Die ökozidale Gesellschaft betreibt Verleugnungsabwehr, keine Verdrängung
Von Alex Niehoff-Toral
Es ist eine scheinbar winzige Präzisierung und Abwandlung, die ich an Tadzio Müllers interessanter These der (ökozidalen) Verdrängungsgesellschaft 1 (Opens in a new window) aus Zwischen friedlicher Sabotage und Kollapsakzeptanz (Opens in a new window) vornehmen möchte, eine, die aber wohlmöglich für die kritische Analyse der ökozidalen Gesellschaft weiterführen könnte. Ich denke, es handelt sich psychoanalytisch nicht um eine Verdrängung des Ökozids und der Schäden an den kommenden und im Globalen Süden lebenden Menschen, an der Zerstörung der Leben der künftigen Klimaflüchtlinge, sondern um eine Verleugnung, und das erklärt auch viele der von Tadzio Müller (Opens in a new window) festgestellten Eigentümlichkeiten deutlich besser – und es könnte wohlmöglich auch ein tieferes Verständnis herbeiführen – und wer weiß – vielleicht sogar zu gezielteren Taktiken und Strategien, um sie aufzubrechen. Ob die Ideen, die sich aus dieser Deutung ergeben, wirklich etwas bringen, lässt sich natürlich erst in der Zukunft ermessen, ich biete hier nur eine weitere Deutung an. Diese These – dass es eine Verleugnungsabwehr ist – habe ich auch schon länger (Opens in a new window) in meiner philosophischen Analyse der ökologischen Krise vertreten, sie ähnelt der von Tadzio Müller getroffenen Diagnose der „Verdrängungsgesellschaft“, aber der Unterschied in der Diagnose der Abwehrform ist dennoch vielleicht entscheidend, es scheint mir aber auch, das Tadzio Müller die Terminologie nicht in diesem technischen Sinne verwendet. Andererseits kann aus Tadzio Müllers Buch für meinen eigenen Ansatz viel Neues und Wertvolles gewonnen werden. Das ist sicher nicht das letzte Wort, das ich zu diesem vielschichten Werk sagen werde, vielmehr plane ich eine Rezension zu schreiben, denn über diese fruchtbare Gemeinsamkeit hinaus sehe ich vieles mehr, was sich über Zwischen friedlicher Sabotage und Kollapsakzeptanz (Opens in a new window), sagen ließe. Über die These der „Verdrängungsgesellschaft“ – die ich mit Tadzio Müller unter leicht abgewandeltem Vorzeichen teile – präzisiert auf die Verleugnung – geht dieses Buch deutlich hinaus, so thematisiert es die allgemeinen Herausforderungen politischer und emotionaler Art, die sich der Klimabewegung und der Linken in den heutigen Zeiten stellen. Die hiesigen Überlegungen zu diesem Teilproblem von Tadzio Müllers Buch lassen sich schwer einem Genre zuordnen – sie sind keine philosophische Analyse, aber auch keine politische – vielleicht eine gesellschaftliche? Zumindest sollen sie eine bessere Wahrnehmung des politischen Feldes münden.
Freud (und auch Lacan) unterscheidet 4 Typen der Abwehr: Verneinung, die reifste Form der Abwehr, Verdrängung, die für Neurotiker typisch ist und entsprechend Symptome hervorbringt, wenn das Verdrängte wiederkehrt, Verleugnung, die für Perverse und Narzissten typisch ist, und Verwerfung, die Psychotiker betreiben. Die Verdrängung betrifft vor allem Triebe, Triebe die in der Gesellschaft und vor dem eigenen Überich verboten zu sein scheinen, wie etwa Wünsche nach Inzest und Perversionen, diese Triebe äußern sich dann spiegelverkehrt in neurotischen Symptomen. Die Verleugnung und Verwerfung bezieht sich hingegen auf Aspekte der äußeren Realität, sie werden verleugnet, weil man triebgesteuert ist, und diese Aspekte der Realität „im Weg“ sind. Die für Freud in dem entsprechenden Artikel aus den gesammelten Werken 14 typische Form der Verleugnung ist – so merkwürdig es auch klingen mag – die Verleugnung, dass die Frau oder Mutter keinen Penis hat, und damit auch die Möglichkeit, für inzestuöse oder perverse Triebe kastriert zu werden. 2 (Opens in a new window) Die Angst vor der Kastration ist nämlich, welche die Menschen dazu bringt, ihre Triebe zu unterdrücken, können sie aber nicht kastriert werden, so sind diese Triebe auslebbar. Verleugnung ist ein typisches Merkmal für Fetischisten und andere die „Perversionen“ ausleben. Wichtig – und für die Klimasache entscheidend ist, dass diese Verleugnung der störenden Realität ambivalent ist – man weiß, dass die Frau keinen Penis hat, dass man kastriert werden könne, und zugleich will man es nicht wahrhaben. Und ähnlich weiß die Gesellschaft auch, dass sie den Ökozid betreibt, und will es dennoch nicht wahrhaben, so wie Tadzio Müller es auch an der entsprechenden Stelle beschreibt. 3 (Opens in a new window) Sie verleugnet die Betroffenen der Krise, also den kastrierenden Vater, der sie dann in ihren Ängsten heimsucht. Verleugnung ist eine „Abwendung des Blicks vor der Gefahrenquelle“, man leugnet die Bedeutung dieser Realität der Kastrationsdrohung, anstatt dass man wirklich diese Realität aufhebt und durch eine Halluzination ersetzt, wie es bei der Psychose der Fall ist. Die Missachtung der Klimakatastrophe bzw. des Klimakollapses (die Latour auch Quietismus nennt) 4 (Opens in a new window) ist jedenfalls vor allem eine Verleugnungsabwehr. Das psychotische Verhalten könnte man vielleicht mit denen assoziieren, welche irgendwelche Verschwörungstheorien zur Klimakrise pflegen, was ich normalerweise als Umnachtung bezeichne (und Latour als Negationismus) 5 (Opens in a new window). Hingegen wäre die Verdrängung deswegen unpassend, weil es in der Verdrängung gerade diese Ambivalenz nicht gibt, und entsprechend auch die verdrängten Inhalte vollständig ins Unbewusste abgeschoben werden. Der, der verleugnet, wird hingegen von diesen Vorstellungen heimgesucht. Leute, die verdrängen, können hingegen aus ihrem Schlaf auch nicht einfach so erwachen. Sie haben auch keine eigentliche Schuld an dieser verdrängten Tätigkeit. Daher finde ich auch den Begriff der Verdrängung bei Tadzio Müller so unpassend, wenn er noch extra hervorhebt, dass bei den angeblich „verdrängenden“ Menschen gleichzeitig ein Bewusstsein der Krise existiert.
Wichtig ist, dass diese Verleugnungsabwehr typisch für Narzissten ist, denn Narzissten sind auch eine Art der Perversion, die in der Psychoanalyse strukturell verleugnet (nämlich das Gesetz). Sie negieren die Bedeutung der Gefühle anderer, und sie leugnen ihre eigene Unvollkommenheit, erheben sich zum Gott, obwohl sie im inneren wissen, dass sie es nicht sind. Und in gleicher Weise kann auch analog verstanden werden, dass die ökozidale Gesellschaft verleugnet, dass sie ihre eigenen Kinder um ihre Zukunft bringt, dass sie das Leben der Menschen im Globalen Süden zerstört, aber irgendwie weiß sie es doch. Daher gleicht auch die Klimakrise im Ganzen einer emotional missbräuchlichen, narzisstischen Familie, wo der Vater (oder die Mutter) die Kinder in ihrer Eigenständigkeit, in ihrer eigenen Gefühlswelt missachten und negieren, sie in Tod und Krankheit treiben, und sie zuletzt auch psychisch manipulieren, dass doch eigentlich nichts schief läuft, man selbst vollkommen sei und wenn jemand was dagegen sagt, der Fehler bei denen ist, die widersprechen. Und die meisten in der Familie – etwa die Medien, die Universitäten, die Kultureinrichtungen tragen natürlich die Lügen des Narzissten mit, der das Ganze beherrscht – so könnte man sich die Familie Trump vorstellen. Oder das Verhältnis gleicht eben auch einer narzisstischen romantischen Beziehung. Narzissten können andere Subjekte nicht als solche anerkennen – sie missachten sie, und sie sind sehr fragil, wenn ihnen das Selbstbild, das sie haben – meist eine halb internalisierte Erwartung anderer ganz toll zu sein, nicht widergespiegelt wird, daher haben sie auch intensive Schamgefühle. Typisch für Narzissten ist auch die ständige Projektion und die Täter-Opfer-Umkehr, wenn es zum Konflikt kommt, auf welche Tadzio Müller auch immer wieder aufmerksam gemacht hat, was also die These weiter erhärtet. 6 (Opens in a new window) Narzissten erkennen mit anderen Worten bei allen, die ihnen widersprechen, schreckliche Narzissten, die sich über das Gesetz erheben, gerade weil sie dies selbst an sich nicht sehen können oder wollen, dass sie genau das tun. Daher sollte man vorsichtig sein, wenn man allenthalben verblendete und irrige Narzissten zu erkennen meint, wenn Leute einem widersprechen – es ist ein Index für den eigenen Narzissmus (auch wenn das nur ein unbefangener Experte zweifelsfrei feststellen kann).
Zu den Straßenblockaden von “Letzte Generation” passt der Fortsetzungsroman “Die Assis” #bitbeat von Martin Schmidt im hier geschilderten Sinne.
Jeder und jede, der oder die eine Straße blockiert, weiß, wovon ich hier schreibe, dass es in der Klimakrise zu Projektionen von Narzissmus kommt (Selbstgerechtigkeit, Autoritarismus, Überhöhung über andere usw. ist das, was man dann ständig vorgeworfen bekommt, neben verschiedenen Morddrohungen). Die Aggression, dass die Gesellschaft doch nicht ganz so vollkommen ist, wie sie meint, entlädt sich auf diejenigen, die ihr einen Spiegel vorhalten, indem das verleugnete Urteil über sich selbst auf den Hinweisgebenden übertragen und diesem aufgedrängt wird. In diesem gegebenen Fall ist es übrigens klar, wer verleugnet, denn es gibt ja die Klimaforschung – ein objektives Kriterium, um zu beurteilen, wer wirklich hier selbstgerecht und inhuman ist. Der Narzissmus ist wahrscheinlich im freudschen „Gebäude“ nirgends deutlicher zu greifen als im Bild des Urvaters in der Urhorde, der seine Söhne eifersüchtig terrorisiert und sich die Frauen des Stamms aneignet – das, wohin der männliche, heterosexuelle Narzissmus insgeheim strebt, die Weltherrschaft und die Herrschaft über alle Frauen der Welt. Mythologisch und künstlerisch verbildlicht ist er wahrscheinlich nirgendwo besser als in Saturn oder Kronos, der seine Kinder frisst, ein kleines Gleichnis für die heutige Situation in der aufziehenden Klimakatastrophe, in der größere Teile der Kontinentalmasse unbewohnbar werden und Milliarden Menschen ihre Heimat verlieren werden, also vor allem für die künftigen Menschen in diesen Gegenden eine Art Gefressenwerden, und auch eine Vertauschung oder Pervertierung des Verhältnisses von Eltern und Kindern – denn die Kinder sollten den Eltern wichtiger sein als umgekehrt. Es ist daher auch kein Wunder, dass bei Tadzio Müllers Werk eine Analogisierung des Verhältnisses Klimaaktivist-Gesellschaft mit einem toxischem Beziehungsverhältnis so gut funktioniert, wenngleich hier noch anzumerken wäre, dass es weniger ein Ich-Du-Verhältnis ist, aus dem man sich herauslösen könnte, wie Tadzio Müller meint, sondern eher ein Ich-Wir-Verhältnis, also von Teil und größerem Ganzen, das man ohnehin nicht verlassen kann.
Die Verleugnungsabwehr und ihre innige Verknüpfung um Fetischismus und Narzissmus lässt es auch zu, weitere Fäden in diesem Werk zusammenzuschnüren. Tatsächlich ist die Verleugungsabwehr konstitutiv für kapitalistische – aber auch allgemein repressive Gesellschaften (Müller spricht entsprechend davon, dass es überall in kapitalistischen Gesellschaften wegen der Arbeitsteilung ein Verdrängen gibt). 7 (Opens in a new window) Ständig muss das Leid und das Elend der unteren Klasse ausgeblendet werden, damit sich das Gewissen der Herrscher beruhigt; und ähnliches ließe sich auch für den Rassismus und den Sexismus behaupten. Marx hatte schon 1844 davon geschrieben, dass in der kapitalistischen Gesellschaft der Aspekt der Arbeit von den Kapitalisten ausgeblendet wird, den die Arbeiter dafür umso deutlicher wahrnehmen. 8 (Opens in a new window) Später nimmt der Warenfetisch eine ähnliche Aufgabe an. Überhaupt erscheinen im Kapitalismus Dinge, die durch Arbeit und historische Tat geschaffen sind, wie blanke Gegebenheiten, die sie nicht sind. Und eine Bedingung zum Aufbegehren ist es auch, diese gedankliche Mauer zu durchbrechen, welche alle vor dem Anblick der wahren Gesellschaft schützt. Benjamin hat in ähnlicher Façon von den Sichtblenden, die das Leben im vom Egoismus und Elend zerfressenen urbanen Paris erst möglich machen. 9 (Opens in a new window) Die marxistische Analyse heranzuziehen, bringt die Sichtblenden, die Verleugnungen auch in die Nähe der ausgearbeiteten Ideologien, welche Gedankengebäude sind, die für das Bildungsbürgertum genau diese Verleugnungsarbeit effektiv zustande bringen, man denke an Hegels oder Heideggers Philosophie, die alles hypostasiert und / oder vernebelt. Das Spektrum zwischen bloßem Ausblenden und den ausgearbeiteten Ideologien ist weit, hierin findet die illustre Arbeit der Ideologie statt. So gefasst, ist das Verleugnen (nach Müller: Verdrängen) aber ein uraltes Problem. Die uralte These, dass die Ideologie aus der Wirtschaftsweise stammt, ist ebenfalls plausibel: Die Gesellschaft braucht diese Ausblendungen, um sich bei all ihrer Ungleichheit zu stabilisieren und bringt sie deswegen auch hervor. Aber man sollte sich vor allzu schnellen Schlussfolgerungen hüten: Denn die marxistische Wirtschaftsanalyse ist nicht weniger falsch und veraltet als das ökonomische Evangelium, dass aus wirtschaftlichen Gründen der Kapitalismus einfach irgendwann in sich zusammenstürzen werde. Der Marxismus hält wertvolle Begriffe bereit, es ist aber durchaus möglich, diese herauszulösen, ohne ihn im Ganzen zu verfechten. Die Idee der Verleugnungsgesellschaft, die ich hiermit umreiße, lässt sich aber auch bei nichtmarxistischen Psychoanalytikern ausmachen. Der Psychoanalytiker Hans Joachim Maaz schreibt etwa: „Ich denke, dass die Wirtschaftsform, also das ständige Bestreben nach materiellem Wachstum eine Gesellschaftsform eines kollektiven Narzissmus geworden ist. Ich habe dafür den Begriff der Normopathie gefunden. Also dass eine Störung nicht mehr als Störung wahrgenommen wird, wenn eine Mehrheit davon betroffen ist. Dass eine Gesellschaft, die ein unbegrenztes materielles Wachstum fordert, kein Beziehungswachstum, die Folge einer narzisstischen Normopathie geworden ist.“
Die in Tadzio Müllers Buch entwickelte Idee der Arschlochgesellschaft, der sogar die Scham verlustig geworden ist, könnte dahingehend psychoanalytisch mit den sogenannten psychopathischen Zügen in Verbindung gebracht werden, welche eine Art Zuspitzung narzisstischer Züge sind, die sich dann davon abgelöst haben, auch nur zum Schein die Erwartungen anderer zu erfüllen. „Arschlöcher“ im Sinne von Müller sind Trumpisten, Faschisten und ähnliche, welche endgültig die Idee des Universalismus und der Menschenrechte und eigentlich jede moralische Bindung verachten. In meinen Texten (etwa im Grundentwurf der Liminal-Philosophie (Opens in a new window)) entspricht dies der isolierenden Einbunkerung (die zum Preppen und Bauen von Mauern neigt) und dem Doomerismus (der zur letzten großen Party neigt), also der enthemmten Form des Egoismus oder des Bösen im Zeichen des echten Bewusstseins der Klimakrise, ohne die Schäden – die Zerstörung halber Kontinente, die Verwüstung und Verelendung, die Auslöschung ganzer Ökosysteme, dann Völker und ihrer Heimat wegzureden – sie werden vielmehr einfach bewusst in Kauf genommen, statt sie auszublenden und schönzureden. Es ist das normalste der Welt, halbe Kontinente zur Wahrung des Privatkonsumkapitalismus, der touristischen Flüge und des allgemeinen Wohlstandes unbewohnbar zu machen! Es wäre aber zu leicht, den Faschisten von heute einfach dieses blanke konsumorientierte zynische Lustprinzip zu unterstellen, sich für andere nicht mehr zu interessieren, und nur noch für die eigene Sicherheit und das eigene Leben. Sie formieren sich locker zu faschistischen politischen Bewegungen, geben sich neue Werte – meist konservative oder rückwärtsgewandte Werte, hier greift etwa die Vision von Dugin, der „Traditionalismus“. Es gibt ein weites Spektrum zwischen der Schönreden der eigenen Tugendhaftigkeit, die noch Scham kennt, und dem blanken psychopathischen Bewusstsein, welches keinerlei moralische Hemmungen mehr hat, ein Spektrum, in den man viele Unterscheidungen und Etiketten bilden könnte. Das Bewusstsein um die Krise – das Aufbrechen der Scheuklappen, kann nämlich bewirken, dass Menschen anfangen, nicht sich selbst anhand der humanistischen Werte zu hinterfragen, gegen die sie offensichtlich verstoßen, weil sie an der ökozidalen Gesellschaft partizipieren, sondern ganz unmittelbar beginnen, auch diese abwerfen zu wollen. Es gibt viele Weisen den „Widerspruch“ zwischen ökozidaler Realität und dem Kitt an Werten zu lösen, den die demokratische und aufgeklärte Gesellschaft pflegt. 1. Entweder man redet die Schäden klein (die CDU), man redet sich ein, man würde alles verändern wollen und können, stünde auf der Seite der Klimaaktivisten, obwohl man selbst auch viel zu wenig tut (die Grünen) – die Verleugnungsabwehr, oder 2. man verwirft diese humanistischen Werte selbst, wird also nach Tadzio Müllers Worten ein „Arschloch“. Oder man wird 3. zu einem Klimaaktivisten oder hat Solidarität mit ihnen, also eigentlich zu einem Menschen, der solidarisch mit den Betroffenen der Klimakrise wird.
Zieht man, wie ich es häufiger tue, eine Analogie zwischen dem ersten Weltkrieg und der Klimakrise, als dem zweiten totalen Scheitern der bürgerlichen Gesellschaft, das für alle deutlich wird, dann ist dieses Phänomen der Entstehung der isolierenden Einbunkerung und des Doomerismus analog zur Tatsache, dass manche im Schützengraben der zerstörerischen Kriege begonnen haben, dies für das Normalste der Welt zu halten – ich denke an Ernst Jünger und die anderen frühen Faschisten. Die Faschisten kamen nicht aus dem Nichts – sie wurden geschaffen durch die selbst herbeigeführte Implosion der bürgerlichen Werte im Artilleriefeuer- und Giftgasnebel des ersten Weltkriegs. Und die Klimakrise ist – als menschengemachtes Resultat des Wettbewerbs der Nationalstaaten – insofern dem Weltkrieg nicht unähnlich, als dass sie auch ihre empathielosen Faschisten produziert. Der Schlaf der Vernunft produziert Monster.
Es ist klar, dass es verschiedene politisch-gesellschaftliche Maßnahmen und Möglichkeiten geben kann, Menschen aus der verblendeten Struktur des Narzissmus herauszubrechen, aus der Verleugnungsabwehr. Sie muss durchbrochen werden, um die Menschen zu erreichen, und sie insofern vor diese Wahl zu stellen, ob sie sich mit den Betroffenen der Krise solidarisch zeigen wollen oder nicht. Die Straßenblockade, die Straßenblockade am Flughafen und zuletzt die Flughafenlandebahnblockade sind tatsächlich solche Mittel. Sie alle versuchen, anstelle der Ausblendung das Mitleid und die Achtung gegen die Mitmenschen in der zeitlichen und räumlichen Ferne zu wecken – zu zeigen, dass wir eine Menschheit sind. Sie sind die Bedingung der Möglichkeit dafür, um aus diesem Schlaf zu erwachen, wenn auch sicher nicht der einzig denkbare – Weg, um dieses Erwachen herbeizuführen. Dass sie an ihre Grenzen stoßen, dass diese Wege bislang nicht ausreichten, um die Krise abzuwenden, ist ebenfalls klar.
Für die hiesige Frage besonders interessant dürften daher die Studien von Kohut zum Thema „Narzissmus“ sein, einer beispiellos präzisen und umfassenden psychoanalytischen Studie, die an Freud anknüpft und auch zeigt, wie sich Narzissmus „therapieren“ lässt, denn entgegen vielerlei Gerede (etwa von Freud selbst) ist Narzissmus wirklich therapierbar, wenn auch natürlich nur durch Experten und wenn es ein Minimum an Krankheitseinsicht und Wille gibt, sich zu ändern. Denn man könnte auch den Klimaaktivismus als eine Tätigkeit betrachten, die Gesellschaft mit der Realität zu konfrontieren, mit der Realität ihrer Unvollkommenheit und ihres Verbrechens gegen die kommenden Menschen, vor allem im Globalen Süden. Eine andere – in eine sehr andere Richtung strebende - Studie zum Narzissmus ist von Kernberg getätigt worden. Hier sind sicher viele weitere Forschungen sinnvoll und richtig, sie lassen vielleicht auch neue Strategien erwachsen, denn während Kohut eher eine Art Zuckerbrot anempfiehlt (und daher eher Fridays for Future entspricht, die zustimmt), so Kernberg eher die Konfrontation (und entspricht damit eher der Methode von der Letzten Generation, die stört), sie haben aber natürlich beide nicht bewusst diese „therapeutischen“ Strategien zur Narzissmus-Behandlung verwendet. Hier gibt es noch viel Arbeit für tiefere Analysen der ganzen Situation, ich reiße hier nur die Grundidee an. Althusser wird nämlich in einem Punkt sicher recht behalten: Wenn es wirklich einen Übergang in eine vollständig politisierte Gesellschaft geben soll, so kann dies nur darin bestehen, dass vorher die ideologische Mauer durchbrochen wird, welche die Gesellschaft psychisch und emotional am Laufen hält, das Schmieröl – dieses Gewirr aus Medien, Kultur- und Universitätsbetrieb, des Rechtswesens, der Politik und der anderen Organe, welche als legitimer Ausdruck des Volkswillens angesehen werden, als Produzenten einer demokratischen, fairen und in den Wohlstand strebenden Gesellschaft. Dazu eignet sich eben gerade die Klimaforschung und der Klimaaktivismus, welcher die Leute konfrontiert, die Klimaforschung entspricht dabei den „Gründe[n], aus denen wir gegen die Reaktionären rebellieren“ von heute. Dann, wenn diese Mauer durchbrochen ist, ist es nur noch ein kleiner Schritt, dass die Menschen aufhören, Privatbesitz, Parlamentarismus und Nationalstaaten für naturgegebene und notwendige Einrichtungen aufzufassen, an die sich halten, ohne auch nur einen Funken darüber nachzudenken, und die doch zugleich diesen kollektiven Ökozid herbeiführen. Dann ist es möglich, dann ist es greifbar, dass ein Klima-Generalstreik oder ein Zusammenhang aus überwältigend breitem Aktivismus die Gesellschaft aushebelt und einen System Change induziert. Althusser studierte dies in Über Reproduktion in Zusammenhang von 68 in Frankreich, dort sei, so seine Meinung, für einen Moment die Ideologie (im Sinne von Recht, Glaube an Parlamente und Scheuklappen von Religion, Medien usw.) zusammengebrochen – nur noch der repressive Staatsapparat habe alles davor bewahrt, dass Frankreichs Machtelite vollständig ausgehebelt worden ist. 10 (Opens in a new window) Damals musste De Gaulle mit einem Hubschrauber aus Paris fliehen, weil Arbeiter, Studenten und Schüler Paris zu erobern drohten. Indem Freud, Kohut, Kernberg und Althusser verknüpft werden – ließe sich vielleicht noch mehr tiefere Analyse leisten, was da eigentlich passiert, wenn Autofahrer auf der Straße ausflippen – und natürlich auch, warum manche Autofahrer im Unterschied dazu solidarisch sind. Klar ist aber, dass diese Ideologie, diese Scheuklappen nur ein Produkt der tiefer gehenden Machtverhältnisse sind. Zuerst machen die Menschen keine Transformation, wollen keine Wärmepumpen, obwohl es die Klimaforschung zeigt, dass deswegen Griechenland brennt, Indien zu einer Wüste wird usw., und dann konstruieren sie sich entsprechende Scheuklappen und zuletzt auch größere ideologische Konstrukte. Der Riss in dieser Ideologie muss also so schnell wie möglich ausgenützt werden, indem z.B. durch einen entschlossenen Streik der Staat auch physisch entmachtet wird und dann neue, demokratischere Strukturen greifen. Ansonsten wird sich dieser entweder bald durch neue Ideologie schließen, oder die rebellische Einsicht in die Realität wird selbst wieder trügerisch, d.i. zur Verschleierung der Verhältnisse tauglich – siehe die Aufnahme der 68er-Gedanken in die Universitäten und den Kulturbetrieb der Franzosen, wodurch die ehemals rebellischen Ideen, Bilder, Urteile zu einer Methode der Unterdrückung verunstaltet worden sind, aus denen wir uns heute erst lösen müssen. Auch wenn vieles der Hoffnungen scheiterte, kam es in Frankreich und im übrigen Europa zu einem beispiellosen kulturellen Fortschritt, für Frauen, für Homosexuelle, gegen den Rassismus – eine Errungenschaft, die heute leider ebenfalls unter Beschuss ist.
Zu dieser philosophischen Abhandlung passen die folgenden Gedichte und die Erzählung von Karina Finkenau, die wir an anderer Stelle in diesem Online-Magazin veröffentlicht haben:
Zuletzt möchte ich noch einmal einen Punkt hervorheben, den ich – durch die Schule von Badiou geprägt – vorbehaltlos und in jeder Hinsicht mit Tadzio Müller teile – dass es ein Primat der politischen Tätigkeit – der „Wahrheit der Politik“ gegenüber die intellektuellen – universitären, philosophischen oder sonstigen Theorie gibt. 11 (Opens in a new window) Anders gesagt, empfehle ich niemandem, sich unkritisch an die hiesigen Überlegungen zu halten, weil sie von einem philosophischen oder anderweitigen gedanklichen Diskurs kommen, der Psychoneurosen mit Politik kompossibilisiert oder vergleicht, Wissenschaften überkreuzt. Andrerseits ist aber klar, dass ein Rückgriff auf Wissenschaften – also nicht Philosophie oder die freie Überlegung! – für die Bildung neuer Aktionsformen sinnvoll sein kann, ja notwendig ist. So etwa die die Erforschung von zivilem Ungehorsam, die Klimaforschung, Ökonomie, Geschichte usw. unerlässlicher Referenzpunkt ist, um Strategien und Taktiken zu ersinnen. Aus dem bisherigen folgt aber, dass es sinnvoll sein könnte, auch die Psychoanalyse in ihrer Narzissmus-Theorie als Referenzpunkt heranzuziehen.
Müller, Zwischen friedlicher Sabotage und Kollaps S. 45. ↩︎ (Opens in a new window)
Freud, Gesammelte Werke 14, S. 311f. ↩︎ (Opens in a new window)
Müller, Zwischen friedlicher Sabotage und Kollaps S. 18. ↩︎ (Opens in a new window)
Zum Begriff der „Klima-Negationisten“ und „Klima-Quietisten“ vgl. Kampf um Gaia, Latour, S. 27. ↩︎ (Opens in a new window)
Zum Begriff der „Klima-Negationisten“ und „Klima-Quietisten“ vgl. Kampf um Gaia, Latour, S. 27. ↩︎ (Opens in a new window)
Müller, Zwischen friedlicher Sabotage und Kollaps S. 61. ↩︎ (Opens in a new window)
Müller, Zwischen friedlicher Sabotage und Kollaps S. 56. ↩︎ (Opens in a new window)
Marx, Politisch-Ökonmische Manuskripte in: MEW 40, S. 510f. ↩︎ (Opens in a new window)
Benjamin, Werke 1, S. 539. ↩︎ (Opens in a new window)
Althusser, Über Reproduktion, S. 290. ↩︎ (Opens in a new window)
Müller, Zwischen friedlicher Sabotage und Kollaps S. 173. ↩︎ (Opens in a new window)
Alex Niehoff-Toral
ist Philosoph, Autor & Künstler und engagiert sich auch in aktivistischen Kontexten für öko-faire Lebensweise und das gute Leben #füralle. Er promoviert zum französischen Philosophen Alain Badiou und ist Stipendiat der Rosa-Luxemburg-Stiftung.
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