Unternehmen regieren die Welt
Ich habe immer stärker das Gefühl, dem Geschehen nicht hinterher zu kommen. Es scheint mir, dass um jede Ecke die nächste Krise, der nächste Skandal lauert. Und ich zu allem etwas sagen muss. Das ist Unsinn. Ich muss nicht zu allem etwas sagen.
Morgen ist der 1. Mai. In der Vergangenheit kamen bei mir jährlich zu jener Zeit und um den 8. März herum Streikaufrufe an. In den “Frauen-Mediengruppen” wurde aufgerufen, an jenen Tagen nichts zu veröffentlichen. Ich konnte eh kaum veröffentlichen und fragte mich: Wer nimmt es überhaupt wahr, dass ich eine Kolumne weniger schreibe, einen Podcast weniger veröffentliche, die Newsletter-Ausgabe einen Tag später rausschicke? Welchen Unterschied macht das, außer dass ich noch nicht einmal das bisschen Honorar, das ich als linke Publizierende bekam, bekommen soll? Ich regte jedes Mal mich auf.
Inzwischen sind diese Gruppen stummgeschaltet, weil ich gemerkt habe, dass sie eh nichts bringen. So spare ich mir auch die Streikaufrufe. Aber eigentlich halte ich viel von Streiken. Sehr, sehr viel.
In der Türkei demonstrieren vor allem junge Menschen seit Wochen, unter anderem gegen die Inhaftierung des Istanbuler Oberbürgermeisters Ekrem İmamoğlu. Sie demonstrieren gegen das Regime, gegen den Abbau des Rechtsstaates, gegen Armut und Willkür. İmamoğlus Partei CHP veröffentlichte kurz nach seiner Festnahme eine Liste der Unternehmen, die aufgrund ihrer Regierungsnähe boykottiert werden sollen. Demonstrierende erweiterten, ergänzten und verbreiteten die Liste. Sie sagten: “Mit unserem Geld Gewalt gegen uns ausüben? Nicht länger!” Das war ein schöner Moment.
Boykotte sind wichtig und wirksam. Noch wirksamer sind allerdings Streiks. Ich glaube, dass man mit einem flächendeckenden Boykott ein starkes Zeichen setzen kann. Aber das Problem in der Türkei ist zu tief verwurzelt, um mit Zeichensetzen beseitigt werden zu können. Etwas stärkeres, wirksameres muss her. Zum Beispiel die Niederlegung der Arbeit in jeder denkbaren Branche, so gut es geht. Ich bin optimistisch, dass eine gut organisierte, große und branchenübergreifende Streik das System innerhalb weniger Monaten stürzen würde. Was danach kommt, entscheiden die Menschen gemeinsam.
Einen so großen Streik zu organisieren wäre natürlich eine Herausforderung. Unmöglich wäre es allerdings nicht. Die erste Voraussetzung wäre aber, dass die CHP mit der bisherigen Tradition, eine Systempartei zu sein, bricht, aus ihrer Schale herauswächst, wandelt, sich erneuert – eine neue Zärtlichkeit entwickelt, um neue und junge Stimmen und Methoden heranzulassen, und die Entschiedenheit und die Resilienz entwickelt, um nicht aufzugeben.
“İstikrarlı hayal, hakikattir.” * – Gaye Su Akyol (Opens in a new window)
*: “Beständiges Träumen ist Realität.”
Termine im Mai
16.05.2025 Leipzig
Benefizlesung für Nura Leipzig e.V.
Café Terra, 18 Uhr
17.05.2025 Wolfsburg
mit femCircle
Schloss Wolfsburg, 19 Uhr
Als vor wenigen Jahren die ehemalige Agrarministerin und heutige Bundestagspräsidentin Julia Klöckner (CDU) Werbung für das Unternehmen Nestlé machte, schrieb ein Twitter-Nutzer so etwas wie: “Bald stehen nur noch Unternehmen zur Wahl.” Nestlé ist unter anderem für das Beschlagnahmen lokaler Wasserquellen und Kinderarbeit auf Kakao-Plantagen bekannt. Julia Klöckner hätte damals sofort ihren Job verlieren müssen, aber wenn du gute Beziehungen mit Riesenunternehmen hast, kannst du ja nur nach oben fallen.
Die ganze Welt verfolgt die Freakshow von Donald Trump und Elon Musk in Echtzeit, und in Deutschland herrschen nicht wirklich bessere Verhältnisse. Mit Friedrich Merz stehen wir schon mitten in der oben zitierten Dystopie, dass wir uns bei Wahlverfahren eher für Unternehmen entscheiden als für Parteien.
Vor wenigen Tagen kündigte Merz sein Kabinett an. Demnach wird Katherina Reiche Ministerin für Wirtschaft und Energie. Sie ist Vorstandschefin des Energiekonzerns Westenergie AG. Karsten Wildberger gründet das erste eigenständige Digitalministerium Deutschlands, dabei hat er absolut null Verwaltungserfahrung. Er war zuletzt Ceconomy-Vorstandschef und Geschäftsführer der Media-Markt-Saturn-Gruppe. Der rechtskonservative Medienunternehmer Wolfram Weimer soll das Kulturstaatsministerium leiten. In der Vergangenheit sprach er für die Privatisierung von Öffentlich-Rechtlichen. In seinem Buch “Das konservative Manifest“ von 2018, das ich nicht gelesen habe, aus dem seit der Ankündigung allerdings viel zitiert wird, soll er von Linken als “Gutmenschen-Bevormundern und moralischen Besserwissern” geschrieben haben. Die taz schreibt: “Die abendländische, jüdisch-christliche Werte- und Traditionsgemeinschaft des Westens sieht Weimer (…) ‘im Kontrast zum islamisch geprägten Orient oder Morgenland’.”
Werte wie Kunst- und Meinungsfreiheit beschützen die Demokratie. Diese Werte zu verletzen ist insofern ein frontaler Angriff auf die Demokratie. Kunstfreiheit zu verletzen geschieht nicht nur durch die Inhaftierung oder Ermordung von Künstler*innen – unbequeme Kunst nicht zu fördern und den Künstler*innen die Lebensgrundlage zu nehmen, sodass sie ihrer künstlerischen Tätigkeit nicht mehr nachgehen können, ist ebenso eine Verletzung der Kunstfreiheit.
Ein Kabinett mit mehreren Unternehmensvertreter*innen ist genauso ein Skandal wie ein rechtskonservativer Kulturstaatsminister. Demokratie und Reichtum sind Widersprüche. Daher ist es unvermeidbar, dass Reiche der Demokratie schaden wollen. Das können sie gewiss besser, wenn sie neben ihrem Vermögen auch noch politische Posten innehaben. In einer Demokratie kann es kein individuelles Reichtum geben. In einer Demokratie dürfen keine Unternehmen über die Gesetze und die Zukunft eines Landes entscheiden.
Ein Tag nach der Ankündigung der CDU-Minister*innen stimmten die SPD-Mitglieder in großer Mehrheit für die Koalition mit der Union und ermöglichten diese Shitshow. Falls wer sich fragt, wer uns verraten hat.
Wo bleibt der Aufschrei? Wo sind die Mengen, warum protestieren sie nicht auf den Straßen? Verrückt sind wohl immer die anderen.
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Sibel Schick