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Epoche der Angst

Krisen, Abstiegsängste, Climate-Anxiety & der Bammel, seine Meinung zu äußern: Eine Tour durch das Gefährdungsgeschehen in der Gegenwartsgesellschaft.

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Im Glossar der Stichworte zur Gegenwart würden „Angst“ und das „Gefühl der Gefahr“ heute wohl sehr weit oben rangieren. Die Angst ist oft nicht einmal auf eine konkrete Bedrohung gerichtet, sondern mehr das, was Botho Strauß einmal in einer schlauen Formulierung „Terror des Vorgefühls“ nannte. Peinigende Intuition, dass der Boden schwankend wird. Nicht unbedingt ein apokalyptisches Weltgefühl, aber das Empfinden: Die Dinge werden schlechter, es kann einen jeden erwischen, ein paar Dinge können so richtig unbequem werden, und man hat die Sache auch nicht unter Kontrolle. Weder im Großen (als Gesellschaft), noch im Kleinen (als Individuum). Alles Mögliche ist bedrohlich, und, gewiss, alles auf unterschiedliche Weise. Die Angst, etwas Falsches zu sagen, ist etwas anderes als die Angst, ob die Innenstädte noch bewohnbar sein werden, wenn die nächsten Sommer noch einmal heißer werden, oder die Angst, ob man demnächst noch seine Rechnungen bezahlen kann – all das sind unterschiedliche Ängste.

Bloß: Unsere Welt ist gerade voll von ihnen.

Zuwanderung macht vielen Menschen Angst. Herumlungernde junge Männer an den paar sozialen Brennpunkten, die alle Städte haben, machen Passanten Angst. Manchen macht auch „der Islam“ Angst. Angst neigt bekanntlich auch dazu, sich im Extremfall der gesamten Existenz zu bemächtigen, tief in das Subjekt hineinzukriechen, und auch da, wo rationale Gründe sind, ins Paranoide umzuschlagen. In Erfurt führte die diffuse Angst vor dem Islam sogar dazu, dass sich ein Pastor schon 2006 per Selbstverbrennung das Leben nahm, um so die Christen aufzurütteln.

Medien und Agitation spielen im Kontext der Angstepidemie sicherlich eine Rolle, schon Leo Löwenthal bemerkte in seinen Studien über die „falschen Propheten“, dass „die Anhäufung von erfundenen Schrecken auf wirkliche“ ein Standardstilmittel von Agitatoren ist. Und doch wäre der Hinweis zu trivial, dass „die Ängste“ primär von politischen und medialen Angstunternehmern gemacht werden.

Ängste sind heutzutage schließlich durchaus gut begründet. Die Angst vor den Folgen des Klimawandels, das Gefährdungsgefühl durch eine Welt, die chaotischer wird und deren Kriege und Spannungen auch den Bürgerinnen und Bürgern (West-)Europas näher rücken, die ökonomischen Abstiegsängste und die Ängste vor Statusverlust, auch die Angst, im kleinen Kreis durch ein vorsätzlich missverstandenes Wort Streit und Hader auszulösen oder im größeren Kreis gecancelt oder an den Social-Media-Pranger gestellt zu werden; die Angst vor islamistischen Terrorismus, genauso wie die Angst vor rechten Extremisten, die Liberalität, Pluralismus und Modernität attackieren können; die Angst, ganz generell, vor dem Steigen eines Gereiztheitspegels, der Aggression triggert.

Man könnte die Panik bekommen, wüsste man nicht, dass Panik ein schlechter Ratgeber ist.

Die Shell-Jugendstudie ergab für Deutschland, wovor junge Menschen besonders Angst haben. In absteigender Reihenfolge: Krieg in Europa, Armut, Umweltverschmutzung, wachsende Feindseligkeit zwischen Menschen, Soziale Ungleichheit, Klimawandel, Terroranschläge, Ausländerfeindlichkeit, Krankheit, Gewalt, Arbeitslosigkeit, Diebstahl, Zuwanderung nach Deutschland…

Angst essen Seele auf. Wie ein Nebel breitet sie sich aus. Sie wabert mehr herum, als dass sie greifbar ist.

In amerikanischen psychiatrischen Kreisen ist heute der Begriff der Climate Anxiety schon ein gängiges Schlagwort. Eine Studie der American Psychiatric Association zeigt, dass bereits die Hälfte der Amerikaner davon überzeugt ist, dass der Klimawandel die mentale Gesundheit der Nation beeinträchtigt. Das mag etwas überschätzt sein.

Studien der Yale-University ergaben freilich, dass rund 64 Prozent der Amerikaner zumindest irgendwie durch die Klimakrise beunruhigt sind. Beunruhigung ist ja noch kein Problem, „aber es wird dort zu einem, wenn es als überwältigend oder zehrend empfunden wird“ (so Anthony Leiserowitz von der Yale School of the Environment). Zehn Prozent der Befragten, so der Yale-Forscher, äußern in ihren Studien, nervös, ängstlich, extrem angespannt zu sein, sieben Prozent sagen, dass sie merken, die Freude am Leben zu verlieren. Und wiederum 27 Prozent bekunden, so wenig als möglich daran zu denken. Es ist ein ganzes Krankheitsbild, das auch durch das Ohnmachtsgefühl verstärkt wird, das Empfinden, „sie wissen nicht, was sie tun sollen“. Von den 16-25jährigen, so ergab eine Mega-Studie in zwölf Nationen von den USA bis Nigeria, die im Medizin-Magazin „The Lancet“ veröffentlicht wurde, sagen 50 Prozent, sie empfänden „Traurigkeit, Angst, Zorn“, aber auch „Macht- und Hilflosigkeit“. Mehr als 45 Prozent äußern, ihre Gefühle über die Klimakrise beeinträchtigen ihr tägliches Leben und ihr Funktionieren.

Gewiss, die persönlichen Geschichten hinter solchen Selbstauskünften sind nicht dokumentiert, und es ist klar, dass es verschiedene Gründe gibt: Die einen haben Angst angesichts der wissenschaftlichen Prognosen, die anderen sind erschüttert über Berichte über den Verlust an Biodiversität (offen gesagt: besser man beschäftigt sich nicht damit, wenn man nicht depressiv werden will), wiederum andere spüren die Belastung in zunehmend überhitzten Städten längst am eigenen Leib und wieder andere waren selbst von Naturkatastrophen betroffen.

Wenn dein Haus mal unter Wasser stand, bist du traumatisiert.

Übrigens, entgegen dem Conventional Wisdom, der häufig zu hören ist, ist Climate Anxiety in den Unterklassen und der unteren Mittelschicht offenkundig weiter verbreitet als in den oberen Mittelklassen und den Eliten. Leiserowitz hat dafür eine nüchterne Erklärung: „Wenn du aus deinem klimatisierten Eigenheim in dein klimatisiertes Auto steigst und ins klimatisierte Office fährst, kannst du eine Hitzewelle mit 40 Grad Celsius eher noch als leichte Unbequemlichkeit empfinden.“ Wer Hitzesommer wie diesen in schlecht gedämmten Sozial- oder Innenstadtwohnungen verlebt hat zwangsläufig ein anderes Problemempfinden als jemand in der Villa im Grüngürtel.

In Wien beispielsweise gab es im vergangenen Sommer in der Innenstadt 53 Tropennächte (in den Wohnungen wird es da Nachts selten kühler als 26 Grad). In den Wohlstandszonen wie Döbling dagegen wurden nur 25 Tropennächte dokumentiert.

Wie auch immer, bei gröberen Formen von Climate Anxiety haben wir es mit klinischen, psychiatrischen Angststörungen zu tun. Es liegt übrigens der Verdacht nahe, dass sowohl Sorgen und Überbelastung als auch das rabiate Verleugnen der Problems Symptome einer solchen Angststörung sind.

Werden unsere Gesellschaften zu Angstgesellschaften?

Die Ängste, die die Individuen ergreifen und sich in diese hineinfressen sind noch nicht einmal richtig analysiert, obwohl in der vergangenen Dekade „Angst“ zunehmend zu einem Thema wurde. Der Soziologe Heinz Bude schrieb schon vor zehn Jahren über die „Gesellschaft der Angst“. Aber bei diesen Angstanalysen ging es vor allem um ökonomische Prekarität und das Hamsterrad von Lockung und Drohung, das die Arbeitswelten bis in die gehobene Mittelschicht zu beherrschen begann. „Angst erschöpft“, bemerkte Bude. Der Baseler Professor Oliver Nachtwey hat das in seinem Soziologie-Bestseller „Die Abstiegsgesellschaft“ analysiert. In der Aufstiegsgesellschaft fahren alle nach oben – wenngleich unterschiedlich schnell und unterschiedlich hoch –, in der Abstiegsgesellschaft fahren dagegen die einen nach oben, die anderen nach unten und müssen strampeln, damit sie ihren Status halten – mit allen psychopolitischen Folgen.

Heute aber ist das „Gefühl der Gefährdung“, das Empfinden, einem permanenten Stress aus ökonomischem Druck, elementarer Gefährdung, nebelhafter Unsicherheit und trüben Zukunftsaussichten ausgesetzt zu sein, existenzieller und verbreiteter geworden.

Krisen wurden als Einbrüche ins Leben erlebt: Erst die Corona-Pandemie, mit der auch jene die Erfahrung eines Ausgesetztseins machten, deren konkrete Betroffenheit sich am Ende in Grenzen hielt; kurz darauf Inflationskrise, Energiekrise, Kriege. Es ist ein Stress, der, wenn man ihm permanente Aufmerksamkeit schenkt, tatsächlich zum Krankheitsbild eskalieren kann.

Symptomatisch für das Angstgeschehen in der Gefährdungsgesellschaft ist, dass Begriffe wie „Resilienz“ Karriere machen – also, wie man bei all dem Stress gesund bleibt (etwa, indem man ihm nicht die ganze Aufmerksamkeit widmet). Survival-Videos kursieren auf Youtube und werden zum Renner. Auch das Horten von Vorräten, seit den fünfziger Jahren eher ein schrulliges Hobby, ist wieder in Mode gekommen. Für gröbere Extremwetterereignisse empfiehlt man uns Reserven an Mineralwasser, für das Blackout die Anschaffung eines Kurbelradios. Stets aufgeladene Powerbanks können bei keinem der Risiken schaden.

Martha Nussbaum hat unlängst einen Großessay über das „Königreich der Angst“ geschrieben. Angst führt, schreibt sie, „eher zu aggressiven Strategien der Distanzierung von ‚den Anderen‘ als zu nützlichen Analysen“, die Angst sei nicht nur primitiv, „sondern auch asozial“. Sie „vertreibt alle Gedanken an andere“, und wenn wir Angst haben „ziehen wir voreilig Schlüsse und schlagen zu, bevor wir über das Wer und das Wie sorgfältig nachgedacht haben“.

Was uns dieses Wissen aber helfen soll, ist eine andere Frage: Dass Angst dumm macht – geschenkt. Aber sag das einmal der Angst, wenn du sie hast.

Das Hamstern hat eine sozialpsychologische Dimension. Wenn man sowieso nichts tun kann und über die Geschehnisse keine Kontrolle hat, dann fühlt sich das Hamstern wie eine sinnvolle Tat an, mangels anderer sinnvoller Planungshandlungen. Wir fühlen uns einfach besser, wenn wir etwas kaufen. Zu Beginn der Covid-Krise lachten wir darüber, dass gerade Toilettenpapier im Zentrum der Hamsteraktivitäten stand. Und warum überall am Globus? Ein Mirakel: Die Covid-19-Pandemie war überall, von Korea bis Hongkong, von Berlin über Wien bis New York und Neuseeland mit Klopapierkäufen verbunden und ging als „the 2020 Toilet Paper Crisis“ in die Berichterstattung ein.

Es wächst bekanntlich auch die Angst, Konflikte zu wecken. Mag das Thema „Cancel Culture“ oft auch hysterisch übertrieben sein, so ist es doch eine berechtigte Befürchtung, heute durch ein falsches Wort an den Pranger zu geraten, als eine Person karikiert zu werden, die wir gar nicht sind und im Extremfall mit dem sozialen Tod bedroht zu sein. Diskurse sind Minenfelder geworden, man bewegt sich, als würde man auf rohen Eiern gehen. Das hat mit dem neuen Strukturwandel von Öffentlichkeit und den Shitholes der Social Media zu tun, aber auch mit der allgegenwertigen Bereitschaft, Menschen, deren Meinungen man nicht teilt, nicht als Menschen zu behandeln, deren Meinungen man nicht teilt – sondern als moralisch verkommene Subjekte, die dann als gänzlich verdammenswürdige Personen dastehen.

Überall Ängste – und dabei kann man in der Erfolgsgesellschaft, in der jeder angehalten ist, die eigene Bedeutsamkeit hervorzustreichen und Marketing seiner selbst betreiben muss, davon ausgehen, dass viele Ängste gar nicht artikuliert werden.

Auch das ist eine Ursache dafür, dass das wachsende Angst-Niveau nur als vages Grollen wahrgenommen wird. Angststörungen werden unterdrückt, solange es geht, und mit Schweigen umgeben. Das Krankheitsbild der „Depression“ ist mit einem Stigma verbunden, was wahrscheinlich zum Aufstieg der Diagnose „Burnout“ geführt hat, eines Krankheitsbildes, das wenigstens stolz wie ein „Verwundetenabzeichen der Leistungsgesellschaft“ (Sighart Neckel) getragen werden kann. Über quälende Ängste spricht man besser nicht.

Und die Ängste anderer werden überhaupt nicht wahrgenommen. Es ist paradox: Statushohe Personen haben zwar die respektierte Sprecherposition, die ihnen überhaupt erlauben würde, ihre Ängste zu äußern (sie tun es aber höchstwahrscheinlich nicht, um ihr Prestige nicht zu verspielen), während statusniedrige Personen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit sehr viel mehr Ängste haben, aber gar nicht in der Position sind, dass man ihnen zuhört. Sie sind die „Anderen“, die, „die Probleme machen“, wenn an ihnen etwas nicht stimmt.

Man versuche sich einen Augenblick nur in eine Migrantin zu versetzen, die von Jahr zu Jahr neuerlich um eine Aufenthaltsbewilligung oder Duldung bangen muss, chronische Instabilität erlebt und die Ängste, die mit solch wackeliger Existenz verbunden sind. Wenn schon das Klingeln des Postboten Panik auslöst und der tägliche Gang zum Briefkasten angstbesetzt ist.

Unlängst kam mir der Begriff – er ist bestimmt noch nicht gängig – „paranoide Institution“ unter. Der südafrikanische Philosoph Achille Mbembe hat ihn für die Sklavenplantagen geprägt: Eine Form des Unternehmens, die Menschen die grundlegenden Rechte raubt, ihnen ihre Kinder und Familien stiehlt, die dadurch aber logischerweise in der Situation ist, dass die Mehrzahl der in der Plantage versammelten Personen am liebsten die Herrschenden verjagen und ihre Häuser anzünden würden. Die „paranoide Institution“ ist in permanenter Angst vor den Aufständen, deren Ursache sie selbst ist. In abgewandelter und natürlich kaum vergleichbarer Form sind aber heute viele Institutionen zu „paranoiden Institutionen“ geworden, die stets auf der Hut sind, keinen Fehler zu begehen, damit sie nicht ins Kreuzfeuer von Kritik, Delegitimierung oder Skandalisierung geraten. Misstrauen, Feigheit, Kontrollwahn und der Anreiz, am besten nichts zu tun, sind die Folge und grassieren von der Spitze der Hierarchie herab – wenigstens ein Trickle-Down-Effekt, den es tatsächlich gibt.

Auch aus diesem Grund zählen Spitzenpolitiker zu den paranoidesten Sozialfiguren überhaupt.

Das mag für angsterfüllte Beherrschte ein leiser Trost sein: Die da Oben haben mindestens so viel Angst wie ihr.

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