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Sie verstehen die Musik, aber nicht sich selbst

J.S. Bach: “Das wohltemperierte Klavier”, Buch I, 1. Präludium (BWV 846)

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Cate Blanchett als Lydia Tár mit Zethphan Smith-Gneist als Student Max (Szenenfoto: Focus Features)

Vorab: Dieser Text verrät einige Details des Films “Tár”. Er ist sehenswert und (wie alle Filme) um so sehenswerter, je weniger man vorher darüber erfahren hat. Insofern empfehle ich die Lektüre des heutigen Newsletters für die Zeit nach dem Kinobesuch zurückzustellen, falls einer geplant ist. Und: Diesmal geht es nicht um ein unbekanntes, sondern ein sehr bekanntes Stück des Kanons.

Letzte Woche war ich im Kino, um mir “Tár” anzusehen, einen Film, in dem Cate Blanchett eine weltberühmte Dirigentin spielt. Das war auch genau mein Kenntnisstand, als das Focus-Features-Logo ausgeblendet wurde und der prätentiös lange Vorspann begann. Wie in ganz alten Filmen erscheinen fast alle Credits in mehreren Spalten gleichzeitig zu Beginn. Ich dachte mir, meine Güte, wenn der Rest genau so gespreizt ist wie der Vorspann, dann wird das ein mühsamer Abend.

Aber dann saß ich über zweieinhalb Stunden im Kino und hab nicht einmal auf die Uhr geschaut. Das ist mir das letzte Mal bei “Jurassic Park” passiert, glaube ich. Einen großen Anteil daran hat die Filmeditorin Monika Willi, die auch schon für Michael Haneke gearbeitet und eine riesige Materialfülle rhythmisch so streng und ökonomisch montiert hat, dass man sich wünscht, sein eigenes Leben würde von Willi geschnitten.

Der Film wirkte auf mich so, als hätte man Haneke ein Hollywood-Budget gegeben, um zu zeigen, dass Kunstverständnis und Gestaltungswille keinerlei Reflexionsfähigkeit voraussetzen (was erstaunlicherweise stimmt!). Es schadet vermutlich nichts, über sein Inneres, seine Antriebe und Ängste, aber auch seine Kompensationsleistungen, seine guten wie schlechten Eigenschaften Bescheid zu wissen, aber notwendig für die Interpretation klassischer Musik sind diese Fähigkeiten offensichtlich nicht.

Aber wer verdrängt (und verdrängt wird viel in diesem Film), muss dafür einen Preis zahlen, auch da hat “Tár” recht. In etlichen Szenen musste ich an Hanekes Filme “Amour” und “Die Klavierspielerin” denken: kunstsinnige Bildungsbürger*innen, die in holzvertäfelten Altbauten ihrer Psychologie vollkommen ausgeliefert sind. Sie verstehen die Musik, aber sie verstehen nicht sich selbst.

In einer Szene am Ende des ersten Akts hält die titelgebende Dirigentin Max, einem jungen Studenten an der Juillard School, dem weltberühmten New Yorker Konservatorium, einen Kurzvortrag über das erste Präludium aus Bachs “Wohltemperiertem Klavier” (BWV 846), einer Sammlung von Präludien und Fugen für Tasteninstrumente. Das erste Präludium ist Musik, die so einprägsam wie komplex ist, aber eigentlich ein Lehrstück in C-Dur, “zum Nutzen und Gebrauch der Lehrbegierigen Musicalischen Jugend”, wie Bach selbst auf den Titel der Sammlung schrieb. Und so setzt die Figur Blanchetts das Werk im Film auch ein: Sie spielt Max die Arpeggien vor, dabei erst einen Klavieranfänger, dann Schroeder von den Peanuts und schließlich den kanadischen Ausnahmepianisten Glenn Gould imitierend. Tár vermittelt Max und dem Publikum eines der wichtigsten Dinge, die man Leuten mitgeben sollte, die einen Einstieg in die Klassik suchen: (Diese) Musik will interpretiert werden.

Hier die Gouldsche Interpretation des ersten Präludiums – sehr ungewöhnlich ist das Staccato in der rechten Hand, also das Absetzen des Fingers zwischen den Noten im Gegensatz zum sonst üblichen Verbinden:

https://www.youtube.com/watch?v=PIpTAgpabmo (Opens in a new window)

Hier findest du die Gould-Aufnahme im Streaming (Opens in a new window).

Und hier das gleiche Stück, gespielt von Maurizio Pollini. Das ist die konventionellere Lesart – kein Staccato:

https://www.youtube.com/watch?v=977ccxoO99A&list=OLAK5uy_nSaylO75am87kylS8OeLvxiwqPPxHptRA&index=35 (Opens in a new window)

Hier findest du das Pollini-Aufnahme im Streaming (Opens in a new window).

Schließlich erfahren wir Lydia Társ eigene Lesart der Bachschen Musik: Im ersten Präludium des “Wohltemperierten Klaviers” repräsentieren Dissonanzen und Konsonanzen Fragen und Antworten – solche, die wiederum neue Fragen aufwerfen. An dieser Stelle spricht Autor und Regisseur Todd Field durch seine Figur Tár und verrät nicht nur sein Verständnis dieses Präludiums, sondern auch den dramaturgischen Bogen des Films. 

In der wohl zehnminütigen Plansequenz am Ende des ersten Akts, die der “Hollywood Reporter” die meistdiskutierte Szene des Films (Opens in a new window) nennt, geht es um die gar nicht mal so alte Frage nach der Möglichkeit einer Trennung von Künstler und Werk und um die neuen Fragen nach Identität und Repräsentation. Max lehnt die Musik von Bach ab, on the basis of identity. Der Barockkomponist verkörpert aus der Sicht des von Max, der sich als “BIPOC pangender” vorstellt, einen frauenfeindlichen, überholten Lebensentwurf. Die dramaturgische Entscheidung, Bach einem solchen Vorwurf auszusetzen, an dieser Stelle in diesem Film, läuft Gefahr, den Studenten der Lächerlichkeit preiszugeben – und damit natürlich die woke Kritik am Kanon, am unkritischen Umgang des Establishments mit ihren Heiligen, den Protagonisten ihrer Identität.

Denn so wie es für Max identitätsstiftend ist, Bach abzulehen, so identitätsstiftend ist es für ernsthafte klassische Musiker*innen, Bach zu verehren – nur dass sie diese Identitätsstiftung nie als solche bezeichnen würden, da es zum Mythos der ernsten Musik gehört, transzendental zu sein. Die größten Komponisten werden einerseits als Genies, andererseits als Werkzeuge Gottes begriffen, durch die eine absolute Musik nur getunnelt wird. Eine für ihre Anhänger selbstverständliche, geradezu unhintergehbare Überzeugung macht aus Musik etwas, das von so weit jenseits der Trivialität unserer irdischen Welt herkommt – mit all ihren irdischen Identitätskämpfen –, dass Angriffe auf Komponisten, diese Medien, ins Leere laufen müssen. Für Goethe war das “Wohltemperierte Klavier” schon “als wenn die ewige Harmonie sich mit sich selbst unterhielte”. Bach im Allgemeinen und diese Musik im Speziellen zu kritisieren ist für die Vertreter*innen des westlichen Kanons so als ob man der Schwerkraft oder der Brownschen Molekularbewegung Vorwürfe macht.

Aber weil auch die größte Kunst letztlich hienieden aufgeführt wird, vor dem Hintergrund irdischer Identitätskämpfe, kommentieren rechte und rechtsextreme Medien wie Fox News und Breitbart, Tár “demontiere” die “woke Identitätspolitik”. Die Autor*innen dieser Medien müssen den Film so lesen – es ist eine Identitätsfrage. Adam Serwer schrieb im “Atlantic” (Opens in a new window), “woke” sei “ein nebulöser Begriff, der aus dem Black American English gestohlen wurde und von Konservativen als Attribut verwendet wird, die Ablehnung von Formen des Egalitarismus auszudrücken, die sie lächerlich oder geschmacklos finden”. Es geht aber nur scheinbar um eine Kritik an der Form, tatsächlich geht es um die Verächtlichmachung der Idee einer egalitären Gesellschaft an sich. Denn die Identität am rechten Rand entsteht durch die Überhöhung des Eigenen gegenüber dem als minderwertig empfundenen Fremden. Die ewige Harmonie, die sich mit sich selbst unterhält, klingt anders.

In diesem Video führt der Pianist Ben Laude fantastisch detailliert durch die Szene, insbesondere durch die verschiedenen Bach-Interpretationen:

https://www.youtube.com/watch?v=g2Y0R1A68hI (Opens in a new window)

Ob die Protagonistin Lydia Tár eine Künstlerin (und Lehrerin) ist, die sich, wie es so schön heißt, ganz in den Dienst der Musik stellt, ist eine der unangenehm zu beantwortenden Fragen, die der Film aufwirft. Sie versteht die Musik, aber nicht ihre fragwürdigen life decisions und daher auch nicht ihre Alpträume.

Der Musik zu dienen heißt, sie zu interpretieren. Und Interpretation heißt, eine Bedeutung herauszuarbeiten, was sich nicht leicht unterscheiden lässt davon, eine Bedeutung hineinzulegen. Aber an einer Traumdeutung versucht Lydia Tár sich erst gar nicht.

Jede Antwort eine neue Frage.

Schöne Grüße aus Berlin
Gabriel

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