Max Winter - Eine Nacht im Asyl für Obdachlose (1898)
Liebe Leserinnen, liebe Leser,
ich habe in den letzten Wochen viel Max Winter gelesen und im letzten Monat ging es mit ihm bereits in eine Wiener Branntweinschänke (Opens in a new window). Heute gibt es gewissermaßen einen Klassiker der Reportage, aber dafür eine der Pioniere des Genres: Max Winter verbringt eine Nacht in einem Obdachlosenasyl. Ich habe festgestellt, dass ich euch noch gar keine derartige Reportage gesendet habe, von daher werden in den nächsten Monaten einige kommen.
Hat dir diese Reportage gefallen? Dann leite die E-Mail einfach an einen lieben Menschen weiter, den sie auch interessieren könnte!
Arbeiter-Zeitung vom Nr. 355 vom 25. 12. 1898
Obdachlos! Ohne Mittel sich ein Obdach zu schaffen! Hungrig! Frierend in den leichten Kleidern – man sollte glauben, daß solches Elend keine Steigerung mehr vertrüge, und doch gibt es noch schlimmeres, das fast jede Gemeinschaft mit Menschen ausschließt... Es ist 4 Uhr Nachmittags. Der Dezembertag geht seinem Ende zu. In der Blattgasse unter den Weißgärbern stehen wir – 300 Männer, Burschen und Greise, in qualvoller Enge aneinandergepreßt, einer dem anderen unsere Lebenswärme mittheilend, ein Haufen dunstender Leiber, und warten auf Einlaß in das Asyl für Obdachlose. Obdach für die nächste Nacht, das ist unser Gedanke. Die erste Reihe steht hart am Trottoir, wir Rückwärtigen stehen auf der feuchtkalten Straße. Ich hatte Elendsmaskerade angelegt und mochte ganz stilgerecht aussehen. In den Füßen friere ich; doch das Gesicht glüht. Der Geruch des Elends umfängt uns. Mir verschlägt das Gemisch von Fuseldunst, Schweißgeruch und der Ausdünstung alter Wäsche und Kleider eine Weile den Athem. Es wird Luft. Ein Flügel des Asylthores öffnet sich. Eine Kappe auf dem Kopf, erscheint der Hausvater in der Thüröffnung und ruft in die Menge: «Karten wer hat!?» Ruhig, ohne zu drängen, treten etwa hundert Männer vor. Jeder weist eine kleine braune Karte vor, der Asylvater zwickt sie ein, die Gäste rücken an den Hüten und gehen dann in den hellerleuchteten Flur. Dann schließt der Verwalter wieder die Thür. Ich bin durch den Schub avancirt und stehe nun in der ersten Reihe. Zwei Wachleute gehen vor dem Hause auf und ab. Der eine ist guter Dinge. Er macht Spässe. Im Hintergrund sieht er einen Elendsbruder. «A, Sö san schon wieder da, Sö Krawallmacher? ... Is’ nix mehr mit Stein? San s’ schon wieder losgangen?» Der Angeredete lacht dem Wachmann breitmäulig zu – er quittirt damit die auszeichnende Ansprache, die einen Heiterkeitsausbruch der Wartenden zur Folge hatte. Das Asylthor öffnet sich zum zweitenmale. Wieder ertönt der Ruf: «Karten wer hat!?» Einige melden sich. Nachzügler! Wir anderen stehen in banger Erwartung, ob noch ein Platz für uns übrigbleiben wird. «Zuag’raste! – Wer no’ net herin war!» ruft jetzt der Herbergsvater. Ein Ansturm gegen das Thor. Ich bin mitten im Haufen. Etwa zwanzig sind schon eingelassen. Schon läßt die Drängerei nach – da taucht der Verwalter den ersten zurück: « Weil’s glaubt’s, ös könnt’s drängen, wer’ m’r halt warten!» Er schlägt das Thor zu. Wir stehen draußen. Ich nun gerade gegenüber dem Thor. «Hinunter vom Trottoir!» schreit der Wachmann und beginnt mit dem Ellenbogen «auszudrücken». Alle weichen zurück. Wir in der ersten Reihe haben nichts Gutes: vor uns die Energie der Wachleute und hinter uns den Lebenstrieb der Obdachlosen. Einem dieser Rückwärtigen scheint es übrigens gut zu gehen. Mit ihm beginnt ein junger Mensch von etwa fünfundzwanzig Jahren, der bisher nur durch seine besondere Roheit aufgefallen war, Händel. «Die Zuag’rasten,» so sagt er mit Rücksicht auf den lästigen Hintermann, «sollt’ m’r alle aussihau’n! Stöß net, sag’ i d’r; mir scheint, dir geht’s z’guat! Bist eh a so a Zuag’raster,» der was uns ’n Platz wegnimmt.» Der Rückwärtige packt den schimpfenden Vordermann beim Hals. «Der kriagt scho’ wieder ’n Krampf in die Finger. Hast scho’ lang nix putzt. (Schreiend:) Fahr a, Böhm, sonst kriagst ane!» Der Wachmann mischt sich in den Streit: «Wannst net glei’ a Ruah gibst, so fangst a Watschen, daß d’r dreimal vom Teufel tramt!» ruft er dem Rückwärtigen zu. Und dann: «Mir scheint, das is eh aner, der aussi) g’hört. Sö hab’n do’ a Karten für aussi! Wer’n S’ schaun, das’ weiterkumm’n!» Der Störer wendet sich langsam zum Gehen. «I wir d’r Füaß’ machen, Fallot!» Der Wachmann geht nach rückwärts und schafft den Burschen weg. Die anderen lachen schadenfroh. Die Thür öffnet sich. Vor der stämmigen, breitgerathenen Figur des Asylvaters schiebt sich ein junger Mensch mit einem schwarzen Jacquetanzug durch die Thür. Er mag ein postenloser Kommis oder Comptoirist sein. Dafür spricht die abgeschabte Eleganz seiner Kleider. Er wagt es kaum aufzusehen und drückt sich scheu davon, wo er sich wieder in den Haufen der Wartenden einzureihen sucht. Der Hausvater steht in der Thür und erklärt den Vorgang. «So nimmt er’s und wirft’s nur weg.» Der Hausvater macht die Handbewegungen des Läusefangens. Nach dieser Episode, die Anlaß zu Spässen gibt, tritt der Hausvater auf die Straße und mustert einige aus. Es sind solche mit Karten und andere mit Spitalzetteln. Wieder nichts. Etwa hundert an der Zahl stehen wir noch in Erwartung draußen. Unsere Hoffnung, unterzukommen, sinkt. Wie viele soll dieses Haus noch aufnehmen? Wieder tritt der Verwalter heraus. Aus dem Flur dringt das weißliche Auer-Licht so einladend auf die Straße. Ein junger Mensch in Radfahrdress wendet sich bittend an den Verwalter: «Am Donnerstag krieg’ i a Arbeit!» – «Ja, wann’s in Summer wär’,» ruft mein Nachbar zur Rechten, derselbe, der sich schon wiederholt durch seine Roheit ausgezeichnet hatte, «da könnt’st in Prater in Chinesen ’n Kitt’l halten!» Gelächter. Und da der Verwalter auf die Bitten des Radfahrers nichts gibt und wieder im Haus verschwindet, ruft er dem Abgewiesenen zu: «Du kannst’s no net guat, ’s Leimsiaden, Bäck, den muaßt lang zuareden und nach’n Essen, wann er guat aufg’legt is ... (höhnisch lachend), du Radelfahrer!» Wenige Minuten später steht der Verwalter wieder auf der Thürschwelle. Ein altes, verlottertes Weib nähert sich ihm mit aufgehobenen Händen, demüthig bittend. Sie lispelt einige für uns nicht hörbare Worte. Der Asylvater: «Hör’n S’ m’r auf. Allerweil mit dem Baron. Dö G’schicht kenn’ m’r scho’. Nix is’!» Die Alte schleicht fort. Der Rohe neben mir gibt auch da seinen Text drein: «Du Branntweinerin du, gehst eh in ganzen Tag papeln, Karneulli ...» Er findet auch jetzt sein lachendes Publikum. Dann ruft der Verwalter wieder sein einthöniges: «Karten wer hat!?» Es meldet sich niemand. Neue Hoffnung, doch noch unterzukommen, belebt uns. «Zuag’raste!» Endlich. Zwei Schritte, und ich bin an der Schwelle. Ich trete als zweiter ein. Im Flur weist uns ein junger Bursch – ein Gehilfe des Hausknechts, wie ich später erfuhr – in eine kahle Kammer zur Linken. Wir sind im ganzen unser fünf. Der Hausknecht, ein Mann in den Vierzig, kommt gleich darauf in die Kammer und beginnt die sehr peinliche Untersuchung unserer Wäsche. Es gab keinen Anstand. Der Hausknecht ist selbst ein Asylist, der für die zweimalige Einbrennsuppe, ein Mittagmahl in der Volksküche und für die Schlafstätte im Asyl diesen Dienst versieht. Wir traten dann im Flur wieder an, der weiteren Weisungen gewärtig. Unser «Vater» ging zum Thor und öffnete es. Nun waren wir drinnen und die anderen draußen; Wir die Beneideten, die anderen die Neider. Ich sah hinaus in die finstere, kalte, unfreundliche Straße. Matter, rother Lichtschein der Gaslaterne vor dem Thor fiel auf die Masse der Ausgesperrten. Ein düsteres Bild des Elends, in dem auch wir fünf einige Minuten vorher Statisten waren. So oft sich die Thür geöffnet hatte, hatten wir sehnsüchtig in den Flur geblickt, dessen Nüchternheit wohl keinen abschreckte. Allen bedeutete der Flur alles, was sie für die nächsten Stunden zu erreichen hofften ... Asyl! Obdach! Theilnahmslos glitt der Blick des Herbergsvaters über die Masse. Für ihn sind die Menschen, die Obdach suchen, Nummern. Täglich 194. Er schloß das Thor. Jetzt erscheint eine neue Gestalt im Bilde: ein kräftiger junger Mann mit Augengläsern, blond, derb in der Figur und im Auftreten. Es ist, wie es scheint, der Sohn des Verwalters. Ein Unteroffiziersmensch. Er ist so eine Art Profoß, Hauskommandant, wenn man will, ein Kontrolorgan. Er geht zu einer Tafel, die an den Thürstock der Lauskammer genagelt ist und kreidet uns an: 194. Alles besetzt. Sein Vater öffnet wieder das Thor: «Ka Platz mehr!» sagt er zu den Wachleuten. Die sorgen schon für das Weitere, damit der Tafel an der Asylmauer Rechnung getragen wird, die Ansammlungen untersagt. Sie schicken die Obdachlosen fort. Als er wenige Minuten später wieder das Thor öffnet, ist die Straße menschenleer, düster ... Die Elendsbrüder sind schon fort ... Wohin? Kein Mensch weiß es, wo sie die Nächte zubringen, sie selbst auch nicht ... Der «junge Herr» kommt aus der Kanzlei. Er ruft uns zu: «Ihr Fünfe geht’s auffi. Nr. 4! Ganz hint’, da san fünf Betten leer.» Ich folge den anderen auf die Stiege. Sie nehmen zwei Stufen auf einmal, und dann geht es hastig durch eine Reihe von Sälen. In allen Bettgestelle und Menschen – sonst sehe ich nichts. Der Empfang ist gerade kein freundlicher. «Uje, Zuag’raste!» ruft man uns in allen Zimmern zu und nach. Wir haben uns bald untergebracht. Ich bin im Suchen nach einem freien Bett recht ungeschickt. Ueberall sehe ich Hüte auf den Betten, oder ich sehe Männer darauf sitzen. Nach zwei, drei Fragen habe ich auch ein Bett gefunden, das von allen verschmähte – knapp an das Fenster anstoßende. Bei jedem Bett sind zwei Stockerln, ein niederes und ein höheres, Sessel und Tisch. Das höhere dient zugleich als Garderobekasten. Auf einer Wand steht: Vor Taschendieben wird gewarnt. «Kann denn da auch was gestohlen werden?» fragt ein etwa 35jähriger Jude, ein Agent, Hausierer nach dem Aussehen. «San S’ so guat,» sagt mein Bettnachbar, «da kommen oft Leut’ ’rein, dö sechs, sieben Gulden in Sack hab’n und do’ den Gattern a’wetz’n.» Dieser letztere Ausdruck ist eine Redensart aus dem Asyljargon. Er gilt den Bettstellen. Diese sind nämlich Eisengestelle, über die ein ziemlich dicht geflochtenes grobes Drahtnetz gespannt ist. Dieses Drahtnetz am Kopfende im stumpfen Winkel ansteigend, ersetzt Strohsack und Matratze. Zwei Kotzen und ein harter Polster in blaugemusterter Ziehe sind die Bettausstattung. «Da kenn’ i an’, der geht beim Tag papeln, und auf d’Nacht zählt er am Gattern seine Netsch. An Guld’n zwanz’g Kreuzer bringt er alle Tag ham. Ja, es kummen a nobliche Gäst’ da einer!» Der andere, der noch bessere Kleider trägt, sagt entschuldigend: « Glauben S’ mir’s, wann i no’ a Sechserl g’habt hätt’, i wär’ net da hereingangen!» Damit geht er der der Straße zugekehrten Abtheilung des Schlafsaales zu, wo er seine Bettstelle hat. Der Gehilfe des Hausknechts kommt und wirft auf jedes Bett einen Blechlöffel, bei seinem zweiten Kommen schupft er aus einem Korb auf jedes Bett ein Stück Brot. Das ist die Kontrole. Die Betten zählen, die Menschen nicht. Von denen könnte Einer leicht in seinem Heißhunger zweimal nach Brot langen. Ich komme zu Athem. Luft! Wie wird das in der Nacht werden? Bett an Bett, im ganzen 26, zwischen jedem nur ein Raum von einer Unterarmlänge. Dazwischen stehen die Stockerln. Hinter jedem Bett ist auf der weißgetünchten Mauer eine Nummer patronirt. Ich hatte 189 erwischt. Mein Nachbar Nr.188 war ein junger Mann, gegen Ende der Zwanzig, guthmütig. Er kennt den Hausbrauch schon besser und klärt mich auch über die Stellung des Hausknechts im Asyl auf. Er spottet dabei. Nr 191 hat Schmerzen in der linken Achselhöhle. Er kann den Arm kaum rühren. Er kleidet sich aus und klagt, daß er unter der Achsel zwei «Dibbeln» hat. Der 188er, mein Nachbar, geht zu ihm und untersucht ihn. «Da geh nur murg’n glei ins Spital. Zu d’ Barmherzigen ... dö nehmen an jeden auf. In Spital ... hast ’n schönsten Christbam!» Der Verwalterssohn bringt uns die Karten. Es sind kleine braune Karten im Format der Eisenbahnfahrkarten. Er reicht mir eine. Auf der einen Seite ist mit Tinte die Bettnummer geschrieben, auf der anderen ist eine Stampiglie abgedruckt: Asylverein 20. Dez. 98 für Obdachlose in Wien. Die Karte ist einmal eingezwickt. Bis sie fünfmal durchlöchert ist, hat sie ihren Wert verloren. Sie gilt für fünf Nächte. Der junge Herr würdigt mich kaum eines Blickes, er und auch sonst niemand fragt mich, wer ich sei. Es wird nach der Hausordnung kein Ausweis verlangt. Darauf kommt später die Rede, und da werde ich aufgeklärt, daß man im Asyl vor der Polizei sicher sei. Anders im Massenquartier, wo man 20 kr. zahlen müsse und weder vor der Polizei noch vor Ungeziefer Ruhe habe. Nun weist der junge Herr auf einige Nummern: «oes geht’s Wasser schöpfen.» «Hab’n alle Brot?» Einige melden sich. «Geht’s ’nunter. Holts euch das Brot und bringts glei’ die Suppen auffi.» Dann haben wir wieder eine Weile Ruhe. Von einem Nebenzimmer kommt ein Bursch herein. In der Rechten hält er ein Gilet. «Um acht Kreuzer a Gilet, billiger kann i’s net geb’n!» Es findet sich kein Käufer, und der arme Teufel wird hinausgeschimpft. Die Suppe kommt. Jeder faßt eine halbe Blechschale voll Einbrennsuppe aus. Es mag ein halber Liter sein. Bei der Gelegenheit wollen wir der Köchin ein Geheimniß verrathen: In eine Einbrennsuppe gehört auch Salz, Schmalz und Kiem. Davon war wenig oder nichts zu spüren. Schließlich thut der Hunger weh, und ich löffelte gleich den andern meine Suppe aus, in die ich mir das Brot eingebröckelt hatte. Der junge Hausknecht kommt und sammelt die Schalen ein. Es ist etwa halb 6 Uhr. Dann heißt es: Auf die Betten. Alles kleidet sich aus. Nr. 185 hat am rechten Oberarm eine eigroße offene eitrige Wunde. Sein Hemd ist ganz verklebt von der gelben Masse. Es bildet sich um ihn eine Gruppe. «Was is Ihna denn da g’scheh’n?» – «Verbrennt hab’ i mi.» – «Wo denn?» – «Bei an’ Kessel.» – Die anderen haben ihn verstanden. Ich nicht. «Wie war denn das möglich?» – «No g’schlafen hab’ i, und da hat’s durchbrennt.» – «San sö in aner Fabrik?» – «Aber na, bei an’ Theerkessel hat er si’ verbrennt,» ruft ein anderer dazwischen. Jetzt erst verstehe ich, daß die Wunde der Preis für ein Nachtlager des Obdachlosen war. Er hatte keinen anderen Unterschlupf gefunden, als irgendwo auf der Straße bei einem Theerkessel, dessen Wärme ihm die Nacht im Freien erträglich machen sollte. Dabei war er eingeschlafen und hatte sich verbrannt. Wir rathen ihm, eine Spitalsambulanz aufzusuchen, damit er wenigstens ein Pflaster auf die Wunde bekommt. Er bleibt theilnahmslos. «’s wird scho’ so a heil’n.» Bisher war der Saal von zwei Auer-Lampen beleuchtet. Jetzt kommt der Hausknecht, verlöscht die Flammen und zündet in der Mitte des Saales eine kleine Hängelampe an. Die meisten haben sich ihr Bett zurechtgemacht. Auch ich habe bereits den einen Kotzen untergebreitet und den anderen als Decke gerichtet. Der Polster war schmierig. Ich wollte den Ueberzug wenden. Auf der anderen Seite war er speckig. Ich begnügte mich mit der schmierigen Seite. Als der Hausknecht kam, wickelte ich mich das erstemal in die Decke. Ich sollte mich im Laufe der Nacht noch zwanzigmal einhüllen, ohne meine Füße erwärmen zu können. Ich konnte viele meiner Schlafgenossen nicht begreifen, die splitternackt unter den Kotzen krochen. Von Bett zu Bett spannen sich Gespräche. «Hab’n die Mährer a an’ Konsul in Wien?» fragte Einer. Stille. Dann antwortet ein Anderer: «Na, an Konsul haben nur dö von Ausland.» Und nun begann er das Ausland aufzuzählen, in ununterbrochener langer Reihe: Bayern, Afrika, Spanien ... während die anderen längst schon über andere Dinge sprachen. Einem hatte sein Meister das Krankenbuch vorenthalten, und er holte sich nun Rath ein: «Du 88er, glaubst, muaß ’r m’r ’s geb’n?» ... Rußland, Dänemark ... «Natürli, geh’ nur zur Krankenkassa hin» ... «Italien, Frankreich ...»Vielleicht hat dei Master gar net ein’zahlt für di ...» Türkei, Schweden ... Nr. 190, der Junge Blondkopf, wird lebendig. Er gibt ein Stück Lehrbubenrache zum besten. Sein Meister hatte ihn mit einer Latte geprügelt, und er hatte ihn dann aus Rache angezeigt, weil der Meister schon vier Monate einen Gesellen beschäftigte, ohne ihn polizeilich und bei der Krankenkasse anzumelden. Dazwischen klingt es monoton ... Amerika, Belgien, Württemberg, Schweiz ... Als der Lehrjunge geendet hatte, erhob sich Gelächter. «Urndtli hat er blechen müass’n!» Das Gespräch kam auf das im Asyl verabreichte Brot. Einige lobten es. Dann entspann sich ein kurzer Streit. «Es is wie’s Wärmestubenbrot,» sagt der eine, darauf Nr. 186: O na, ender wia s Landesgerichtsbrot.» Andere allgemein verständliche Vergleichungen stehen ihnen nicht zur Verfügung. Die Fachleute diskutiren noch eine Weile, dann wird es ganz ruhig im Saale. «Wer d’rzählt denn a G’schicht’?» fragt der 190er. «Jetzt war’s grad’ so schön ruhig ...» Allgemeines Schweigen. «A G’schicht’ wird aufg’numm’n!» Aus einem anderen Saale hallt Beifallsklatschen herüber. Dort hat sich schon der Spaßmacher gefunden ... «Pst! Pst!» «Also auf’paßt!» Mäuschenstille! Der blonde Lehrjunge macht den Anfang. Er erzählt eine Geschichte von zwei Brüdern, dem dummen und dem gescheiten, die eine Räuberbande überlisten. Bravo! Bravo! ertönt es, als er geendet. «Dö war schön.» «Aber so recht was Grus’lig’s sollt aner d’rzähl’n.» Einer hustet gottsjämmerlich. «Na, na, so a Husten ...» meint sein Nachbar. Der aber: «I bin froh, daß i ’s scho’ a bißl verlor’n hab’. Macht’s die Thür zua, es ziagt. So oft die Abortthür aufgeht, ziagt’s als wia.» Sie ist an der Hoffront des Saales. Ich suche den Ort auf. Mein nackter Fuß tritt auf kalte Steinplatten. Könnte da nicht eine Bretterdecke liegen? Das kostet wenig, und es würde so viele arme Teufel, ohnehin Kranke, vor Verkühlung schützen. Die Ventilation im Abort ist eine gute, so daß es Einem einen förmlichen Rückschlag gibt, wenn man wieder in den Saal tritt. Diese Atmosphäre! Es ist furchtbar. Wie wird das in der Nacht erst werden? Das Husten läßt ein wenig nach. Es tritt wieder ein Moment der Ruhe ein. «Wer d’rzählt denn a G’schicht’?» In der Gassenabtheilung des Zimmers meldet sich Einer: er eröffnet den Reigen der Kaiser Josef-Geschichten, die nun in langer Folge erzählt werden, mit der lustigen Erzählung «Kaiser Josef und der Zuckerbäckerlehrling». Darin kommt auch eine Kaufmannstochter vor. Als der Erzähler so weit gekommen war, widersprach ihm eine Stimme: «Das war den Grafen Kaunitz sei’ Tochter!» – Der Erzähler: «Alsdann, i hab’ ausg’redt – wannst ’s besser waßt, so d’rzähl’ du weiter!» – Die Stimme: «Es war in Grafen Kaunitz sei’ Tochter!» – Zweite Stimme: «Halt die Goschen. Lass’n weiter d’rzählen. D’rzähl’ weiter!» – Der Erzähler weigert sich noch eine Weile, sein Ehrgeiz ist verletzt – dann erzählt er aber die Geschichte doch zu Ende. Ein Erzähler nach dem anderen verstummt, und alles lauscht dann folgendem Zwiegespräch: Erster: Heut bist erscht losgangen? – Zweiter: Ja, ich hab’ ja nur achtundvierzig Stund’ g’habt. – Erster: Weg’n was denn? – Zweiter: Es war nur polizeilich.I bin nur froh, daß s’ mi net der Polizei überstellt hab’n. I hab’ g’schaut, daß i weiterkumm. Es is ja net zum Existir’n da drinn. Aner, der in Weisl) g’habt hat, hat fünf Monat’ ausg’faßt. A and’rer is erst aus Stan kumma: in Untersuchung. Er is sieb’n Monat’ g’sessen und hat si dabei 21 fl. g’riss’n. – Erster: Mit was denn? – Zweiter: Zigarettenschachteln hat er g’macht. 60 Stück 6 kr.; mehr als 180 hat er net machen dürfen in Tag. War a net mögli g’wesen. Wia er aussikummen is, hat er a sei anders Geld behob’n. Sie haben einbrochen g’habt und nachher ’s Geld in aner Schachtel vergrab’n. 600 fl. Wie sie ’s wieder g’holt hab’n, war die ane Seiten verfäult, und zwa Hunderter hab’n lauter klane Lickerln g’habt. Dö hab’n s’ z’rissen und in Bach g’wurfen. – Mehrere Stimmen (zugleich): Dö hätten s’ do austausch’n kinna! – Eine Stimme: ’s Beste is, wann m’r a Geld vergrabt, daß m’r’s in a Flaschl gibt. Da kann nix g’scheh’n. A meiniger Kamerad hat fünf Jahr g’fangt, aber sei Geld hat er do kriagt, wia er losgangen is. Eine Weile geht dieses liebliche Gespräch fort. Es schlägt acht Uhr. Dann werden wieder Geschichten erzählt. Einer erzählt die Geschichte vom Grafen Monte Christo. Die ist gruslig genug. Sie wird allgemein gelobt. Von der Insel Iff, auf der der Graf von Monte Christo gefangen saß, kommt das Gespräch auf die Teufelsinsel und auf Dreyfus. «Was für aner Partei g’hört denn der an? Is er a Deutschnationaler oder a Christ?» fragt einer. Er wird aufgeklärt. Dabei wird von den Juden gesprochen, und wenn davon einmal die Rede ist, spricht man auch vom Lueger. Der Herr von Wien bekam keine schöne Nachrede. «Zweitausend Sackeln im Werkhaus picken. Da sollt’ er si’ amal d’rzuastell’n und nachher dö Fisol’n fress’n.» Es wird noch viel raisonnirt, erzählt, gehustet. Dann ist Ruhe. Es schlägt auf der Thurmuhr der nahen Weißgärberkirche zehn. «Zehne is’. Wann nur dö Nacht scho’ zu End’ wär’!» Die Stimme findet Echo – unbehaglich liegende Menschen wälzen sich auf ihren Lagerstätten. Ich selbst wälze mich von rechts nach links und von links nach rechts. «Wenn’s nur schon sechs Uhr wär’!» so denke auch ich. Die Nacht liegt über dem Saale. Ich lausche ihren Stimmen, dem Stöhnen meines Gegenübers, dem Husten aller, dem Seufzen und Schnarchen und Rasseln der Verschleimten. Bis drei Uhr höre ich alle Stunden schlagen. Dann finde auch ich kurze Ruhe. Dumpfer Schlaf. Um halb 6 Uhr bin ich wach. Da wird es auch schon lebendig. Um 6 Uhr wird wieder die große Beleuchtung entzündet. Die Nachtlampe verlöscht. «Auf!» Der Verwalterssohn kommt mit einem Blechgefäß voll Wasser. Er geht seinem Privatvergnügen nach, indem er die anschüttet, die noch im Bette Liegen. «I wir’ euch Füaß’ mach’n!» Auch im Asyl ist der Morgenschlaf der beste. Im Parterre sind die Waschapparate. Eine lange Rinne und darüber Auslaufpiepen. Seife gibt es keine, die sechs oder acht dreifach langen Handtücher sind durchnäßt. Mir bleibt ein Fleckchen, so groß wie meine Handfläche. Im Flur putzen sich die Obdachlosen die Schuhe. Für das Putzzeug entrichtet jeder, wie mir gesagt wird, dem jungen Herrn zwei Kreuzer, obwohl es in der Hausordnung heißt, daß das Putzzeug nur dem Verwalter zurückzustellen ist. Von einer Gebühr ist keine Rede. Ich eile weiter und in Sätzen auf die Stiege, wobei ich stolpere. «D’rstöß’ di!» ruft mir der junge witzige Herr freundlich schreiend nach. «Dank schön!» Dann kommt wieder die Einbrennsuppe. Die Köchin hatte sich über Nacht nicht gebessert. Die Aussicht auf baldige Erlösung verschlägt mir den Appetit – ich mache Nr. 187 damit glücklich. Endlich ist es sieben Uhr. Wir eilen die Stiege hinunter. Der Verwalterssohn hinter uns. Im Halbstock bleibt er stehen: «Daß ’s alle um halber Fünfe da seid’s!» ruft er uns zu. Darauf der Verwalter: «Wann s’ net da san, liegt a nix dran, san andere da.» Das Thor wird geöffnet. Luft! Ueber Nacht ist es bitter kalt geworden, und ich eile, nachdem ich eine Einladung in die Wärmestube ausgeschlagen hatte, zu einem Bekannten in der Nähe, der meinen warmen Winterrock mir aufgehoben hatte. Die anderen aber zerstreuen sich in ihren dünnen Röcken und zerrissenen Schuhen nach allen Richtungen – tagsüber ein Wärmeplätzchen zu finden.