Sozialismus ist ein normales Gefühl
„Wir sind alle in Gefahr“: Der „linke Konservative“ Pier Paolo Pasolini hat uns heute vielleicht mehr zu sagen als wir denken.
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In einem Text über Pier Paolo Pasolini las ich unlängst den schönen Satz, „Sozialismus ist eine ‚natürliche Sache‘“. Das mag den einen oder die andere an die Formulierung Bertolt Brechts erinnern, der den Kommunismus „das Einfache / Das schwer zu machen ist“ nannte. Freilich: Die Verwandtschaft ist nur eine Scheinbare. Bei Brecht ist von einer planmäßig etablierten Ordnung die Rede, die es erst zu schaffen gelte. Diese Ordnung sei eine Einfache, aber unermesslich schwer herzustellen. Das ist eine Weltumbau-Phantasie. Eine Weltbaumeister-Phantasie.
Wenn für Pasolini der „Sozialismus eine natürliche Sache“ war, dann geht es dabei um etwas vollkommen anderes: die Rede ist vom intuitiven sozialistischen Empfinden, einer natürlichen sozialistischen Lebensführung, die tief in den Werten der einfachen Klassen begründet ist. Etwa: Dass man hilft, wenn jemand Hilfe braucht. Dass diese Empfindungen in den alltäglichen Lebensführungen der popularen Klassen wurzeln. Dass man die paar Euro dazu legt, wenn einem Rentnerpaar demnächst Geld beim Einkauf fehlt. Oder: Dass man im Viertel, im Wohnblock, zusammenhält – oder im Dorf. Dass die einfachen Leute sich auf Augenhöhe begegnen. Dass man in der Firma, in der Fabrik, am Bau, im Büro, im Lieferservice, Solidarität übt, sich niemand für etwas Besseres hält. Dass man rebelliert, gegen die Chefs und die, die einem Kommandieren wollen. Dass das Gegeneinander, der Kampf aller gegen alle, eine unnatürliche Sache ist, dass die Gier, eine Position zu erringen, die einem erlaubt, auf andere herabzusehen, eine unnatürliche Sache ist. Dass dieser Kampf um Status, Wichtigkeit, Prominenz und Distinktion eine perverse Sache ist. Nicht, dass es all das nicht gibt, aber es sind Symptome einer kranken Welt, Pathologien einer Kaputtheit.
Dabei geht es gar nicht darum, ob Menschen „sozialistische Meinungen“ haben. Menschen können sogar intolerable Meinungen teilen, ohne unbedingt „schlechte Menschen“ sein zu müssen. In den arbeitenden Klassen oder den popularen Klassen gab es immer auch Kleingeistigkeit und Engstirnigkeit, auch Rassismus und diese In-Group-Mentalität, dass sich Neuankömmlinge sehr lange mal hinten anstellen müssen und wer den Geruchstest, dieses Beschnuppern („gehört der dazu?“) nicht besteht, der kann es lange sehr schwer haben. Dennoch gab es zugleich diese intuitiven Solidaritäten, die Gleichheitsgefühle. Und auch Menschen mit intolerablen Meinungen können ihr Herz am rechten Fleck haben. Sie sind oft warmherzig, regen sich über Ungerechtigkeiten auf, sind spontan dabei, wenn jemand Hilfe braucht. Natürlich gab es immer auch einen gewissen Konformismus in diesen Milieus, sodass viele nichts wie raus wollten aus der Enge der proletarischen Welten. So komplex ist das alles. Der große britische Historiker E.P. Thompson sprach in Hinblick auf die Werte der arbeitenden Klassen von einer „rebellischen, traditionalen Kultur“. Gesellschaftliche „Fortschrittlichkeit“ und eine eigene Art „Konservatismus“ bestanden hier nebeneinander und gingen die seltsamsten Mischungen ein.
Pasolini – Linker, Radikaler, Konservativer
Der Künstler Pasolini – er wäre vor wenigen Monaten übrigens hundert Jahre alt geworden – ist selbst eine faszinierende Figur, in all diesen Spannungsverhältnissen. Ein radikaler Linker ist er gewesen und ein Konservativer zugleich. Von der „Liebe zu den einfachen Leuten“ sprach der Dichter Nico Naldini, zugleich Pasolinis Biograph und Cousin. Pasolini war KP-Funktionär, einer der exponiertesten Vertreter der italienischen Linken, sein Bruder kam im Partisanenkrieg um. Pasolini wird Dichter und Lehrer. Aber seine Homosexualität wird im katholischen, prüden Italien der Nachkriegszeit zum Skandal, der ihm zunächst den Boden unter den Füßen wegzieht. Er selbst spricht von seiner „Verschiedenheit“, von der Erfahrung der Differenz, die früh zur „Entwicklung meines Individuums“ beiträgt.
Politik der Sexualität
„Unsittlicher“ Handlungen überführt, verliert er seine Stellung als Lehrer und die KP schließt ihn aus – mit Hinweis auf die „verderblichen Einflüsse gewisser ideologischer und philosophischer Strömungen der diversen Gide, Sartre und anderer dekadenter Poeten und Literaten …, die sich als Progressisten gebärden wollen, in Wirklichkeit aber die schädlichsten Seiten der bürgerlichen Verkommenheit auf sich vereinen“. Homosexualität, freie Sexualität generell, die vom konventionellen „Normalen“ abwich, wurden als Devianz und Ausdruck von bürgerlicher Dekadenz angesehen, Prüderie und die heterosexuelle Ehe kombiniert mit Scheinheiligkeit dagegen als Ausdruck proletarischer Sauberkeit und der gesunden Werte der einfachen Leute.
Zerstört hat ihn das nicht. Als Dichter, Romancier und später als Filmemacher setzt sich Pasolini trotz allem durch, ist eine Zentralfigur der italienischen Nachkriegs-Kunstmilieus. Er entwickelt einen Stil des „ideologischen Realismus“, wie er das nennt, sein Roman Ragazzi di Vita wird Sensation und Provokation zugleich. Er dokumentiert das Leben im Subproletariat der Städte, in den Elendsquartieren und den Trabantenstädten, die aus dem Boden schießen, die Rauheit und Zärtlichkeit der Jugendkulturen, ist in Gaunersprache und Bandenjargon geschrieben. Heute würde so etwas niemanden mehr aufregen, damals war es ein Schock. Pasolini wird „morbider Geschmack am Schmutzigen, am Verworfenen, am Unanständigen und am Trüben“ vorgeworfen. Manche vergleichen Pasolini fälschlicherweise mit der amerikanischen Literatur der „Beat-Generation“. In seinen Filmen nimmt er das auf, formt es um, zeigt die Welt der entwurzelten Jungen, der Kleinkriminellen, der Zuhälter, wie in "Accattone" (deutsch: "Wer nie sein Brot mit Tränen aß...").
Das Land selbst – im Süden noch Dritte Welt, im Norden moderne Industrienation. Das Hintergrundrauschen von all dem: Italien als katholisches Land mit einer korrupten, reaktionären Christdemokratie als führender Partei – und mit einer kommunistischen Partei, die die große Massenpartei der Linken ist, verwurzelt in den Lebenskulturen der popularen Klassen, progressiv und anständig, zugleich auch bisschen altmodisch, stalinistisch, aber auf dem Weg ins Offene, der im Eurokommunismus und beim großen Reformer Enrico Berlinguer enden wird.
Linke Nostalgie
Pasolini, ein Mann in seinem Widerspruch: Er ist dem Katholizismus als der prägenden Kultur der popularen Klassen verbunden, ohne gläubig zu sein. Er lebt ein exzentrisches Leben, ist aber auch auf seine Weise konservativ, und sei es nur, dass er dem Traditionellen, dem Echten, dem Authentischen nachhängt, das von Industrialisierung, Amerikanisierung, Konsumismus und Modernisierung zerstört wird. Sein Freund Italo Calvino stößt sich an Pasolinis „klagender Nostalgie“. Als Künstler revolutioniert Pasolini Seh- und Sprechweisen, er ist ein Umstürzler. Insofern Teil der Avantgarde. Aber zugleich ist er Antiavantgardist, wendet sich gegen „Stilrausch“ und „Geschicklichkeit“, gegen die Sprachinnovationen, Wortspiele, Kunstwillen avantgardistischer Dichtung. Und entwickelt dann doch - wie in seinem Posthumen Roman "Petrolio" neue Erzählweisen, eine Montagetechnik, einen "neuen Stil" (L'Unita), eine "Modernität, die ihm bis dahin fremd geblieben war" (L'Espresso).
Ein wuchtiger, wütender Jesus
In Matera dreht er seinen Jesus-Film „Das 1. Evangelium – Matthäus“, mit einem Christus als Rebell und Widerstandsfigur, mit Kraft und Wucht und Entschlossenheit. Er notiert: „Die Gestalt Christi müsste die gleiche Gestalt haben wie ein Widerstand: etwas, das dem Leben, so wie es sich im modernen Menschen herausbildet, seiner grauen Orgie aus Zynismus, Ironie, praktischer Brutalität, Kompromiss, Konformismus, Glorifizierung der eigenen Identität gegenüber der Masse, Hass gegenüber jeder Andersartigkeit, theologischem Groll ohne Religion, radikal widerspricht.“ Der Film ist auch heute noch packend, mit keinem soften Jesus, sondern einem wütenden, kompromisslosen Propheten. In anderem Zusammenhang wird Pasolini einmal sagen, von den Heiligen bis zu den Intellektuellen, die, die „Geschichte gemacht haben, das waren diejenigen, die Nein gesagt haben“. Die Kompromisslosen, die der Versuchung widerstanden, zu Höflingen zu werden.
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„Mild im Herzen, aber nie im Denken“, nennt ihn Biograph Naldini. Pasolini wird zum radikalen Zeit- und Gesellschaftskritiker, zu einem unabhängigen, konservativen Kommunisten – und zu einer ziemlich solitären, einzigartigen Figur. Der gesellschaftliche Wandel bringt aus seiner Sicht nur Verfall. Wenn Walter Benjamin einmal sagte, dass nur „der Einverstandene“ die Chance hat, die Welt zu verändern, also der, der im Einklang mit seiner Zeit und ihren Möglichkeiten ist, so ist Pasolini der paradigmatische Uneinverstandene. Er strahlt eine linke Nostalgie aus, die sich positiv auf vergangene Lebensweisen bezieht, die durch den Strukturwandel unter die Räder kommen. Er ist gewissermaßen im Dialog mit der Vergangenheit. Legendär wird das in Pasolinis „Freibeuterschriften“, ursprünglich regelmäßige Zeitungskolumnen, die später als Buch erscheinen.
Zwischen allen Stühlen – die Freibeuterschriften
Pasolini äußert sich hier als Kritiker der 68er-Bewegung und der rebellischen Alternativkulturen, die er als eine Neue Linke sieht, die aus dem Bürgertum kommt, und mit den arbeitenden Klassen nichts zu tun hat, diese sogar verachtet. Keine Linke aus dem Volk, sondern eine Spielart bürgerlichen linken Liberalismus. Zwischen den militanten Studenten aus den Mittelschichten und den Polizisten aus der Bauernschaft stellt er sich auf die Seite des Armen, also des Polizisten. Dass er damit recht hatte, fühlte ich schon als Jugendlicher intuitiv, ohne damals je von Pasolini gehört zu haben: Wenn ich als linker Radikaler in eine Demonstration geriet, in der aus dem schwarzen Block den Polizisten zugerufen wurde „ich bin nichts, ich kann nichts, gebt mir eine Uniform“, habe ich mich schnell aus dem Block absentiert, denn mit dieser dümmlichen Gymnasiastenarroganz wollte ich nichts zu tun haben.
„Aus dem Drang zu bewahren / bin ich Kommunist“, hat Pasolini einmal geschrieben. In den Freibeuterschriften wird die Kommunistische Partei so beschrieben: „Die Kommunistische Partei ist wie ein sauberes Land in einem schmutzigen Land; ein ehrliches Land in einem verlogenen Land, ein gescheites Land in einem Idiotenland, ein kultiviertes Land in einem stumpfsinnigen Land, ein humanistisches Land in einem konsumistischen Land.“
Pasolini klagt eine Kultur und einen Zeitgeist an, die alle gleich machen („sie zu Herdentieren macht“), einen Prozess der Nivellierung, „der alles Authentische und Besondere vernichtet“. Diese Kultur liberalen Hedonismus nennt er ein neues „System von Herrschaft“, die „schlimmste aller Repressionen der Menschheitsgeschichte“. Sie montiere die Menschen um – „Die herrschende Klasse hat beschlossen, dass wir alle gleich sein sollen“ –, er spricht sogar von einer „anthropologischen Mutation“. Ein wahrer „Völkermord“ geschehe, da den lokalen Kulturen, aber auch den unteren Klassen die Dialekte geraubt würden. Für Pasolini ein „Sprachverlust“, der die Menschen „mundtot“ mache. Sie erleiden damit eine „Sprachunfähigkeit im klinischen Sinn“, eine „kulturelle Kolonisierung“.
Vom Verschwinden der Glühwürmchen
Kulturvernichtung und Umweltvernichtung gehen Hand in Hand, sind Folgen von Industriesystem und Konsumismus, was Pasolini in einem fulminanten Text über „das Verschwinden der Glühwürmchen“ beschreibt.
Bei zwei großen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen der siebziger Jahre – der Einführung der Ehescheidung, der Legalisierung der Abtreibung –, steht der konservative Kommunist Pasolini auf seinem eigenen, exzentrischen Posten. Ihn schockiere „der Gedanke an eine Legalisierung der Abtreibung, denn wie viele andere sehe ich das als eine Legalisierung des Tötens“. Pasolini ist zwar weder dafür, das Strafrecht weiter gegen Frauen anzuwenden, die einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen, er bekämpft die Ehescheidung auch nicht explizit. Er sieht diese gesellschaftlichen „Modernisierungen“ aber auch nicht als genuin linke Kämpfe, sondern als Ausdruck des konsumistischen Hedonismus, aus dem nichts Gutes folge. Das liberale Kapital und sein Bürgertum wünsche sich Konsumenten und Produzenten, die durch keine Werte oder Tradition mehr gebunden sind. Abtreibung und Scheidung sind für ihn daher Forderungen eines hedonistischen Anything Goes der bürgerlichen Mittelschichten und ihrer dominanten Kultur. Dass die demokratische Linke in dieser Ära – im Bündnis mit dem Trend zur Modernisierung – Wahltriumphe feierte, sah er als Oberflächenphänomen, auf das man nicht zu viele Illusionen bauen solle.
Spuren der Besiegten
„Oberflächlichkeit, Heuchelei, Opportunismus, Unwissenheit, Provinzialität, elitärer Dünkel und Arroganz“, verwünscht Pasolini, und in den Dynamiken der Zeit sieht er nichts mehr, was einer Welt von Emanzipation, Befreiung, Gleichheit günstig ist. Alles, was es gibt, sind die Spuren der Vergangenheit, die Spuren der Besiegten, die Spuren ausgelöschter subalterner Traditionen. Er lebe das Leben eines erfolgreichen Schriftstellers, „aber ich habe, wie Dr. Hyde, ein anderes Leben. Beim Leben dieses Lebens muss ich die natürlichen (und unschuldigen) Klassenschranken durchbrechen“. Und im Übrigen existiere er „von dieser Welt gelöst…nur noch bereit, stoisch in ihr zu leben“.
Das Subproletariat aus den Vorstädten, die Straßenjungen, diese elementar antibourgeoise Welt – dorthin durchbrach er die Klassenschranken. Auf das Bürgertum und ihre Kleingeistigkeit hat er, wie er schreibt, einen regelrechten „Hass“ („die totale Unduldsamkeit der Bourgeoisie gegenüber (hat) bei mir extreme Züge angenommen“). Im November 1975 wird Pasolini in Ostia, dem Lido bei Rom, von einem Stricher brutal ermordet. Ob mehrere Täter beteiligt waren, die Tat einen dunkleren, verschwörerischen Hintergrund hat, wurde nie vollständig geklärt.
Linke Melancholie
Pasolini ist als Künstler, als Intellektueller, als politischer Aktivist, als Autor, Essayist und Filmemacher längst ein Gigant und Teil des „künstlerischen Kanons“ des 20. Jahrhunderts.
Aber es ist da auch etwas aktuell immens Interessantes an dieser Figur. Er hat uns etwas über unsere Gegenwart zu sagen, wir müssen ihn nur zu verstehen üben. Pasolini ist Revolutionär, Radikaler und Konservativer. Politisch ist er ein Aufwiegler, Umstürzler. Künstlerisch ein Radikaler. Lebenspraktisch ein Nonkonformist. Und zugleich doch ein Konservativer, der an den traditionellen Werten der popularen Klassen hängt. Seine Zerrissenheit ist eine Art Vorgefühl, auch ein Vorzeichen auf heutige linke Debatten und Dilemmata. Heute gibt es Mittelschichts-Sozialdemokratien, die die Verbindung mit ihren traditionellen Anhängerschaften verloren haben. Oder eine akademische Linke, die als bürgerliche Linke mit den „rückständigen“ Werten der arbeitenden Klassen nichts mehr anfangen kann. Es gibt auch eine linke Melancholie und Nostalgie, den Tagtraum von einer versunkenen Vergangenheit, in der die Lebenswelten der arbeitenden Klassen noch vitale Gegenkulturen waren. Es gibt auch linken Konservativismus. Und es gibt eine Unbedingtheit, eine Gehässigkeit in den Diskursen, die über viele Gräben hinweg nicht einmal eine Verständigung mehr ermöglichen. Man stelle sich einen Pasolini heute vor, der wäre von einer akademischen Linken schon hundert Mal gecancelt worden, Theater müssten sich Saalschutz mieten, wenn sie ihn spielen wollten. Man muss bei Gott nicht zu allem Ja und Amen sagen, was Pasolini so geäußert hat, ich bin da weit davon entfernt (im Grunde hat er den hedonistischen Konsumismus für den schlimmeren Totalitarismus gehalten als den historischen Faschismus). Aber noch da, wo Pasolini falsch liegt, trifft er eine Wahrheit, oder ein paar Wahrheiten. Wer ist heute noch bereit, so etwas wenigstens misszuverstehen, also sich zumindest damit auseinanderzusetzen und sich die Frage zu stellen, wo der Autor richtig liegt, wo er eine Spur verfolgt, die nicht von vornherein unplausibel ist? Wer ist heute noch bereit, sich dem auszusetzen?
Während die meisten Texte der politisch-analytischen Literatur aus jener Zeit heute völlig überlebt wirken, war Pasolini mit seiner „künstlerischen Sensibilität“ viel näher an den Wahrheiten, schrieb Peter Kammerer schon 1995. Pasolini zeichnet ein apokalyptisches Gesamtbild, mit Show-Politik, Show-Linken, Show-Faschisten, völliger Entwurzelung, in der alle nur mehr Gefangene einer „Situation“ sind, wie Pasolini das in seinem letzten Interview nennt. Er nahm früh Witterung, spürte die Pathologien einer Hochglanzwelt und der politischen Kulturen einer "neuen Mitte", die sich bereits ankündigten. Terror des Vorgefühls. Die Besitzlosen und Wehrlosen, genauso wie die Gewinner, alles Marionetten des „Zwangs zum Besitz“. Pasolini: „Alle sind Opfer“.
Der Titel dieses letzten Interviews, geführt wenige Stunden vor seiner Ermordung: „Wir sind alle in Gefahr“.
Liste der verwendeten Literatur:
Nico Naldini. Pier Paolo Pasolini. Eine Biographie. Wagenbach-Verlag.
Pier Paolo Pasolini. Freibeuterschriften. Die Zerstörung der Kultur des Einzelnen durch die Konsumgesellschaft. Wagenbach-Verlag.
Pier Paolo Pasolini: Literatur und Leidenschaft. Wagenbach-Verlag.
Pier Paolo Pasolini: Gramscis Asche. Gedichte. Piper-Verlag.
Pier Paolo Pasolini: in persona. Gespräche und Selbstzeugnisse. Wagenbach-Verlag.
Pier Paolo Pasolini: Petrolio. Wagenbach-Verlag.
Peter Kammerer: Pasolini und die italienische Krise. Prokla, Heft 98, 1995.