Der glühende Stern über, die Mineralien unter dir
Charles Ives: “The Pond” (1912-1913)
In den Schleichwegen zur Klassik stelle ich Musik vor, die du vielleicht noch nicht kennst. Und ich liefere das Schuhwerk für deinen eigenen Schleichweg dazu. Das sind Vorschläge und Hinweise, mit denen du die Musik besser verstehen und damit mehr genießen kannst. Aber solche Texte machen Arbeit und kosten Zeit. Daher bitte ich dich: Unterstütze meine Arbeit mit einer Mitgliedschaft (Opens in a new window) (für 5 Euro im Monat) und die Bezahlschranken entfallen sofort. Was auch geht: Sponsoring (Opens in a new window) (für 250 Euro im Monat). Als Sponsor erreicht deine Botschaft über tausend freundliche, neugierige und feinsinnige Menschen. Und nun zur Musik.
Foto: Austin D (Opens in a new window) auf Unsplash (Opens in a new window)
Wer denkt nicht gerne angenehm zu denkende Gedanken! Sie müssen ja nicht zutreffend sein; es reicht, wenn sie sich angenehm denken lassen. Ein solcher Gedanke ist: “Alles ist eins.” Irgendwie hängt alles mit allem zusammen, deshalb ergibt auch alles auf mystische Weise einen Sinn. Dieser Gedanke hat etwas Romantisches, es gibt sogar ein Rilke-Gedicht mit dem Titel “Alles ist eins”! Heute ist diese Überzeugung ökologisch-esoterischer Volksglaube – wie könnte man anderer Meinung sein?
Also, ganz einfach eigentlich. Ich mache aus meinem Herzen keine Mördergrube: Ich halte “Alles ist eins” für Unfug, denn alles hängt keineswegs gleichermaßen mit allem zusammen (und das müsste es ja, wenn alles eins ist). Manche Dinge haben starke Auswirkungen aufeinander, andere weniger. Das Klima auf Erden zum Beispiel und der Wille von Verkehrsministern, über einen Zeitraum von zwanzig Minuten hinaus denken zu können – das hängt durchaus zusammen. Andere Dinge aber überhaupt nicht, wie zum Beispiel die existenziellen Probleme unseres Planeten und die Explosion irgendwelcher Sterne am anderen Ende der Galaxis.
Sehr eng zusammen hängt jedoch das Wohlbefinden der geneigten Leser*innen mit dem Inhalt dieses Newsletters. Deshalb möchte ich ihnen einen anderen angenehm zu denkenden Gedanken vorstellen, den ich für nicht ganz so grotesk falsch halte, der produktiv ist – und zu dem es nachher auch noch passende Musik gibt!
Der Gedanke ist nicht von mir, sondern von dem in Deutschland ziemlich unbekannten französischen Philosophen Gilbert Simondon. Der schrieb über Technik wie über Biologie und über Biologie wie über Technik, womit er sich genau zwischen die von der akademischen Welt aufgestellten Stühle gesetzt hat. Dort sitzt man schlecht, aber dafür ist die Aussicht gut.
Aus dieser Perspektive, unbeschränkt von Fachgrenzen, befasste Simondon sich mit der Frage, wie ein Individuum ein Individuum wird. Er meinte mit Individuum jede irgendwie fest umrissene Sache, nicht nur (aber auch) den Menschen. Es liegt nicht gerade auf der Hand, was alle Dinge dazu macht, was sie sind – egal ob belebt oder unbelebt, Mensch oder Tier, Pomelo, Terrazzo, die EU-Kommission oder Wirbelschichtumlaufreaktor. (Letzteren braucht, wer industriell Wurst herstellen will.)
Simondons erstaunliche Definition des Individuums ist: Es ist Auflöser von Unvereinbarkeiten. Die Dinge sind in der Weise in der Welt, wie sie Unvereinbarkeiten zwischen anderen Dingen auflösen. Anders gesagt: Die Dinge unterscheiden sich dadurch, wie sie ihren Vermittlungsjob in der Welt machen. Dieser Gedanke ist meiner Meinung nach einer der schönsten, den die Philosophie, zumal die des 20. Jahrhunderts, zu bieten hat.
Einer der schönsten Gedanken des 20. Jahrhunderts
Simondons Beispiel ist eine Pflanze, die die Unvereinbarkeit auflöst zwischen dem glühenden Stern in 150 Millionen Kilometern Entfernung und den Mineralien in der Erde, wenige Zentimeter unter ihr. Für Simondon vermittelt also die Pflanze zwischen der Sonne und der Erde. Ohne die Pflanze blieben die Salze im Boden. Ohne die Pflanze beschien die Sonne karges Land. Simondon richtet unsere Aufmerksamkeit auf die scheinbaren Komparsen der Metaphysik: Noch in der unbedeutendsten Flechte sieht er eine Mediatorin zwischen den Welten.
Wendet man Simondons Gedanken ins Soziale, kann man sich auch Menschen als Auflöser von Unvereinbarkeiten vorstellen, oder besser gesagt als Vermittler*innen. Demnach wäre die Seinsweise des Menschen auf Erden die Vermittlung, sei es zwischen Dingen, zwischen Menschen und Dingen oder eben zwischen Menschen.
Es ist eben nicht alles eins, denn sonst bräuchte es keine Vermittlung. Die Dinge können nebeneinander stehen, das muss keine Katastrophe, sondern kann eine Gelegenheit sein (muss aber nicht!).
Und so passieren in Charles Ives’ Stück für Kammerensemble, “The Pond”, mehrere Dinge gleichzeitig, die nicht viel miteinander zu tun haben. Unterschiedliche Rhythmen existieren parallel, Melodien überlagern sich, ohne aufeinander aufzubauen, und nach nicht mal zwei Minuten ist es vorbei – ohne dass es Auflösung, Erlösung oder irgendeine andere Lösung gegeben hätte. Es ist wunderbar, es ist die Wirklichkeit, aber eine bessere, poetische Version von ihr. Denn natürlich vermittelt Ives’ Stück zwischen der Welt und uns, die wir zuhören.
Auch wenn der Titel des Stücks eine Naturszene suggeriert, wäre mein Vorschlag, sich eine Kleinstadt vorzustellen, in der, vielleicht auf einem Marktplatz, mehrere Dinge gleichzeitig passieren. Das Kleinstadt-Kakophonie von Kirchenglocken, marching band und so weiter war tatsächlich eine wesentliche Inspirationsquelle für die übereinandergeschichteten Klänge von Ives. Es ist nicht übermäßig trubelig, aber es herrscht auch keine perfekte Harmonie. Das Nebeneinander ist aber überhaupt nicht schlimm – zumal, wenn es so kunstvoll vermittelt wird.
https://www.youtube.com/watch?v=Tg7soP2vkGA (Opens in a new window)Hier findest du das Stück im Streaming (Opens in a new window). Und wenn du mehr von Ives hören willst: Es gibt einen Schleichweg zu seiner 2. Sinfonie (Opens in a new window).
Schöne Grüße aus Berlin
Gabriel
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