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ADHS und Unaufmerksamkeit neurobiologisch verstehen

ADHS und das Default Mode Network: Wie sich die beiden Typen unterscheiden

Warum sind einige Menschen mit ADHS impulsiver als andere? Und welche Formen von "Unaufmerksamkeit" bzw. Aufmerksamkeitsproblemen gibt es ?



Wie viele meiner Klienten interessiere ich mich stark dafür, was da eigentlich neurobiologisch in meinem "Kopf" vorgehen könnte. Vermutlich schon seit der Kindheit haben mit Leute wie Oliver Sacks und neurobiologische Grundlagen von Handeln und Denken in den Bann gezogen. Auch wenn die Ergebnisse nicht immer einheitlich und sofort eingänglich sind, verfolge ich sie mit anhaltender Begeisterung. Das führt vielleicht dazu, dass du hier häufiger was zu meinem Sonderinteresse Default-Mode-Network lesen "musst" oder darfst - wie man es auch immer sieht. 

Eine neue Studie zeigt, dass die Unterschiede zwischen den zwei Haupttypen von ADHS - dem kombinierten (ADHS-C) und dem unaufmerksamen Typ (ADHS-I) - auf Unterschiede im Gehirnnetzwerk beruhen. Diese Erkenntnisse könnten erklären, warum Menschen mit diesen ADHS-Typen oft unterschiedliche Symptome zeigen und helfen, gezieltere Behandlungsstrategien zu entwickeln.

Was ist das Default Mode Network? Das Default Mode Network (DMN, ein Netzwerk im Gehirn, das in Ruhephasen aktiv ist und für Selbstreflexion, Tagträume und die Verarbeitung von Erinnerungen zuständig ist) ist ein Gehirnnetzwerk, das aktiv wird, wenn wir uns entspannen oder Tagträumen nachhängen. Bei Menschen mit ADHS wird dieses Netzwerk häufig individuell anders reguliert, was dazu führt, dass sie Schwierigkeiten haben, sich zu konzentrieren oder von Gedanken abzuschalten, wenn es notwendig ist. Die aktuelle Forschung zeigt nun, dass dieses Netzwerk besonders im kombinierten ADHS-Typ (ADHS-C) betroffen ist.

Wie unterscheidet sich die Konnektivität (Verbindung und Kommunikation zwischen verschiedenen Gehirnbereichen) im Gehirn? Die Studie hat gezeigt, dass Menschen mit ADHS-C eine reduzierte Verbindung innerhalb des Default Mode Networks haben, insbesondere zwischen den vorderen und hinteren Bereichen dieses Netzwerks. Das bedeutet, dass diese Personen Schwierigkeiten haben könnten, den Fokus zwischen inneren Gedanken und äußeren Aufgaben zu wechseln, was sie impulsiver macht und zu größerer Ablenkbarkeit führt.

Interessanterweise war diese Reduktion der Konnektivität bei Menschen mit dem unaufmerksamen Typ (ADHS-I) weniger ausgeprägt, was zunächst überraschend erscheint, da man erwarten würde, dass gerade bei der unaufmerksamen Präsentation von ADHS solche Probleme dominieren. Dies deutet jedoch darauf hin, dass ihre Aufmerksamkeitsprobleme eher auf andere neuronal (die Nervenzellen bzw. das Nervensystem betreffend)e Mechanismen zurückzuführen sind. Die Forscher fanden auch Unterschiede in den Verbindungen des DMN mit anderen Netzwerken, wie dem somatomotorischen Netzwerk (zuständig für die Steuerung von Bewegungen und die Verarbeitung von Körperwahrnehmungen), was für die herausfordernde Bewegungssteuerung und Impulsivität bei ADHS-C verantwortlich sein könnte.

Alltagsbeispiele: Zwei Klienten und ihre Herausforderungen

Um die Unterschiede zwischen den beiden ADHS-Typen besser zu verstehen, betrachten wir zwei Klienten, Anna und Ben, die jeweils unterschiedliche Symptome und Alltagsprobleme haben.

Anna (ADHS-C): Anna ist 35 Jahre alt und arbeitet als Projektmanagerin in einer großen Firma. Sie hat ADHS vom kombinierten Typ (ADHS-C). Annas Alltag ist geprägt von ständiger Ablenkung und Impulsivität. Im Büro fällt es ihr schwer, sich auf eine Aufgabe zu konzentrieren, da sie immer wieder von inneren Gedanken und äußeren Reizen abgelenkt wird. Wenn sie beispielsweise eine E-Mail schreibt, verliert sie oft den Faden, weil ihr plötzlich eine andere Aufgabe in den Sinn kommt. Diese Schwierigkeit, zwischen Gedanken und Aufgaben zu wechseln, hängt mit der reduzierten Konnektivität innerhalb des Default Mode Networks, also die Verbindung zwischen den einzelnen Gehirnbereichen, die dieses Netzwerk bilden zusammen, wie die Studie gezeigt hat.

Anna berichtet, dass sie auch in sozialen Situationen impulsiv reagiert. Wenn sie in Meetings ist, platzt sie oft mit Ideen heraus, ohne die anderen ausreden zu lassen. Diese Impulsivität führt zu Missverständnissen mit Kollegen, die Annas Verhalten manchmal falsch interpretieren. Die veränderte Verbindung des DMN mit anderen Gehirnnetzwerken, wie dem somatomotorischen Netzwerk, erklärt ihre Schwierigkeiten, ihre motorischen und verbalen Reaktionen zu kontrollieren.

Praktisch bedeutet dies, dass Anna von Therapieansätzen profitieren könnte, die gezielt darauf abzielen, die Regulation des Default Mode Networks zu verbessern. Techniken wie Achtsamkeitstraining (Übungen, die helfen, im Moment präsent zu bleiben und gedankliche Ablenkungen zu reduzieren) oder spezielle Atemübungen könnten ihr helfen, impulsive Reaktionen besser zu kontrollieren und sich gezielt zu fokussieren, wenn es darauf ankommt.

Ben (ADHS-I): Ben ist 28 Jahre alt und arbeitet als Softwareentwickler. Er hat ADHS vom unaufmerksamen Typ (ADHS-I). Bens Hauptproblem ist seine geringe Fähigkeit, aufmerksam zu bleiben, insbesondere bei Aufgaben, die ihm langweilig erscheinen. Während seiner Arbeit verliert er oft die Konzentration und findet sich plötzlich dabei wieder, im Internet zu surfen oder sich gedanklich in Tagträumen zu verlieren. Anders als bei Anna ist die Konnektivität des Default Mode Networks bei Ben weniger stark reduziert, was darauf hindeutet, dass seine Probleme nicht primär auf eine individuelle Regulation dieses Netzwerks zurückzuführen sind.

Ben hat weniger Probleme mit Impulsivität, aber er erlebt oft eine Art „mentale Herausforderungen bei der Aktivierung“. Er beschreibt, dass es sich anfühlt, als ob sein Gehirn in einen Leerlauf schaltet, besonders wenn er Routineaufgaben erledigen muss. Diese Schwierigkeit könnte mit anderen neuronalen Mechanismen zusammenhängen, die bei ADHS-I eine Rolle spielen, wie etwa eine ineffiziente Verbindung zu den Aufmerksamkeitsnetzwerken (Gehirnstrukturen, die für die Steuerung und Aufrechterhaltung der Aufmerksamkeit zuständig sind).

Für Ben könnten Behandlungsansätze hilfreich sein, die darauf abzielen, seine Fähigkeit zur Aufmerksamkeitssteuerung (Fähigkeit, die eigene Aufmerksamkeit bewusst zu lenken und aufrechtzuerhalten) zu verbessern. Techniken wie kognitive Verhaltenstherapie (CBT, eine Form der Psychotherapie, die darauf abzielt, negative Gedankenmuster zu erkennen und zu ändern), die gezielt Strategien zur Fokussierung vermittelt, oder strukturierte Arbeitsmethoden wie Timeboxing (eine Methode, bei der man für bestimmte Aufgaben feste Zeitfenster einplant, um die Produktivität zu erhöhen) könnten Ben helfen, seine Aufmerksamkeit besser zu steuern und Ablenkungen zu minimieren.

Was bedeutet das für die Behandlung von ADHS? Diese neuen Erkenntnisse sind von großer Bedeutung, da sie helfen, spezifischere Behandlungsansätze für die beiden ADHS-Typen zu entwickeln. Zum Beispiel könnten Menschen mit ADHS-C von Interventionen profitieren, die gezielt auf die Regulierung des Default Mode Networks abzielen, um die Kontrolle über impulsive Reaktionen zu verbessern. Für Menschen mit ADHS-I könnte hingegen ein Fokus auf die Verbesserung der Aufmerksamkeitsfähigkeiten durch andere Netzwerkverbindungen sinnvoller sein.

Die Forschung zeigt somit, dass ADHS nicht nur eine Frage von Verhaltensauffälligkeiten ist, sondern tief in der Konnektivität des Gehirns - also den neuronalen Netzwerkstrukturen -  verwurzelt liegt. Menschen mit dem kombinierten ADHS-Typ haben deutliche Unterschiede in der Konnektivität ihres Default Mode Networks im Vergleich zu unaufmerksamen ADHS-Typen und gesunden Kontrollpersonen. Diese Erkenntnisse könnten dazu beitragen, personalisierte Therapieansätze zu entwickeln und die Lebensqualität der Betroffenen zu verbessern.

Zusammenfassung der Unterschiede zwischen den ADHS-Typen Der unaufmerksame ADHS-Subtyp (ADHS-I) unterscheidet sich vom kombinierten Typ (ADHS-C) in mehreren wesentlichen Punkten. Bei ADHS-C ist die Konnektivität innerhalb des Default Mode Networks deutlich reduziert, was zu Schwierigkeiten beim Wechsel zwischen inneren Gedanken und äußeren Aufgaben führt. Dies trägt zur stärkeren Impulsivität und Ablenkbarkeit bei. Menschen mit ADHS-I hingegen haben weniger ausgeprägte Probleme in der DMN-Konnektivität, jedoch andere Herausforderungen, insbesondere im Bereich der Aufmerksamkeitssteuerung, was oft zu „mentaler Trägheit“ bei Routineaufgaben führt. Diese Unterschiede erfordern angepasste Behandlungsansätze, um die jeweiligen Symptome effektiv zu adressieren.

Unabhängige Form der Aufmerksamkeitsproblematik: Cognitive Disengagement Syndrome (Sluggish Cognitive Tempo) Neben den beiden bekannten ADHS-Subtypen gibt es noch eine davon unabhängige Form der Aufmerksamkeitsproblematik, die als Cognitive Disengagement Syndrome (CDS) oder Sluggish Cognitive Tempo (SCT) bezeichnet wird. Menschen mit SCT erleben häufig eine Art „geistigen Leerlauf“, der mit langsamen Denkprozessen, Tagträumen und Schwierigkeiten beim Starten von Aufgaben verbunden ist. Anders als bei ADHS-I sind die Symptome hier eher durch Passivität und verlangsamte Reaktionen geprägt, was oft zu Missverständnissen führen kann, da Betroffene als unmotiviert oder desinteressiert wahrgenommen werden.

Es wird vermutet, dass bei SCT ebenfalls spezifische neuronale Mechanismen beteiligt sind, die sich von den bei ADHS-C und ADHS-I betroffenen Netzwerken unterscheiden. Die Herausforderungen für Menschen mit SCT erfordern ebenfalls spezielle Behandlungsansätze, die darauf abzielen, die Aktivierung des Gehirns zu unterstützen und langsame Denkprozesse zu überwinden.

Wie kann diese Erkenntnis helfen? Wenn Du oder jemand, den Sie kennen, mit ADHS zu tun haben, könnten diese Forschungsergebnisse ein Hinweis darauf sein, dass es nicht nur eine allgemeine Therapie gibt, die für alle passt. Lass Sie dich von spezialisierten Fachkräften beraten, welche Therapieansätze basierend auf der genauen ADHS-Diagnose und deren Typ am besten helfen könnten.

Quelle Saad, J. F., Griffiths, K. R., Kohn, M. R., Braund, T. A., Clarke, S., Williams, L. M., & Korgaonkar, M. S. (2022). Intrinsic Functional Connectivity in the Default Mode Network Differentiates the Combined and Inattentive Attention Deficit Hyperactivity Disorder Types. Frontiers in Human Neuroscience, 16. https://doi.org/10.3389/fnhum.2022.859538 (Öffnet in neuem Fenster)

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