About Scholz
Ein Jahr regiert die Ampel mit Olaf Scholz als Kanzler. Mehr Staat, mehr Fürsorge, und mehr Respekt für die normalen Leute hat Scholz als SPD-Wahlkämpfer versprochen. Dann kam der Krieg. Was blieb von seiner Agenda?
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Ein Jahr ist die deutsche Ampel-Regierung aus SPD, Grünen und FDP jetzt im Amt, und erinnern wir uns kurz: Es war ja äußert überraschend, dass diese Regierung überhaupt gewählt wurde. Wider alle Erwartungen erreichte die SPD den ersten Platz, wider alle Erwartungen wurde Olaf Scholz zum vierten SPD-Kanzler in der Geschichte der Bundesrepublik – nach Willy Brandt, Helmut Schmidt, Gerhard Schröder.
(oh my God, ich bin so alt, fällt mir auf während ich das schreibe, dass ich alle vier SPD-Kanzler der gesamten Nachkriegszeit persönlich getroffen, gesprochen, interviewt habe).
Jetzt sind nach einem Jahr alle irgendwie unzufrieden mit der Regierung, also sowohl was Wähler betrifft als auch das allgemeine Meinungsbild in den verschiedensten Medien, aber die Betonung liegt auf irgendwie. So richtig weiß man offenbar nicht, womit man unzufrieden ist, es ist mehr so ein waberndes Empfinden, auch ein unentschlossenes Gespür, das sich seiner selbst nicht sicher ist. In der Sonntagsfrage liegen SPD bei 18 Prozent, Grüne ebenfalls, und die FDP bei 6 Prozent. Die Union liegt da deutlich auf Platz eins, die Ampel wäre von einer Mehrheit entfernt – wobei sich das alles innerhalb der Schwankungsbreite abspielt. Andererseits geht es, wenn es dann wirkliche Wahlen gibt – und nicht nur Umfragen – auch um den Kanzler, und das Meinungsbild für die Union wäre wohl deutlich schlechter, wenn die Menschen sich fragen müssten, will ich wirklich mein Kreuz für Friedrich Merz machen? Alles in allem mache Scholz seine Arbeit gut, sagten zuletzt 58 Prozent der Befragten – nicht so arg weniger als noch zur letzten Jahreswende. Ähnlich unschlüssig sind die Beurteilungen der zentralen politischen Thematiken. Olaf Scholz Haltung zum russischen imperialen Krieg gegen die Ukrainer wird als „zögerlich“ wahrgenommen – und so auch kritisiert –, trotz großer Reden („Zeitenwende“) empfinden vielleicht auch viele Menschen, dass sie nicht so richtig wissen, was jetzt genau die Linie des Kanzlers ist. Zugleich ist aber genau die Haltung von entschiedener Solidarität mit der Ukraine bei gleichzeitiger Besonnenheit und Bedachtsamkeit ja genau die Politik, die von einer überwältigenden Mehrheit geteilt und gewünscht wird. Scholz wird als „zögerlich“ – also negativ – wahrgenommen oder geframed, obwohl genau dies (als „Besonnenheit“) eigentlich überwiegend Zustimmung haben sollte. Das ist eigenartig, aber auch bemerkenswert. Und wohl auch kein dramatisch stabilisiertes Empfinden. Und dann ist da noch das Gros der Hauptstadtjournalisten.
Da wird Scholz jetzt seit gut einem Jahr als entscheidungsschwach geschildert, ohne klare Linie, oder auch als Sphinx, die sich nicht in die Karten schauen lasse, als einer, der viele interessante Bücher liest und sich mit den führenden Intellektuellen und Ökonomen der Welt austauscht (als einer, der viel weiß, als einer, der viel aufsaugt, aber auch als einer, der ein Besserwisser sei oder auch ein Bücherwurm, der das reale Leben nicht kennt, naja, es gibt da viele Varianten, die jeweils gleichen Fakten mit dieser oder jenen Schlagseite zu erzählen…).
Da es allerdings neben dem journalistischen Herdentrieb auch die journalistischen Konjunkturen und den Wunsch zur Originalität gibt, ändert sich das gerade auch. Klar, wenn mal alle geschrieben haben, der Kanzler sei zögerlich und führungsschwach, dann ist es relativ witzlos, in den Chor zum zweihundertsten Mal einzustimmen. Da sucht man dann nach einem anderen Spin oder nach einer anderen Story. Oder nach der Wirklichkeit hinter den übersimplifizierten Deutungen.
„Nach einem Jahr Ampel bleibt Olaf Scholz für viele schwer greifbar“, schreiben Anna Lehmann und Stefan Reinecke in der taz in einem hochinteressanten Text zum Regierungsjubiläum (Abre numa nova janela). Scholz moderiert eine komplizierte Regierungskonstellation so, dass sich die Koalitionäre nicht verharken. Wo immer Lehmann und Reinecke fragen, finden sie meist Lob für den Kanzler. Aber es ist Scholz nicht gegeben, mit Charmeoffensiven negative Urteile oder Konflikte zu überspielen. „Er fremdelt mit Menschen. Ihm fliegen die Sympathien auch nicht zu. Er hat nicht die Fähigkeit, Fremdes durch Offenherzigkeit in Vertrautes, Distanzen in Nähe zu verwandeln. Sein Humor ist schrullig“, schreiben die Autorinnen, und zitieren den Scholz-Biografen und Chefredakteur des Hamburger Abendblattes, Lars Haider: „Scholz ist ein zutiefst schüchterner, sehr zurückhaltender Mensch.“
Der Kanzler ist ein Pragmatiker, der bisher jedenfalls nie mit Getöse so etwas wie eine „Philosophie“ ausgebreitet hat. Aber gibt es so etwas wie „Scholzismus“, oder wenigstens „Scholzonomics“? Das fragte vor zwei Wochen Roman Plettner in der „Zeit“. (Abre numa nova janela) Gibt es ein „Paradimga der Scholzschen Wirtschaftspolitik“? Plettner tut sich schwer, es zu erkennen. Dabei gibt es dafür schon einiges an Spuren. Manche haben mit Ideen zu tun, manche mit politischer Taktik und manche mit radikal verwandelten Verhältnissen, also den Anforderungen von Krise, Corona und jetzt des Krieges.
Erinnern wir uns nur einmal zurück: Olaf Scholz war seit langem der Repräsentant des eher „rechten“ Parteiflügels, verbunden mit Schröderismus und Hartz-IV. Er wurde als Vertreter eines sozial-liberalen Mainstreams mit seiner Gemäßigtkeit bis zur Langeweile wahrgenommen. Deswegen unterlag Scholz auch bei der Wahl zur Parteiführung gegen die Vertreter des linken Flügels, gegen Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans. Aber damit entstand eine neue Situation. Die Partei wurde von den Lieblingen der linken, rebellischen Basis geführt, aber die konnten keine Bundestagswahl gewinnen. Olaf Scholz wiederum war Finanzminister und Vizekanzler der Regierung Merkel, und es war klar, dass Angela Merkel nicht mehr antreten werde. Damit konnte man sich ausrechnen: Wenn jemand mit einer Art „Kanzlerbonus“ und dem Versprechen aus Stabilität und Sicherheit in die Wahlen gehen kann, dann ist das Scholz.
Dafür musste aber die gesamte Partei hinter ihm stehen, und dabei konnte ihm nur der linke Parteiflügel helfen. Er wiederum konnte dem linken Parteiflügel dabei helfen, ihm zu helfen, wenn er als Finanzminister eine klar sozialdemokratische Politik betreibt. Soweit die taktische Seite.
Als Finanzminister etablierte Scholz in seinem Haus schon einen starken intellektuellen Kern, baute das Ministerium quasi zum größten keynesianischen Think-Tank der EU aus. Trotz seines Brandings als „Rechter“ war Scholz außerdem seit langem schon mit den wichtigen Arbeiten zu Ungleichheit und der Notwendigkeit von mehr Gleichheit vertraut, von den Studien Thomas Pikettys bis zu den Untersuchungen von Branko Milanović. Und dann kam Corona und die Notwendigkeit zu massiven Staatsinterventionen und Regierungsmaßnahmen zur Wirtschaftsstabilisierung.
Die Strategien gingen auf: Scholz wurde vom linken Parteiflügel zum Kanzlerkandidaten gemacht, was dazu führte, dass die Partei erstmals geschlossen an einem Strang zog. Und die SPD holte völlig überraschend den ersten Platz, wenngleich auch nur knapp.
Ich hatte in den vergangenen Jahren das Vergnügen, bei zwei öffentlichen Veranstaltungen mit Scholz über all diese Fragen zu sprechen. Eine fand im Sommer 2020 als Online-Talk des Kreisky-Forum statt, und hier ein paar Takte aus diesem Gespräch:
So sagte Scholz über die wachsenden Ungleichheiten der vergangenen Jahrzehnte:
Wir haben nur deshalb eine Chance, gut durch diese Krise zu kommen, weil wir einen intakten Sozialstaat haben, der seine Stabilisierungsfunktion wahrnimmt. Aber wir müssen aus dieser Krise lernen, dass jetzt ein Zeitalter der Solidarität gefragt ist. Wie sehr wir als Menschen miteinander verbunden sind, haben wir an vielen Beispielen erlebt. Wir müssen uns für die guten Perspektiven eines jeden und jeder in unserer Gesellschaft alle zusammen verantwortlich fühlen. Wie es dem Anderen geht, das muss unser gemeinsames Thema sein, das ist nicht nur das Problem dessen, der es hat. Es ist immer auch unseres! Das sollten alle einsehen, die das bisher anders empfunden haben. Ich hoffe, dass auch jemand, der bisher vielleicht wirtschaftsliberal dachte, dass er eh zu viel Steuern zahlt, jetzt auch merkt, dass ihm ein Staat nützt, der handlungsfähig ist und ihm jetzt sein Unternehmen rettet; und akzeptiert, dass sich Solidarität auch im Steuersystem niederschlagen muss, damit das finanziert werden kann. Wir wollen auch, dass jeder sein Leben so führen kann, wie er will, und das fängt damit an, dass die Löhne nicht so gering sein können, wie sie gelegentlich sind. Jetzt feiern alle die Arbeit von Pflegekräften und Leuten im Einzelhandel und sagen, dass das die Helden des Corona-Alltags sind. Aber vergessen wir dabei nicht, welche Löhne denen schon immer gezahlt werden. Und das muss man ändern, und da müssen wir auch bereit sein, die Konsequenzen zu tragen, die das für uns hat, als Verbraucher, das heißt dann auch höhere Preise. Das muss ein solidarischer Staat als sein Thema entdecken.
Über den Umstand, dass Regierungen in den vergangenen Jahrzehnten da eher wenig dagegen machten:
Wir müssen sicherstellen, dass es nach unten hin eine Absicherung bei den Löhnen gibt, die besser ist, als das heute der Fall ist, weshalb ich für einen höheren Mindestlohn eintrete. Dass manche ihren Lebensunterhalt kaum bestreiten können und nach einem Arbeitsleben keine ausreichende Rente bekommen, dürfen wir nicht hinnehmen. Das ist nicht nur eine monetäre Frage, sondern eine Frage des Respekts. Wir müssen auch den Sozialstaat weiter ausbauen. Und wir müssen immer wieder Perspektiven schaffen, damit niemand Angst haben muss vor Veränderungen.
Über Sicherheitsbedürfnis und den Wunsch nach Veränderung:
Ohne Sicherheit wird sich niemand auf Veränderung einlassen, ohne Veränderung wird aber keine Sicherheit zu haben sein. Wir sollten den Pessimismus und die Vorstellung, dass früher alles besser war, anderen überlassen. Wir brauchen Verbesserung und Veränderung, aber wir dürfen auch nicht zulassen, dass Optimismus nur zur Phrase wird.
Über die Frage, dass Wandel für viele in den arbeitenden Klassen vor allem Stress und oft Verschlechterung bedeutet und viele normale Menschen das Gefühl haben, dass sich für sie niemand interessiert:
Es wäre völlig falsch darüber hinweg zu gehen oder das zu ignorieren. Als jemand der früher als Arbeitsrechtsanwalt arbeitete, habe ich schon immer mitgekriegt, was sich da einschleicht, wachsender Lohndruck, prekäre Arbeitsverhältnisse. Ich bin da wirklich berührt und angefasst, wenn jemand sagt, an mich denkt ja niemand in der Politik. Dieser Eindruck darf einfach nicht entstehen.
Über Aufstiegsoptimismus:
Die Formel vom Aufstieg durch Bildung hatte eine unglaublichen emanzipatorischen Kraft und wurde lange auch richtig verstanden. Aber in der heutigen Welt hat man oft den Eindruck, dass manche meinen, man könne kein gelungenes Leben führen, wenn man „nur“ eine Schlosserlehre gemacht hat. Deshalb halte ich es für falsch, dieses Thema so stark zu machen. Es kann doch nicht sein, dass man als Politiker einem Hilfsarbeiter sagt: Hättest du etwas gelernt, hättest du einen besseren Lohn. Deshalb glaube ich, dass es eine moralische Wende braucht. Wir dürfen nicht mehr akzeptieren, welch schlechte Löhne für manche Arbeiten bezahlt werden.
Pletter zitiert zudem aus einem Interview, das Scholz im Wahlkampf der Zeit gab.
„Deshalb bin ich ja Politiker geworden, um mich dafür einzusetzen, die Würde zu schützen und dass niemand einem miesen Schicksal hilflos ausgeliefert ist, sondern Hoffnung haben kann. Ich habe sehr bewusst Respekt zu einem der großen Themen meiner Kampagne gemacht. Ich bin kein Journalist, der Verhältnisse nur beschreibt, auch kein Wissenschaftler, der die Dinge erklärt. Ich will die Verhältnisse verändern.“
Das sind zumindest Leitplanken eines „ökonomischen Paradigmas“, und sie prägen natürlich auch die Regierungsarbeit. Gewiss, seit bald drei Jahren ist die gesamte Politik im Krisen- und Panikmodus und legt Not-Programme auf, was heißt: Es wird viel Geld in die Hand genommen („Bazooka“, „Wumms“, „Doppel-Wumms“), und in Stützungsprogramme für Unternehmen, Konjunktur, für Energie, zur Abfederung der Teuerung usw. geleitet. Jedes dieser Programme braucht erst einmal Zeit, bis die verschiedensten Akteure zu einem Kompromiss gefunden haben – und während dieser Zeit üben sich Kommentatoren und Konkurrenz in „Prozesskritik“. Nicht die Programme werden kritisiert, sondern die Prozesse, die zu diesen führen. Logischerweise fährt die Politik auch auf Sicht und muss Entscheidungen treffen unter den Bedingungen von Ungewissheit. Auch die Programme selbst gelingen einmal besser, einmal schlechter. Dass in einer Dreier-Koalition, an der noch dazu die FDP beteiligt ist, kaum ein Paket aus „einem weltanschaulichen Guss“ zu erwarten ist, ist klar. Es muss auch mit heißer Nadel genäht werden. Wer hätte im Frühjahr noch gedacht, dass es gelingen würde, die Gasspeicher auf 95 Prozent zu füllen, LNG-Terminals in Windeseile zu erreichen und weit voran zu kommen auf dem Weg zur Unabhängigkeit von russischen Energielieferungen (Öl und Gas). Bei all diesen Notprogrammen geraten die eigentlichen Programmpunkte auch in den Hintergrund. Die Anhebung des gesetzlichen Mindestlohns auf 12 Euro pro Stunde wäre in normalen Zeiten eine große Sache im Kampf gegen Niedriglohnsektoren und Working-Poor gewesen. Angesichts der neuen Verhältnisse sorgt das gerade einmal zwei, drei Tage für Schlagzeilen – und angesichts der Inflation, die Reallohnverluste von rund 5-6 Prozent bringt, verpufft auch der Nutzen für die Betroffenen viel schneller, als das sonst der Fall wäre. So sieht das alles grosso Modo aus nach einem Jahr. Die Regierung Olaf Scholz‘ steht selbstverständlich deutlich besser da, als man bei einem flüchtigen Blick in die Schrei-TV-Sender glauben würde.