Morgendämmerung (Erzählung & Bild)
(von Karina Finkenau)
Es ist eilig!
Hauptsache keine Kopfschmerzen!
Schnell, im Bad vor dem Spiegel das Hemd zurecht gerückt, ist irgendwo ein Fleck auf dem Jacket?
Oh man, ich seh’ es überhaupt nicht richtig in diesem Ökolicht. Ich werde die Birne wieder auswechseln, diese braucht zulange, um ihre Helligkeit zu erreichen, soviel Zeit für Umweltfreundlichkeit, wer soll das schaffen, wer kann sich das leisten?
Aus dem Radio wabern Wortfetzen hinter mir her von: “in Ruhe machen und sich besinnen, Selbstliebe….“ Ärgerlich haue ich auf den Knopf. Aus. So das hätten wir also.
Der Herd ist aus? Ich gucke trotzdem, obwohl ich ihn gar nicht angemacht hatte heute morgen, als ich mir sagte: „ein Kaffee to go muss reichen. “ Der Herd ist aus und doch schiebt sich der Film, er sei nicht aus, wie eine Mauer vor mein Denken. Wenn der Herd doch an wäre, Feuer, Gestank, Sirenen, Schreie, all mein Hab und Gut verbrannt, ….“ man konnte sich eigentlich auf ihn verlassen“ Ihn….also mich…., und dann…. , und die Nachbarn und ich …ich gehe nochmal zurück und kontrolliere den Herd….. ist doch neurotisch mein Verhalten! — Was soll’s,— lieber neurotisch als abgebrannt…….ist auch leichter verheimlichbar…
Das Kind in mir… oder wie sie so sagen ….Ist das Kind in mir nur noch Äußerung von Erkrankung.
Die Tasche dabei, die Fahrkarten, den Autoschlüssel. Ach Mist! Ausgerechnet heute hatte ich versprochen, die zwei Leute von nebenan mitzunehmen. Der Stress auch noch, Smalltalk und dämliche Fragen auf dem Weg zur Arbeit. Die einzigen ruhigen Minuten des Tages, —ich mit mir allein im Auto! Ich sollte das nicht machen, ich brauche die Ruhe im Auto!
da warten sie schon. Nach wiederholten Äußerungen des Dankes, blieb es still im Auto.
Daher fahre ich etwas gelassener auf den Zubringer und den Stadtring. Sollte gehen, alles gut in der Zeit. Heute ist meine Chance, die Besprechung, das Geschäft und dann Gehaltserhöhung. Eine Stufe hoch. Wurde auch Zeit. Von rot zu rot, geht es dennoch stetig voran.
Ein Glück so könnte ich noch in mein in Ruhe in mein Büro vor der Besprechung.
Nein, was ist das, rote Bremslichter und Hupen.
Ich fahre auf die Überholspur, nein! Leute auf der Straße mit Warnwesten. Nein! Bitte nicht!
Nicht heute, nicht bei mir, nicht jetzt! Nein! Ich bremse, ich stehe, ich gucke, stehe und schwitze…
obwohl es kalt ist ….überall orange— die beiden hinten im Auto stöhnen, das darf nicht wahr sein, nicht, nein und wir dachten, es wäre sicher, mit Dir zu fahren und jetzt das… nein!
Meinem Gesicht scheint jede Farbe entfallen. Vor mir sitzt eine Person auf der Straße, die Hände an der Straße festgeklebt.
Das Plakat der Letzten Generation kurz vor meinem Nummernschild, wieso bin ich so dicht daran gefahren? …der Unmut in mir nimmt zu. Vor den anderen Fahrbahnen sitzen auch festgeklebte Personen. …Polizeisirenen werden lauter… oh nein! In mir staut sich etwas gefährlich zusammen. Oh nein, nicht jetzt! nicht heute! Bitte lasst mich außen rum fahren, dann kann noch alles glatt gehen! Das Außenrum ist zu schmal. Der Mann im Nebenfahrzeug steigt brüllend aus dem Auto, „was soll das, so ein Scheiß! Ihr Idioten! Davon wird nichts besser! Alles nur noch schlimmer!“
Im anderen Auto schreit ein Kleinkind. Hinter mir steigt ein wild gestikulierender Typ aus und versucht, eine der festgeklebten Personen gewaltsam zu entfernen, abzureißen.
„Lassen sie das!“ beschwichtigt ein Herbeigeeilter, der vor einem austretendem Fuß zurückweichen muss. „Was wissen Sie schon,“ brüllt er mich wahllos an. „Selbst schuld, keiner wollte, dass sie sich festkleben, mich hält hier keiner auf, ich bin doch nicht bescheuert und lass mir von denen auf der Nase rumreiten!“ Er tritt nach dem Arm der festgeklebten Frau. „Von wegen letzte Generation, Idiotengeneration! Geht erst mal arbeiten! Schon mal was gehört von Verantwortung?“ mit hochrotem Kopf holt er sein Handy aus seinem Auto. Eine andere trommelt auf seine Motorhaube, „Hey mein Sohn hat heut Klassenfahrt, und meine Tochter eine Prüfung! Jetzt sind Sie es, ja Sie! er zeigt auf die Festgeklebten, die deren Chance und Zukunft versauen!“
Eine Frau schreit aus Ihrem Autofenster: „Ihr tut ja selbst nichts, gar nichts, sowas wie hier sitzen, muss man sich auch leisten können, Bonzenkinder verwöhnte! Von nix ’ne Ahnung, aber die Welt retten, das sind die Schlimmsten!“
Eine festgeklebte Frau sagt, “Ich verstehe, dass Sie sich aufregen und dass das Stress verursacht, aber was kann ich anderes tun, um Sie um Mithilfe zu bitten im Anblick der Gefahr, die auf uns alle zurollt? Leise im Kämmerlein sitzen bis es uns alle erwischt? Es tut uns leid, dass sie Stress haben. Wir wollen uns auch nicht festkleben, wir wollen auch lieber unsere Arbeit machen, aber wenn sich vor uns ein Abgrund auftut, in den wir unweigerlich stürzen werden, müssen wir doch Stopp schreien! Achtung brüllen! Halt, passt auf! Das wäre doch das einzig angemessene, normale und notwendige, automatische Verhalten! Wir haben sehr viele andere Wege probiert, aber haben kein Gehör erreicht. Es brennt lichterloh und wir rasen noch schneller in die Flammen! Wir wissen uns keinen anderen Rat! Als Stopp greifbar, fühlbar, erfahrbar, sichtbar zu machen. Ohne dass wir alle uns jetzt zusammentun und das Leben der Menschen auf Erden aktiv schützen, wird nichts zu retten bleiben! Wir müssen jetzt unsere Wirtschaft, unsere Aufmerksamkeit, unser Verhalten ändern, ansonsten gibt es plötzlich kein Morgen mehr! Wie sonst sollten wir euch wecken, wie bekämen wir eure Aufmerksamkeit für das, was da auf uns zurollt? Wie erfasstet ihr die Dringlichkeit der Lage? Es geht uns um Euch! um uns alle! Wir müssen jetzt handeln bevor etwas brutal Zerstörendes Stopp sagt, Wassermassen, Flammen, Sterben.“
„Jaja“ ein wütender Herr spuckt in Richtung der Festgeklebten, „weil’s um uns geht, jaja, das ich nicht lache, rücksichtlose Wichtigmacherei!“
Eine Frau brüllt, „was kann ich dafür, den ganzen Umweltdreck und alles ich hab nix damit zu tun!“
„Ihr trefft die Falschen!“ rief einer.
„Es gibt keine Falschen,“ erwidert eine Festgeklebte. „Es gibt nur eine Menschheit! Heute sind es nur ein zwei Stündchen, die Ihr aufgehalten werdet! Ein Blockiert-sein, weil wir umkehren müssen, jetzt, weil wir mit euch die Augen öffnen wollen, diese Stunde lang, damit nicht ganze Leben aufgehalten, verloren werden, euer Zuhause, euer Leben!“
Auf einem hochgehaltenen Transparent steht: „Wir alle sind eine Menschheit, nur gemeinsam schaffen wir die Veränderung, die wir zum Überleben brauchen.“
Auf einem anderen steht, „Wann, wie sollen wir uns mit euch zusammentun?! Wenn nicht jetzt?! Wenn nicht hier?! Wenn nicht mit mittels einer Unterbrechung des dahineilenden Alltags?!“
Eine halbe Stunde ist vergangen, der Flug meiner Autoinsassen wird, wenn es so weiter geht, ohne sie fliegen, sie haben 2 Jahre darauf gespart.
Mein Chef ist wohl inzwischen in der Besprechung, die Gehaltserhöhungsfrage kann ich mir jetzt wohl sparen.
….nur keinen Herzinfarkt jetzt, das nützt jetzt auch nichts.
Die Polizei wird sie wegtragen, dann geht es weiter. Zurückfahren geht auch nicht mehr. Drei Autos sind bei solchen Versuchen ineinander gefahren.
Eine Frau stillt ihr Kind am Straßenrand. Ihr Mann räumt den Kinderwagen aus dem Auto, damit seine Frau mit dem Kind zu Fuß weitergehen kann.
Meine Insassen stürmen auch zu Fuß aus dem Auto mit ihrem Gepäck. Einer brüllt: „Wegen Euch verpassen wir alles! ihr Egomanen! So lange haben wir malocht und gespart und jetzt ist auch noch das in die Tonne getreten, obwohl wir nicht die Verursacher sind, Immer trifft es die kleinen…“
„Die Kleinen zuerst, ja, aber dann trifft es alle“, sagt der Festgeklebte.
„Die Armen zuerst, die Malocher zuerst, und während das passiert, schauen noch alle gekonnt weg. Aber wenn der Kipppunkt überschritten ist, trifft es alle. Ihr merkt heute, werdet heute darauf aufmerksam gemacht. So gesehen seid ihr privilegierte Merker, denn ihr erfahrt, erfühlt, begreift es vor anderen, versteht ihr nicht?, ihr erhaltet jetzt gerade eine Chance, die wir teuer, teuer für euch erkleben.“
Die Beiden waren längst weg gerannt in der Hoffnung, doch noch irgendwie zum Flughafen zu kommen.
Mir jedoch saßen die Worte im Ohr, „es trifft!“…. Es hatte mich getroffen, vollkommen unerwünscht, unerwartet, unvorbereitet, ja geradezu hilflos stand ich zwischen Fremden neben meinem Auto, in einer fremden Situation, wie erstarrt ein bisschen, was jetzt tun? Ich wusste es nicht. Ich war jetzt hier, also betroffen, also getroffen! also auf irgendeine Weise mit dem Gemeinten verbunden… ich dachte an jene Frau vor dem Lehrerzimmer, sie hatte mich angeschrien und den Schüler gemeint. Aber da sie mich zufällig mal mit dem Schüler an einer Ampel gesehen hatte, dachte sie, wir würden irgendwie zusammengehören, und entlud ihre aufgestaute Wut an mir. Ich war nicht der, dem die Wut galt, hatte zufällig ihren Weg gekreuzt, und war eben jetzt plötzlich damit konfrontiert, was er ganz woanders ausgelöst hatte.
Wir sind halt alle Menschen und allein damit in Verbundenheiten.
Einfach so, war ich der Mensch, der eben dort an der Tür stand, und sie der Mensch, der sich entladen musste, um nicht zu platzen. In jedem Fall war es die Situation, in der ich mich befand, um damit umgehen zu müssen mit eben den Fähigkeiten und Unfähigkeiten, die ich hatte, musste ich damit umgehen, auch mit dem Nicht-Gewussten und Nicht-Gemeinten, egal ob ich damit umgehen kann oder nicht. Und jetzt steh ich hier vor dem festgeklebten Menschen. Es fuhr mir in den Kopf, „wieso ich?, wieso steh ich hier, wieso es trifft es mich ausgerechnet, eigentlich betrifft es mich doch gar nicht?, aber jetzt betrifft es genau mich!“
Was heißt das?, wieder Kopfschmerzen. Ich habe sie ja meistens, morgens, spätestens im Büro und auf jeden Fall in der Besprechung. Jetzt nehme ich die Tablette eben hier, und zog die Schachtel aus der Jackentasche… mein Vater hatte dort immer seinen Pass und ich trage in der Tasche Kopfschmerztabletten. Die waren eben der heutige Pass, für ihn war das Sich-immer-und-jederzeit-ausweisen-können lebensnotwendig, für mich war das unbedingte Mit-halten können, Durch-halten können, Nicht-aus-dem-Räderwerk-fallen der Ausweis ins Leben geworden ….
Weiter hinten streiten sich zwei Männer fürchterlich über die Situation.
Ein mutiges Mädchen rennt zu einer festgeklebten Frau und sagt: „bitte lassen Sie meine Mutter durch, mein Vater wird sie furchtbar schlagen, wenn sie nicht rechtzeitig zuhause ist!“
Die Festgeklebte ruft einen der am Rand Demonstrierenden zu sich. Dieser geht, nachdem er verstanden hat, mit dem Mädchen zum Auto der Mutter, die heftig zittert. Er beruhigt sie offenbar und spricht einen Polizisten an, der die Autoschlüssel der Mutter an sich nimmt, und sie und das Mädchen vor die Absperrung führt. Er verspricht das Auto, sobald es wieder frei zu bewegen ist, an die Adresse der Mutter zu bringen, und bestellt Tochter und Mutter ein Taxi vor die Sperrung. Beide fahren ab und er telefoniert mit der Polizeizentrale, eine Kollegin von dort wird sich um den Fall kümmern, häusliche Gewalt und so weiter …
Ein junger Mann platzt offensichtlich, “wir hauen sie weg, diese Luschenpolizei tut wieder mal nichts! Vor Kriminellen einknicken, die werden mit Samthandschuhen angepackt! Guckt euch das Pack an!, die da vorne mit den schwarzen Haaren, ist sicher auch noch so eine Ausländerschlampe, hier absahnen wollen und das Maul aufreißen.. Ich zeig jetzt mal, wo der Hammer hängt.“ Ein alter Herr brüllt, genau, die wollen die bloß auf der Wache haben in sicherem Gebäude für sich haben, das weiß man doch, Schweinepolizei und unsereins wird für sowas eingelocht!“
Ich steige ins Auto und schließe die Tür, bin plötzlich sehr aufgewühlt, was geht hier vor? Mich dem Verhalten der anderen anschließen, wäre ein Weg, ein leichter Weg, denn ich kochte innerlich, mir ist zum brüllen! Wut ausleben gegen alle, die dort Sitzen. Sie haben uns hineingebracht in dieses Hochkochen! Sie sind schuld! Und festkleben, wie kann man sich festkleben?! Sie können auch nicht weg, ich könnte weglaufen wenigstens, ohne Auto. Sie sind festgeklebt, sie können nur sitzen bleiben oder ihre eigene Innenhand abreißen, egal was passiert, wir könnten über sie trampeln, über sie fahren, sie bespucken, beschimpfen in dem Chaos. Wer tut sich sowas freiwillig an?
Mir ist elend, wohin führte das alles, würde ich mich dann wirklich stark, besser fühlen, wenn ich auf diese Festgeklebten eindreschen würde? Wenn ich Ihnen an den Kopf knallte, was Sie mir jetzt alles versauen?
Wenn ich Ihre Hände abrisse und schrie, „so jetzt wisst ihr’s! Kein Platz in dieser Welt für Aufhalten, für Eile-Bremsen, erst recht nicht für Anhalten dieses Wirtschaftsgetriebes! Auch nicht aus Vorwarnung oder Rettungsabsicht, sollte doch jeder für sich alleine sehen, wie er zurechtkommt und was dabei rauskommt, bloß weiter in Hast, ja nicht aus dem Getriebe fallen.
Wirtschaft ist Arbeit am offenen Herzen, dort geoutet sein ist der Tod, Sturz aus der Gesellschaft, Verlust der Existenz! Was ist schon Klimakrise dagegen?
Abreißen, die Hände und wegschupsen und über die Hautfetzen fahren, die auf der Straße kleben bleiben. Menschenhandinnenflächen voller Schicksalslinien und Erkennungsmerkmalen, individuelle Einzigartigkeitsmerkmale. Ich sah auf den geschundenen Teer der Straße, empfand Ekel vor meinen Gedanken. Für Weiter-fahren-können, ließe ich Menschsein an der Straße kleben?! Der Mensch passt sowieso nicht in seinen zarten Linien, fühlenden Handinnenflächen in diese Kapitalwelt! Hier braucht es Fäuste, Ellbogen, nicht gereichte Hände!
Platt fahren, den Mensch verraten! Verraten in seinem Wert!
Wofür? Für dieses System, in dem ich ein winzigstes Schräubchen bin, das wild paddelnd immer nur allem hinterher eilt, sich aufreibt, sich abreißt von sich selbst, sich schleppt, seiner Implosion entgegen?!
Implodieren durfte man in dieser Welt, aber explodieren nicht. Und diese da vor mir, die so unverschämt offen ihr Menschsein auf die Straße kleben, ihre Angst, ihre Lebenshoffnung, vor meinem Auto leben, ja sogar kleben, dass mir nichts bleibt, als hinzusehen und auch noch warten. Das ist das Übel, sie triggern das kleine Stückchen Inneres, an dem ich noch Mensch bin. „Dafür gehört ihr verboten, ins Gefängnis, überfahren.“
Einen Menschen darf man nicht überfahren, aber alle Menschen schon.
Sie stellen die beruhigenden Gesetze in Frage, und erinnern daran, dass das Gesetz für den Menschen gemacht sein sollte und nicht gegen ihn. Auch sollte der Mensch nicht für das Gesetz zusammengeschustert werden. Sondern das Gesetz sollte sein, um ihn zu schützen. Diese Klimakleber, (Klimakleber ist schon eine reduzierende Bezeichnung, die ein wenig das Menschsein aus dem allgemeinen Fokus wischt), diese Menschen, die sich festkleben, erinnern uns an Stellung-nehmen-müssen, an unbequeme Eigenverantwortung. Vor unsere Stoßstangen, Autohauben, unsere Sicherheiten gesetzt, rufen sie uns quasi auf zum Explodieren. Aber die Explosion sollte gegen ein totbringendes System gewendet werden. Eben nicht gegen diese Rufer! Und nun — sie selbst können nicht ohne Hilfe fliehen, nicht wegrennen, sie haben sich verletzbar gemacht, zeigen die Verletzlichkeit des Menschen, und unsere Unmöglichkeit, der Situation zu entkommen. Wenn wir sie niederschreien, gegen sie fahren, sie können nicht weg, sie sind festgeklebt. Sie haben ihre Fluchtmöglichkeit vor der Wahrheit und vor dem Menschsein für sich selbst verhindert. In dieser Situation gegen sie vorzugehen, würde feige sein, würde unseren Hass entlarven. Unsere Entfremdung der Bewusstheit von Wert und Nicht-Wert aufdecken, unsere Versklavung durch das Kapital zeigen.
Mein Herz schlug nicht mehr so heftig. Wie oft stand ich schon im Stau, was ich auch hasse, aber das musste man hinnehmen, gehörte dazu, keiner hatte Schuld. Aber hier gab es Schuldige, schwarze Schafe und so viele, dass die Straße blockiert war.
Ich rufe im Büro an, die Sekretärin sagt leise zu mir, „es gäbe keine Ausrede und keine Entschuldigung, er habe sehr geschimpft, das Ding wäre gelaufen, ausgerechnet heute hätte er sich auf mich verlassen, er habe den neuen Kollegen jetzt in die Besprechung mitgenommen und…. und damit wäre ja klar, wer die nächste Gehaltsstufe erreicht habe…. das wichtigste Geschäft des Ladens habe er aufs Spiel gesetzt…..es täte ihr leid,“ sagte sie und fügte hinzu, „da sehen Sie, wen diese verrückten Straßenkleber treffen,“ Terrorismus ist das.
Mir läuft kalter Schweiß, ich schlage mir vor den Kopf, „scheiße“! brülle ich und bin kurz davor, mein Handy auf die Straße zu donnern.
„Es tut mir leid“, sagt der vor mir sitzende Mann besorgt, voller Mitgefühl. Ich sehe ihn auf einmal an, glücklich scheint er nicht zu sein. Auch nicht stolz. Kurz überkommt mich das Verlangen, mich neben ihn zusetzen und hemmungslos zu weinen. — Wasser auf den Teer.
„Warum hat er sich und nicht mich festgeklebt?!“ dachte ich plötzlich, „dann wäre ich Opfer, und wer weiß was. So bin ich nur blöd, zu blöd, zu blöd, sich aufzulehnen, zu blöd, mich zu befreien, zu blöd, meinen Job zu halten, zu blöd, etwas auszusagen, zu bewegen, zu blöd zum Ausgehaltenwerden, muss dumm rumstehen und warten. Und ändern?! Würde denn ich was ändern an dieser Lage, diesem Schlamassel, dieser festgefahrenen Kapitalwelt?….. und wie auch?…..warum geben die Politiker nicht einfach ihren Forderungen nach, Erpressung hin oder her, es sind doch so kleine Forderungen und welche, die eh irgendwann umgesetzt werden müssen. Sie entführen keinen, ermorden keinen, zerstören nichts. Sitzen nur dem durchgetakteten Alltag im Wege. Erzwingen Atempause und Aufmerksamkeit, weisen auf Realität hin und Notwendigkeit, warnen uns, um uns zu retten, ist das Terror?
Mein Wille ist hier durch Wollen, weshalb auch immer und ihr Wille ist, die Welt für das Überleben von Mensch, Tier und Pflanze zu erhalten. Wer hat nun das bessere Argument, wen interessiert das Geschäft meiner Firma? Interessiert meine Firma sich für die Welt? Vor allem interessiert alle Beteiligten in meiner Firma nur das Geld, das sie dabei erhalten würden und das Prestige.
Im Auto schräg hinter mir sitzt ein Vater mit drei kleinen Kindern. Nach Streitigkeiten, Gekeife, Geweine hat der Vater sie aus ihren Sitzen klettern lassen. Nun sitzen sie alle vergnügt vorne auf dem Fahrersitz und Beifahrersitz, der Kleinste spielt Auto fahren, die Größeren denken sich allen möglichen Quatsch aus. Jetzt aber sind sie angekommen bei den Fragen: „warum machen die das? Was wollen die? Warum geht es der Welt so schlecht? Geht es der Welt wirklich so schlecht? Müssen wir vielleicht sterben, wenn wir gerade mit der Schule fertig sind?“ Der Vater ist blass geworden und sichtlich überfordert, sucht verzweifelt nach Süßigkeiten. Ein netter Lastwagenfahrer hinter ihm rettet ihn mit einer Tafel Schokolade.
Eine ältere Dame braucht dringend eine Toilette. Eine junge Frau steigt aus ihrem Wagen mit einer großen Decke und führt die Dame zum Mittelstreifen, der ein wenig mit Gras bewachsen ist. Eine andere Frau ahnt ihr Vorhaben und kommt dazu. Beide Frauen halten die Decke so um die Dame, dass ein Klokabuff entsteht und die Dame nicht mehr zu sehen ist.
Eine gute Problemlösung, denke ich und bin beruhigt, dass falls…. usw. ….es alles unpeinlich gehen könnte. Ein Kind aus dem Auto fragt mit dem Mund voll Schokolade, was ist, Papa, wenn ein Klimakleber mal muss? Halten wir dann ein Decke um ihn, aber wenn die Decke weg ist, ist er ja trotzdem mit nassen Hosen in einer Pfütze, weil er ja gar nicht weg kann, er ist ja festgeklebt.“
Die Polizei verhandelt inzwischen mit den Demonstranten und ebenso mit den erneut sehr aufgebrachten Fahrer:innen, die sie zur Ruhe zu bringen versucht. „Wenn sie hier gewaltsam vorgehen gegen die Demonstranten,“ sagt ein Polizist zu einem Fahrer mit hochrotem Kopf, „bekommen sie eine Anzeige wegen gewaltanwendender Nötigung!“ Wir beginnen mit Vorankündigung nach Vorschrift, die Demonstranten von der Straße zu befreien und fortzutragen, es dauert noch mindestens 40, eher 80 Minuten, stellen Sie sich darauf ein.“
Mein Blick fällt auf den Festgeklebten, der still vor meinem Auto sitzt. Mutig, denke ich. Geradezu sich ausliefernd, sich vollständig bekennend. Was denkt er bloß? Warum macht er das? Würde ich mich das trauen?
Die Lage beruhigt sich etwas, die Polizei hatte angesagt, mit der Räumung zu beginnen. Eine junge Frau steigt aus ihrem Auto und wendet sich an die Festgeklebten. „Setzt euch doch vor die Bonzen-Häuser, vor die Aktienbanken, vor Bayer von mir aus! Blockiert doch die Hauptverursacher“.
Ein Demonstrant zieht aus einer Rolle ein großes Tuch, dass er mit einem zweiten Mann ausbreitet und hochhält. Darauf steht: „Wir brauchen euch! Euch alle, die ihr die Gesellschaften tragt im Alltag, die ihr wählt, die ihr die versorgende, aufrechthaltende Arbeit macht, wir brauchen euch alle, um zu den Hauptverursachern zu gehen! Wir müssen viele sein, nur mit euch allen schaffen wir es gegen diese Giganten! Wir, alle Kleinen! Zusammen können wir den Goliaths dieser Welt Einhalt gebieten! Deshalb sind wir hier!
Alle Demonstranten singen, „come together right now!“ Plötzlich läuft mir eine Gänsehaut über den Rücken. Ich verstehe, es braucht alle, es braucht jeden. Nur in der Masse käme die notwendige Änderung, es ist eine Notwendigkeit, eine geschichtliche Situation und Bewegung! Wo will ich stehen? Vielleicht ja eigentlich doch hier! Die Massen müssen aufstehen, aber die Masse ist müde, überarbeitet, ausgezehrt. Deshalb kleben sie sich hier fest, ist es so, weil ihnen nichts anderes mehr bleibt. Weil sie das eigentlich Kriminelle der Regierungen nicht mehr aushalten, nicht mehr unangeklagt stehen lassen können. Sind sie die Einzigen, die es noch aus dieser Kapitalismusblase wagen, ist es ihr letztes Aufbäumen, ihre letzte Hoffnung? Und ihre schwere quälende Erkenntnis, dass die von allen gewählte, Verantwortung übernehmende Politik, eine kriminelle Taten begehende Regierung ist und war über Jahrzehnte hinaus.
Dort sitzen sie, und ich will wahrlich keiner von Ihnen sein, ich würde es nicht aushalten, festgeklebt an der Straße. Sie aber sind mutig, zu spiegeln, sie sind uns noch zugeneigt, allen, bemühen sich um uns, für uns, schätzen uns wert, glauben an unsere Wandlungskraft, an unsere Schaffensmöglichkeit, ein bisschen wie Kapitäne, die bis zum letzten Moment auf Rettung für alle hoffen und alles geben.
Diese Festgeklebten spiegeln unser wahres Festgeklebt-sein an Geld, an Kapital, an Profit, an Profil, an ein ewiges Mehr und Weiter auf Kosten des Lebens.
Ein Abgrund geht in mir auf, was, wenn sie recht haben und meine Kinder?…. und Flutwellen… und …—…..ich würde vielleicht schon tot sein, aber sie und meine Enkel wären auf einer Flucht vor dem Untergang ihr Leben lang und ohne Hoffnung, ohne Zukunft, in einer zerberstenden Welt?!
Ich fasse meinen Mut zusammen, trete einen Schritt näher zu dem festgeklebten Mann, … und ich schaffe es…., es ist mein Mund, aus dem das Wort: „Danke!“ kommt.
Ich gehe zurück ins Auto, der Festgeklebte schaut zu mir und ruft: „ich heiße Franz und neben mir sitzt Aylie“, sie winkt mir zu mit der freien Hand. Sie lächelt freundlich.
Endlich kommen die Polizisten mit der Lösemittel für den Kleber an den Händen.
Ich sehe genau, wie es gemacht wird und bin doch froh, dass es nicht meine Hand ist. Wie dankbar ich der Demokratie bin auf einmal, dass ein vorsichtiges Beseitigen Vorschrift ist, dass es all die Schutzmaßnahmen gegen das blinde Toben von Emotionen gibt, dass Freiheit dadurch sein kann, dass ein wahlloses miteinander Umgehen nicht möglich ist, das Achtung Allem und Allen zusteht! Dass jeder Mensch Würde hat. Und diese Würde Niemandem niemals genommen werden darf!
Diese festgeklebten Hände hatten so etwas Offenlegendes, die den Teer dunkelfärbende Flüssigkeit das Warten, die vorsichtigen Ablösungsversuche. --Hände! Sie haben etwas Zerbrechliches. Ich denke daran, wie meine erste große Liebe meine Hände betrachtet hatte und gesagt hatte, „es sind deine Hände, in die ich mich zuerst verliebt habe. Ich achte sehr auf Hände, man sieht soviel daran.“ Vor dieses Bild schiebt sich plötzlich ein anderes, als die erste Hand abgelöst ist und, einerseits bleich andererseits rot, und geschwollen abgelöst, erhoben war.
Ich denke an die Fensterscheibe in einem Film, in dem man eine Hand auf der anderen Seite einer Fensterglasscheibe sah. Die Handinnenfläche und Linien sah man deutlich, bevor sie verschwamm durch all das aus ihr rinnende Blut und langsame Spuren ziehend hinunterrutschte. Das Bild konnte ich nicht vergessen und jetzt schüttelt es mich geradezu.
Die zweite Hand wurde abgelöst und zwei Polizisten kamen um den ersten Klimakleber-Menschen fortzutragen. Auf der Straße die zwei handtellergroßen feuchten Stellen. Ich gehe ins Auto Schutz suchend vor meiner inneren Bewegung. Ich habe geradezu Mühe, meine Hände auf das Lenkrad zu legen, tue es aber und lege auch meine Stirn hinauf, sichtlich erschöpft warte ich, Sehnsucht nach meinem Zimmer…..Die Demonstranten rufen, „wir sind bei dir, wir sind bei dir, Du bist nicht allein,“ bis dieser Erste im Polizeiwagen verschwindet. Sie singen, „we shall overcome“ , und andere Texte. Bald würde es weitergehen, ich würde über die feuchten Stellen fahren als einer der ersten. Wohin fahren? Würde ich zur Arbeit fahren? Ich denke schon. Ich bin irgendwie verwundet, aufgewühlt unsicher. Und ich fühle mich einsam, einsam mit einer viel zu großen Welt, in viel zu großen Verwicklungen und Aufgaben. Fühlen die sich festklebenden Menschen sich einsam? Naja sie sind eine Gruppe, da ist man ja immer im Zusammen geborgen usw., aber es war mir nicht so vorgekommen, als würde das Mehrere-sein ihre Einsamkeit aufheben! Es war mir vorgekommen, als akzeptierten sie eine viel größere Einsamkeit als die, die ich jetzt fühle. Endloses Räderwerk — immer, immer alles fürs Geld, fürs Geld, denke ich und war noch, ist noch?
Ich halte an einer Ampel, rot!
Mein Blick fällt auf meine Hände, festgeklebt ohne Kleber an einem Steuerrad! Lenke ich denn wirklich?… Oder werde ich nur noch gelenkt?! Wohin will ich?!
Als Junge wollte ich unbedingt Auto fahren können, um selbstständig an den nächsten Fluss fahren zu können und nach Schätzen zu suchen. Eben ohne meine Eltern, die mich immer zu früh nach Hause nehmen wollten und dann auch noch entschieden, nichts von meinen so zauberhaften Funden mitzunehmen, mit den, die Dinge beleidigenden Worten, dieses Zeugs hätte nichts in der Wohnung zu suchen.
Grün! Ich fahre weiter. Damals hatte ich gelebt und jetzt ich war schon seit Ewigkeiten an keinen Fluss gefahren, geschweige denn, Schätze zu suchen,… und glückliche Erfülltheit zu finden, auch nur für einen winzigen Moment. Ich fahre stets nur zum Supermarkt, zu den Eltern, zur Schule. Die Fahrten sind immer in Eile, komme überall abgehetzt an, suche stundenlang nach Parkplätzen und zahle Strafzettel, weil ich nach zwanzig parkplatzlosen Runden dringend eine Toilette aufsuchen muss usw.
Heute ist ein Parkplatz direkt vor dem Büro, was mir eigentlich nicht recht ist, denn mein Wagen gibt nichts her, im Gegenteil, ich möchte nicht, dass sie mein Auto registrieren und mich womöglich damit identifizieren. Nun ja, ist jetzt auch egal. Ich gehe in mein Büro. Die Sekretärin ist in der Mittagspause oder sogar auch mit in die Besprechung, Protokoll schreiben usw. niemand da also. Besser so, die gelungenen Vertragsabschlüsse begießen sie sicher noch danach. Ich falle in meinen Schreibtischstuhl und schaue vor mich hin. Kann es der Anfang für eine Neue Zeit sein?
Haben diese Menschen, die sich an der Straße festklebten, in Wahrheit meine Hände, doch auch sehr vorsichtig vom Lenkrad gelöst? und nicht nur meine Hände, meinen Kopf auch und mein Herz. Der Junge damals bewunderte das Leben, die Möglichkeit überhaupt einer Welt, die ihn umgab, in der er war. Und er wollte ein bemerkenswerter, ein Mensch werden, den man wertschätzen würde, den man lieben würde. Und damals verstand er noch, dass auch er selbst immer dann glücklich war, wenn er liebte, wenn er mitwirkte, wenn er einen Sinn in sich und den Anderen und den Dingen sah. Wie konnte daraus ein niedergedrückter, zereilter, gleichgültiger, immer nur müder, fast hoffnungsloser Mann werden?
Er sortierte seinen Schreibtisch, räumte alles ordentlich auf, wischte den Tisch ab und die Fensterbank und verließ das Büro. Sein Auto ließ er stehen und ging leichter werdenden Schrittes durch die Stadt. Im ersten großen Kaufhaus kaufte er sich eine orangene Strickjacke, — für den Anfang, dachte er, und eine orangene Krawatte, für die nächsten Geschäfte. Als Nächstes ging er in einen Laden mit Stempeln und Aufnähern und einer Stickerei. „Können Sie mir bitte, folgende Buchstaben in tiefem Dunkelblau sowohl auf die Jacke, als auch auf die Krawatte nähen? L.G. — nein — h. e. N. G. M. (Letzte Generation -nein- hinüberführende erste Neue Generation Morgendämmerung) und darunter in großen Buchstaben MORGENDÄMMERUNG! Der Schneider stutzte und sah ihn skeptisch an, „naja schönes Wort und schön wär’s! In einer halben Stunde können Sie es abholen.”
„Sehr gut!“, sichtlich vergnügt ging er in das nächste Blumengeschäft und kaufte sich einen jungen Zimmerbaum und Tütchen mit Blumensamen und einen Strauß für seine Frau, das hatte er lange nicht getan, „ach geben Sie mir noch zwei von diesen schönen Stengeln“, „das ist Rittersporn,“ sagte die Gärtnerin. „Wenn Sie sie bitte einzeln verpacken können, einen für meinen Sohn und eine für meine Tochter.“ „wie schön!“ sagte die Verkäuferin. Er holte vergnügt die Jacke und die Krawatte ab, und in seinem Büro angekommen, sagte er zu sich selbst, „ein bisschen Schätze finden, kann ich vielleicht doch noch in gewisser Weise, auf jeden Fall kann ich es wieder üben. „Er stellte den Baum auf die Bürofensterbank. Schloss sein Zimmer und stieg ins Auto mit dem Blumenstrauß und den Ritterspornen. „Sie werden denken, ich hätte die Gehaltserhöhung bekommen,“ dachte er, aber laut sagte er , “Gehalt nicht, aber Erhöhung ja! Erhöhung ja! Jetzt würde es knapper werden mit dem Geld zuhause, aber man kann viel tun, wenn man nicht vollkommen festklebt! Man kann immer wieder beginnen, sich aufmachen und Welten retten!“ Er sang auf einmal laut vor sich hin, irgendeinen Song aus seiner Jugend. „Soviel Luft auf einmal, soviel Raum zu atmen, und die Möglichkeit etwas abzugeben, zu schenken, zu versuchen, zu öffnen, zu verändern, umzusetzen, zu hoffen,…….. Morgendämmerung! „Ich werde………“
Karina Finkenau
Philosophin, Künstlerin & Schriftstellerin
Die Brücken über die Wunden
sind die Schöpferkraft
die nach vorne gehende Tat
die Halt bietet
Karina Finkenau
Wie RÜCKENWIND entwickelt wurde …
Im April / Mai 2024 gab es erste Ideen zur Kampagne graswurzelpresse.
Im Juni / Juli 2024 gründete sich das Kolloquium RÜCKENWIND und entwickelte die Idee, das Online-Magazin RÜCKENWIND herauszubringen.