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Das Risiko, frei zu sein

Einige Wildgänse fliegen über einen Bauernhof und treffen auf Hausgänse. Sie rufen ihnen zu: „Kommt! Fliegt mit uns!“ Die Hausgänse antworten: „Warum? Uns geht es doch gut hier.“ Die Wildgänse erwidern: „Ja, euch geht es gut. Aber seid ihr auch frei?“

FREIHEIT. Was soll das überhaupt heißen? Das ist einer dieser Begriffe, dessen Bedeutung eigentlich jeder und gleichzeig niemand kennt. Etwas, das man für sich selbst definiert. Die Vorstellung von Freiheit ist ein maßgeschneiderter Anzug, der nur mir passt. Vor der Pandemie habe ich nie wirklich über meine Beziehung zur Freiheit nachgedacht. Hätte mir jemand damals die Frage gestellt, ob ich frei bin, hätte ich ohne zu zögern mit ‚Ja‘ geantwortet. Das war für mich immer eine Schwarz-Weiß-Frage, bei der ich sofort an Unterdrückung oder Kriminalität gedacht habe. An eingesperrt sein oder nicht eingesperrt sein. Auch meine Einstellung zur Freiheit ist wie so vieles eine Erziehungssache. Diesmal ist es aber nicht nur Angelegenheit von Mutter und Vater. Es ist viel mehr als das. Es ist eine gesellschaftliche Erziehung.

Neben dem ganzen Hass und der Spaltung hat mir an den USA immer am meisten Angst gemacht, dass man so tief fallen kann. Innerhalb kürzester Zeit kann man am sozialen und gesellschaftlichen Abgrund angekommen sein. Quasi vom Millionär zum Tellerwäscher. Obwohl ich das Glück gehabt habe, privat niemals in Kontakt mit dem Jobcenter gekommen zu sein, hat die fehlende Grundsicherung in den USA immer Gänsehaut bei mir verursacht. Aber wieso ist das eigentlich so? Wieso löst dieser Punkt solches Schaudern in mir aus? – Weil ich in Deutschland aufgewachsen bin.

Deutschland ist ein Staat, der viel Wert auf Sicherheit legt. Für mich war das immer etwas Gutes. Im gedanklichen Quervergleich mit anderen Ländern der Welt hatte ich immer das Gefühl, hier gut aufgehoben zu sein. Selbst wenn es einmal beruflich und finanziell nicht gut laufen sollte, würde ich schließlich nicht auf der Straße enden müssen, so die Theorie. Überall gibt es Stützpfeiler, die mein kleines Haus der Sicherheit vor dem Einsturz retten würden. Jedes Stückchen Sicherheit bringt mir etwas mehr innere Ruhe. Aber ist das wirklich so? Eigentlich kriege ich immer mehr das Gefühl, dass mir diese Sicherheit etwas nimmt. Dass sie mich einschränkt. Dass mich diese Sicherheit von klein auf zur Risikoarmut erzogen hat. Wieso soll ich denn etwas wagen? Mir geht es ja schließlich gut. In Wirklichkeit trage ich aber unzählige Fesseln, die ich überhaupt nicht sehe. Miet-, Strom- und Finanzierungsverträge binden mich an Menschen, die meine Hoffnungen auf Flexibilität mit Vertragslaufzeiten über mehrere Jahre im Keim ersticken. Neben meinem Arbeitsvertrag bindet mich meine völlig unsinnige Loyalität zusätzlich an meinem Arbeitgeber und wie abhängig mein Überleben von Supermärkten ist, wird bei jeder neuen Corona-Welle deutlich, wenn die Menschen fröhlich hamstern.
Dinge, die für unsere Großeltern noch selbstverständlich waren, gehören schon lange nicht mehr zum Allgemeinwissen. Würde uns schlagartig eine Hungersnot wie in der Nachkriegszeit der 40er- und 50er-Jahre drohen, wären die meisten von uns verloren. Wie man sich aus dem eigenen Garten versorgt, ist nicht nur zu einer Art Spezialwissen mutiert, es wird sogar oft seltsam beäugt. Selbst wenn wir mehr Unabhängigkeit und Freiheit anstreben, ist diese Freiheit oft an Bedingungen geknüpft. Eigene Stromerzeugung geht nicht ohne Kleingewerbe, Steuern und Einspeisung ins öffentliche Netz. Wir sind so beschäftigt damit, uns in unserem eingegrenzten Wirkungsbereich aufzuhalten, dass wir gar nicht über den sooft erwähnten Tellerrand hinausschauen. Andere Dinge erledigen andere Menschen. Ich komme mehr und mehr zu der Ansicht, dass meine warme Wohlfühlzone zugemauert wird. Je länger ich hier bin, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass ich diesen Ort jemals verlassen werde. Die Sicherheit macht mich faul und ignorant.

Leider bin ich zu einem Teil selbst dafür verantwortlich, dass ich nicht frei bin. Die Mauer, die meine Freiheit einschränkt, habe ich zwar nicht selbst errichtet, aber ich habe brav die Rechnung bezahlt. Naiv habe ich mich immer mit dem zufrieden gegeben, was ich kenne. Doch ist das wirklich alles? Ist das alles, was ich vom Leben erwarten kann? Eine Flut von Formularen, Anträgen und Genehmigungen? Die schlaflosen Nächte, die auf jede Rechnung in meinem Briefkasten folgen und der trostlose Teufelskreis von Arbeit und Erholung von der Arbeit?

Ob wir frei sind, hat nicht nur etwas damit zu tun, ob wir eingesperrt sind. Es gibt viel mehr Dinge, die uns anketten. Dinge, die unseren Horizont begrenzen, ohne dass wir es überhaupt merken.

Ich sage nein. Nein, ich bin nicht frei. Nein, das reicht mir nicht. Nein, damit werde ich mich nicht zufriedengeben.

Nun stell Du Dir die Frage:

Bist Du wirklich frei?

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