Deutschland

Die Situation in Deutschland ist bekanntermaßen schwierig: Erwachsene, die den Verdacht haben, an ADHS zu leiden, müssen häufig monatelang auf einen Termin zur Diagnostik warten. Besonders in ländlichen Regionen sind Fachärztinnen für Psychiatrie und spezialisierte Psychotherapeutinnen oft rar. Dieses Versorgungsproblem führt zu viel Leid und Frustration bei den Betroffenen. Sie bleiben lange ohne die nötige Klarheit und ohne die Unterstützung, die sie benötigen.

Ein pragmatischer Ansatz, der in den USA erfolgreich angewandt wird, könnte hier eine große Verbesserung bewirken: Die Integration der ADHS-Diagnostik in die Hausarztpraxis. Hausärzt*innen könnten mit einer strukturierten Vorgehensweise bereits einen großen Teil der diagnostischen Arbeit leisten, bevor eine weitere Abklärung durch spezialisierte Fachleute nötig wird. Genau diesen Ansatz beschreibt der Fachartikel "Adult ADHD Diagnosis in a Family Medicine Clinic".

Ein strukturierter Ablauf zur ADHS-Diagnostik

In der beschriebenen Hausarztpraxis wurde ein zweistufiges Verfahren etabliert, das die Diagnostik für Erwachsene mit Verdacht auf ADHS erheblich beschleunigt hat. In Deutschland könnte ein ähnliches Modell helfen, die langen Wartezeiten zu reduzieren und eine frühere Behandlung zu ermöglichen.

Der Prozess begann mit einem ersten Termin, bei dem Screening-Instrumente für ADHS und mögliche Komorbiditäten eingesetzt wurden. Diese Instrumente umfassen:

  • ASRS-v1.1 (ADHS-Screening für Erwachsene)

  • PHQ-9 (Depressions-Screening)

  • Rapid Mood Screener (Bipolare Störungen)

  • GAD-7 (Angststörungen)

  • TAPS Teil 1 (Substanzgebrauch)

  • Epworth Sleepiness Scale (Schlafapnoe)

Diese Fragebögen wurden von den Patient*innen selbst ausgefüllt, und das Personal der Praxis übernahm die Auswertung. Anschließend folgte ein Gespräch mit der Hausärztin oder dem Hausarzt, um die Symptome und etwaige andere psychische Belastungen zu besprechen. Bei Verdacht auf ADHS wurde ein zweiter Termin vereinbart, bei dem eine ausführliche Diagnostik mittels des DIVA-5 (Diagnostic Interview for ADHD in Adults) stattfand.

Ein neuer Screening-Fragebogen für ADHS im Erwachsenenalter

Um die Besonderheiten von ADHS im Erwachsenenalter noch besser zu erfassen, habe ich einen eigenen Screening-Fragebogen entwickelt, der über das ASRS hinausgeht und stärker auf funktionale Besonderheiten eingeht. Dieser Fragebogen konzentriert sich auf Alltagssituationen, in denen Erwachsene mit ADHS typische Herausforderungen erleben. Ziel ist es, nicht nur Symptome zu erfassen, sondern auch zu verstehen, wie ADHS das tägliche Leben beeinflusst. Der Fragebogen umfasst folgende Bereiche:

Screening-Fragebogen für ADHS im Erwachsenenalter

1. Organisation des Alltags

  • Haben Sie Schwierigkeiten, Ihre täglichen Aufgaben zu priorisieren, sodass wichtige Dinge oft vergessen oder aufgeschoben werden? (Ja/Nein)

  • Fühlen Sie sich oft überfordert, wenn Sie versuchen, Ihren Alltag zu strukturieren? (Ja/Nein)

2. Emotionale Regulation

  • Haben Sie häufig das Gefühl, dass Ihre Emotionen „hochkochen“, ohne dass ein klarer Auslöser vorhanden ist? (Ja/Nein)

  • Fällt es Ihnen schwer, in stressigen Situationen ruhig und gelassen zu bleiben? (Ja/Nein)

3. Zeitmanagement und Pünktlichkeit

  • Kommen Sie häufig zu spät zu Terminen oder verpassen Sie Fristen, weil Sie Schwierigkeiten haben, die Zeit im Blick zu behalten? (Ja/Nein)

  • Neigen Sie dazu, Aufgaben bis zur letzten Minute aufzuschieben, selbst wenn diese wichtig sind? (Ja/Nein)

4. Aufrechterhaltung von Aufmerksamkeit

  • Haben Sie Schwierigkeiten, bei längeren Aufgaben oder Gesprächen konzentriert zu bleiben, insbesondere wenn diese wenig Interesse wecken? (Ja/Nein)

  • Verlieren Sie häufig den Faden in Gesprächen oder vergessen Details, die Ihnen gesagt wurden? (Ja/Nein)

5. Impulsivität im Alltag

  • Treffen Sie oft impulsive Entscheidungen, die Ihnen im Nachhinein problematisch erscheinen? (Ja/Nein)

  • Unterbrechen Sie andere häufig in Gesprächen, weil es Ihnen schwerfällt, Ihre Gedanken zurückzuhalten? (Ja/Nein)

6. Soziale Interaktionen

  • Fühlen Sie sich oft missverstanden in sozialen Situationen, weil Sie die Reaktionen anderer Menschen schwer einschätzen können? (Ja/Nein)

  • Haben Sie Schwierigkeiten, Freundschaften aufrechtzuerhalten, weil Sie sich durch Konflikte oder Missverständnisse überfordert fühlen? (Ja/Nein)

7. Berufliche Herausforderungen

  • Haben Sie Probleme, Ihre Aufgaben am Arbeitsplatz zu organisieren und priorisieren, sodass Sie oft in Zeitdruck geraten? (Ja/Nein)

  • Fühlen Sie sich häufig abgelenkt durch Kollegen oder Umgebungseinflüsse, was Ihre Produktivität beeinträchtigt? (Ja/Nein)

Dieser Screening-Fragebogen soll den Hausärzt*innen eine bessere Einschätzung ermöglichen, ob es sinnvoll ist, eine ausführlichere Diagnostik einzuleiten. Im Gegensatz zu vielen Standard-Fragebögen fokussiert er auf funktionale Einschränkungen und die spezifischen Probleme, die Erwachsene mit ADHS im täglichen Leben erfahren.

Warum dieses Modell funktioniert

Der Clou bei diesem Ansatz ist die Kombination aus Standardisierung und individueller Begleitung. Im ersten Schritt wird klar strukturiert und effizient gescreent, um herauszufinden, ob eine ADHS-Diagnose überhaupt wahrscheinlich ist. Durch die Nutzung standardisierter Fragebögen können viele Informationen gesammelt werden, die dann im persönlichen Gespräch vertieft werden. Dies spart Zeit und Ressourcen.

Beim zweiten Termin erfolgt dann eine ausführliche Abklärung mit dem DIVA-5, einer strukturierten Befragung, die speziell für die Diagnostik von ADHS im Erwachsenenalter entwickelt wurde. Die Patient*innen haben die Möglichkeit, das DIVA-5 bereits zuhause durchzugehen und mit eigenen Anmerkungen zu versehen. Dies erleichtert die Gesprächsstruktur im zweiten Termin und führt zu einer umfassenden Diagnose.

Diese Vorgehensweise ermöglicht es, die Zeit von der ersten Konsultation bis zur Behandlung erheblich zu verkürzen. Laut dem Artikel konnte der Zeitraum bis zur medikamentösen Behandlung von ADHS von durchschnittlich 20-56 Wochen auf etwa 3-4 Wochen verkürzt werden – ein enormer Fortschritt.

Pragmatismus in der deutschen Versorgung: Wie es besser gehen könnte

Wie könnten wir diesen Ansatz in Deutschland umsetzen? Hier einige konkrete Ideen:

  1. Hausärzt*innen weiterbilden: Viele Hausärztinnen sind mit ADHS im Erwachsenenalter nicht vertraut. Durch gezielte Fortbildungen, zum Beispiel in Form von Schulungen durch Psychiaterinnen, könnte das Wissen über ADHS und seine Diagnose erweitert werden.

  2. Standardisierte Fragebögen nutzen: Die beschriebenen Screening-Instrumente sind teilweise bereits auf Deutsch verfügbar und könnten leicht in den Praxisalltag integriert werden. Diese könnten Patient*innen bereits im Wartezimmer oder online vor dem Besuch ausfüllen.

  3. Verkürzte Wartezeiten durch gemeinsame Verantwortung: Durch eine enge Zusammenarbeit zwischen Hausarztpraxen und Fachärztinnen könnten unkomplizierte Fälle schneller diagnostiziert und behandelt werden. Hausärztinnen könnten die erste Einschätzung übernehmen, während komplexe Fälle weiterhin in die Hände von Spezialist*innen gegeben werden.

  4. Nutzung von telemedizinischen Angeboten: Um Wartezeiten und regionale Versorgungslücken zu überbrücken, könnte auch die Telemedizin eine Rolle spielen. Diagnostische Gespräche über Videochat könnten flexiblere und schnellere Lösungen bieten.

Fazit

Eine bessere Diagnostik für Erwachsene mit ADHS in Deutschland ist möglich – und zwar ohne große Reformen oder Ressourcenaufwand. Was es braucht, sind pragmatische Ansätze, wie sie im beschriebenen Fachartikel umgesetzt wurden: eine bessere Schulung der Hausärzt*innen, die Integration standardisierter Fragebögen in den Alltag und die Möglichkeit, unkomplizierte Fälle bereits auf hausärztlicher Ebene zu diagnostizieren und zu behandeln.

Es ist an der Zeit, die Diagnostik von ADHS erwachsener Menschen einfacher, schneller und zugänglicher zu gestalten. Denn jeder Monat ohne eine klare Diagnose ist ein Monat zu viel – für die Betroffenen und ihre Lebensqualität.

LG Martin 🧠💡🌈👥🤧✨ὑ7https://steadyhq.com/de/adhsspektrum/ (Öffnet in neuem Fenster)

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Quelle: Heltemes, R., et al. (2024). "Adult ADHD Diagnosis in a Family Medicine Clinic". Annals of Family Medicine, 22(6), 568. https://doi.org/10.1370/afm.3178 (Öffnet in neuem Fenster)

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