Wenn es wahr ist, dass du mich liebst
Reynaldo Hahn: A Chloris (1916)
Das berühmteste Lied des französischen Komponisten Reynaldo Hahn stammt aus dem frühen 20. Jahrhundert und ist die Vertonung eines Gedichts seines Landsmanns Théophile de Viau, verfasst rund dreihundert Jahre zuvor.
”A Chloris” ist ein spekulatives Liebesgedicht. Das lyrische Ich weiß nicht, ob es geliebt wird:
Wenn es wahr ist, dass du mich liebst
(Und man sagt, du liebst mich sehr)
Ist des Königs Glück, das weiß ich,
Nur ein Bach, mein Glück ein Meer
De Viau wurde wegen eines (anderen) Gedichts mit homosexueller Pointe zum Tod auf dem Scheiterhaufen verurteilt (und dann begnadigt). Vermutlich war de Viau schwul, wir wissen es nicht. Es gehört zur Geschichte schwulen Begehrens, dass es oft unerfüllt bleiben muss, weil der Begehrende nicht weiß, nicht wissen kann, ob auch er begehrt, ob er auch geliebt wird. Und weil schon der Versuch es herauszufinden, zu schmerzhaft, zu gefährlich ist.
Voltaire verlangte 1777, lange nach de Viaus Tod: “Die Homosexualität, solange sie ohne Gewalt betrieben wird, darf nicht gesetzlich bestraft werden. Sie verletzt das Recht keines einzigen Menschen.” 1791 wird die Kriminalisierung Homosexueller in Frankreich beendet. 1944 kehrt sie unter dem Vichy-Regime zurück. Entsprechende Gesetze wurden von de Gaulle übernommen und erst 1982 abgeschafft. Schwules Begehren ist prekär, immer wieder wird es unterdrückt, kriminalisiert, versucht, zum Verschwinden zu bringen – man sagt, du liebst mich sehr, aber ich weiß es nicht, ich darf es nicht wissen.
Reynaldo Hahn hatte das Glück, in eine Epoche relativer Freizügigkeit geboren worden zu sein. Und über sein Begehren wissen wir Bescheid, denn es mündete in eine der produktivsten Künstlerbeziehungen des zwanzigsten Jahrhunderts. Die eine romantische Liebesbeziehung Marcel Prousts hatte er mit Reynaldo Hahn. Und als sie nach zwei Jahren zerbrach, blieb eine enge Freundschaft, die von Proust auch literarisch idealisiert wurde. Die Gräber von Hahn und Proust auf dem Pariser Friedhof Père Lachaise sind nicht weit voneinander entfernt.
Hier nun Hahns Vertonung von de Viaus Gedicht, gesungen von der fantastischen amerikanischen Mezzosopranistin Susan Graham:
https://www.youtube.com/watch?v=mZfOpVe4ib8 (Opens in a new window)Links: YouTube (Opens in a new window), Spotify (Opens in a new window)
Schöne Grüße aus Berlin
Gabriel
P.S.: Wenn du diesen Newsletter unterstützen möchtest, freue ich mich über eine freiwillige Steady-Mitgliedschaft (Opens in a new window). Als kleinen Dank erhältst du eine Playlist mit 100 Stücken, die du (hoffentlich) noch nicht kennst.