George Orwell: „Pazifismus ist objektiv pro-faschistisch“
Warum ein dümmliches „…aber beide Seiten“ nicht einfach nur falsch ist.
Vernunft & Ekstase ist ein userfinanzierter Blog. Unterstützen Sie das wöchentliche Erscheinen, indem Sie mit dem Button "Mitglied werden" einen kleinen monatlichen Beitrag leisten.
„Pazifismus ist objektiv pro-faschistisch“, schrieb der große George Orwell 1942. „Das ist ganz weitgehend unumstritten. Wenn Du die Kriegsanstrengung der einen Seite untergräbst, dann hilfst du automatisch der anderen. Es gibt auch keine Möglichkeit, irgendwie außerhalb eines solchen Krieges zu bleiben wie dem gegenwärtigen“. Elegant und entscheidungsschwach über den Dingen zu segeln, das ist eine bourgeoise Illusion, schrieb Orwell. Natürlich hat Orwell das aus einer spezifischen Situation heraus geschrieben. Er war Brite. Und Großbritannien war direkt im Krieg mit Nazi-Deutschland. In Großbritannien war pazifistische Propaganda erlaubt, in Deutschland wärst du für sie geköpft worden. Pazifistische Propaganda ist damit, „in anderen Worten eine Hilfeleistung für den Totalitarismus“.
Wir reden von 1942 und von Hitler. Heute ist das natürlich alles nicht völlig gleich. Es beginnt schon damit, dass die Ukraine in einem Krieg mit Russland ist, wir aber nicht im engen Sinn des Wortes. Der Westen unterstützt in unterschiedlichem Ausmaß die Verteidigung der Ukraine, aber ist nicht direkt Kriegspartei. Auch wenn dieser Konflikt viele Elemente eines „hybriden Krieges“ hat, übrigens nicht erst seit dem 24. Februar. Dass man sich in einem „hybriden Krieg“ gegen den Westen befinde, das ist seit Jahren faktische Sicherheitsdoktrin des Kreml. Wir waren nur zu blöd, uns damit zu beschäftigen.
Russland ist auch nicht Nazi-Deutschland und Putin ist nicht Hitler. Es gibt strukturelle Unterschiede, aber auch strukturelle Ähnlichkeiten. Die strukturelle Ähnlichkeit beginnt schon einmal damit, dass es sich beim gegenwärtigen Konflikt nicht allein um einen un-ideologischen territorialen Konflikt handelt (so wie wenn sich Großbritannien und Argentinien um eine Inselgruppe streiten), sondern um einen Konflikt von grundlegenderen Lebens- und Herrschaftsweisen. Russland ist eine Despotie, die in den vergangenen zehn Jahren ihren Bürgern und Bürgerinnen die demokratische Luft zum Atmen abgeschnitten hat, das Putin-Regime hängt einer expansionistischen, imperialen Idee an und die Propaganda, Sprache und Inszenierung des Regimes hat immer mehr faschistoide Elemente angenommen. Mit Orwell können wir daher sagen, dass jede Form des Appeasement gegenüber einem solchen Regime eine Hilfeleistung für den Totalitarismus ist.
Soweit zur moralischen Klarheit. Dass sich zur moralischen Klarheit auch Besonnenheit dazu gesellen muss, wahrscheinlich Entschiedenheit und Vorsicht zugleich angebracht sind, ist klar. Deswegen unterstützen westliche Regierungen die Ukraine in ihren Bemühungen, ihr Territorium zu verteidigen, halten die Sanktionen und den Druck auf Moskau aufrecht und geben sich auch die Zeit, abzuwarten, bis die innere Schwächung des Regimes noch mehr wirkt (dass sie wirkt, sieht man an sehr vielen Details, etwa den Versuchen von zigtausenden Russen, sich der Einberufung zu entziehen). Das ist wahrscheinlich alles klug so. Es ist auch nicht einmal aberwitzig, die Frage zu stellen, wie man Putin und seiner Kamarilla einmal einen gesichtswahrenden Ausweg eröffnen kann. Mit jemanden, der einen imperialen Eroberungs- und Auslöschungskrieg führt, ist schwer zu verhandeln, gegen jemanden, der ein großes Nukleararsenal besitzt, ist andererseits ein Siegfrieden ziemlich unrealistisch, wie Jürgen Habermas beispielsweise im Frühjahr in der „Süddeutschen“ schrieb. In der Praxis ist die Sache voller Ambiguitäten, völlig klar. Natürlich kann am Ende dieses Krieges ein Kollaps des Putin-Regimes stehen, eine innere Palastrevolution, aber genauso gut möglich ist, dass am Ende ein Verhandlungsfrieden steht.
Kriegsgeil?
Ein besonders unappetitlicher Text ist vor einigen Tagen in der „Süddeutschen Zeitung“ erschienen. Eine Nathalie Weidenfeld konstatierte quasi Kriegsgeilheit, eine „Faszination, die von der Gewalt des Krieges“ auf westliche Intellektuelle wirke, und machte „Sesselgeneräle“ aus. Nun mag es all das in der Geschichte gegeben haben und in Spurenelementen auch in der Gegenwart. Die Faszination des Soldatischen, eine gewisse Gier nach der elementaren Entschiedenheit, dass endlich mal wieder etwas riskiert wird, die Begeisterung auch für Leute, die zum Gewehr greifen. Rechte Intellektuelle waren davon sowieso immer infiziert, linke davor auch nicht immer gefeit, man denke nur an die Che-Guevara-Begeisterungen oder Andreas-Baader-Faszination. Aber was davon gibt es jetzt? Niemand bei uns wollte diesen Krieg, niemand freut sich, dass es ihn gibt, jeder wäre froh, wenn er morgen endet. Gewiss gibt es eine schwächere Form der von Weidenfeld unterstellten Mentalität, nämlich eine „Technisierung“ von Kriegsrhetorik, wenn von Angriffen, Verteidigung, Defensive, Rückeroberung, empfindlichen militärischen Schlägen, Truppenkontingenten, der Aufreibung von Einheiten und ähnlichem die Rede ist: Krieg wirkt dann wie ein Brettspiel. Die Sprache neutralisiert das Grauen. Dann kann leicht vergessen werden, dass jede Veränderung der Frontverläufe mit Toten, mit Verstümmelten, mit jungen Burschen verbunden ist, die schwerverwundet sind und erbärmlich schreien. Dass jeder „Vergeltungsschlag“ Menschen im Schlaf in ihren Betten tötet. Aber so leicht kann das heute auch nicht mehr vergessen werden, da wir sofort über Social Media mehr Bilder über die Entsetzlichkeiten in unsere Timeline gespült bekommen, als uns lieb ist.
Niemand ist fasziniert davon. Niemand ist geil darauf. Niemand sitzt wie beim Fußballspiel in der Westkurve mit der Ukraine-Fahne und jubelt, wenn wieder jemanden der Rumpf abgesprengt wird.
Ja, es ist auch so: Ein schlechter Friede, der hunderttausenden das Leben rettet, kann gelegentlich besser sein als ein gerechter Krieg. Die militärische Befreiung der Unterdrückten sollte man sich drei mal überlegen, wenn die Unterdrückten nach ihrer Befreiung tot sind – das ist eine Binsenweisheit. Allerdings: Dem Totalitarismus ohne Gegenwehr den Triumph schenken und die Freiheit von Millionen opfern ist meist ein noch größeres Übel, da auf längere Sicht immens gefährlich. Die Welt ist nicht nur komplex, sie hält oft auch nur die Wahl zwischen fürchterlichen Alternativen parat und hat die wunderschöne, sanfte, rosarote, freundliche Alternative leider nicht im Angebot. Wenn die eine Seite einfach in Ruhe gelassen werden möchte, die andere aber von einem kriegstreiberischen Despoten in Geiselhaft genommen ist, dann ist das nicht gerade ein Anordnung, in der man „beide Seite“ zu Verständigungsbereitschaft aufrufen kann. Wer das tut, ist, um auf den großen George Orwell zurück zu kommen, „objektiv pro-faschistisch“. Wer die Verteidigungsbereitschaft der einen zu untergraben versucht, hilft automatisch den imperialen Ansprüchen der anderen.