Folge 102 und 103
Vorweg
November und Dezember, konnte ich feststellen, sind nicht plötzlich leerer geworden, weil die Kinder erwachsen sind. Irgendwie häufen sich da immer auch Termine, die absolut nichts mit dem so genannten Weihnachtsgeschäft zu tun haben. (Der Begriff Weihnachtsgeschäft passt ja zu Arbeitskontexten ebenso gut wie zu familiären.) Aber das professionelle und private Weihnachtsgeschäft häuft sich dieses Jahr auch früher, weil ich eine Art Adventskalender im Angebot habe, der eifrig verschickt werden muss und schon Anfang Dezember zu einer Art Vorweihnachten nach München fahre. Dafür sind wir dann an Weihnachten selbst ausnahmsweise zuhause, vielleicht bekomme ich ja zwischen den Tagen endlich die Möglichkeit, das Dritte Buch Girls zu vollenden. Letztes Jahr um diese Zeit und auch noch im Dezember gab es kaum professionelles Weihnachtsgeschäft und auch kaum Auftritte, ich will also nicht meckern, Luxusproblem.
Gestern war ich auf einer ausgesprochenen Buchbranchenveranstaltung, und es war irgendwie offener als früher, das war schön. Menschen mit einigermaßen unterschiedlichen Positionen schafften es tatsächlich ohne Augenrollen miteinander durch den Tag. Außerdem waren extrem viele Frauen auf der Bühne und das wohl sogar unabsichtlich, das war auch schön. Ich wurde in der Diskussion einmal »Kollegin Frohmann« genannt, das hatte ich noch nie. Schade, dass Buchbranchenmenschen nicht »Genossin« sagen, das hätte sich noch fiktionaler aka angemessen angefühlt. Aber es war da gestern viel zu weiß, unglaublich weiß sogar, das wird wohl weitere zehn Jahre brauchen, die wir gesellschaftlich nicht haben. Pls change faster.
Immerhin war Deniz Utlu da und ich traute mich, Hallo zu sagen, obwohl wir uns noch nie getroffen hatten, und ich erzählte ihm auch, dass ich Vaters Meer (Abre numa nova janela) lieben würde und das Buch auf Empfehlung einer Freundin gelesen hätte, die er ebenfalls kennt.
Etwas Altes: Gutschlechte Gewohnheiten
Früher wurde gesellschaftlich das Bild vermittelt, disziplinierte Menschen mit hehren ethischen Überzeugungen und unbedingtem Bildungs- sowie Arbeitswillen wären die Norm und alle anderen böse bzw. bemitleidenswerte Ausfälle. Dank Sozialen Medien wissen Menschen nun, dass das Gegenteil der Fall ist. Normale Menschen liegen, wann immer es ihnen möglich ist, antriebslos und latent bis sehr niedergeschlagen auf der Couch, snacken und sehen Bewegtbilder auf Screens an. In die Bibliothek oder zur Demo schaffen sie es viel seltener, als Instagram vermuten lassen würde.
Einer meiner Lieblingsaccounts aus teils unlauteren Motiven ist der einer neoliberalen Person, die zwischendurch immer wieder mal schreibt, was sie so zum Spaß mit ihrem Kind unternimmt, natürlich alles Höchstkultur-Großereignisse. Sie macht das wirklich, da bin ich sicher, aber sie hat offenkundig keine Ahnung, wie andere Menschen leben, und vermutlich kennt sie auch kein einziges Pokémon beim Namen.
Des weiteren gibt es auch angeblich schlechte Angewohnheiten, die vielleicht nicht die Norm sind, aber es in meinen Augen verdient hätten, mehr als persönliche Eigenheiten betrachtet zu werden. Folgende meiner angeblich schlechten Angewohnheiten möchte ich hiermit rehabilitieren, nichts an ihnen ist verkehrt, weil niemaus dabei Schaden nimmt:
im Bett arbeiten (wozu sonst gibt es Laptops)
Sommer-, Winter-, Drinnen-, Draußen-, Tages-, Abendkleidung als Konzept ignorieren (schöne Kleidung hat auch eine Funktion)
öffentlich Schwächen bekennen (ich bin 1. keine Powerfeministin, 2. ist es mir egal, ob Typen das nie machen würden, 3. glaube ich, dass es anderen gut tut, zu sehen, dass ich selbstbewusst bin und unsicher, viel hinbekomme und viel vergeige)
Selfies mit anderen verweigern (lasst mich einfach in Ruhe)
industrielle Schokoladenadventskalender innerhalb weniger Tage oder auch schon vor dem 1.12. plündern und die Türchen sorgsam wieder verschließen (eine eigene Kunstform, meine Meinung)
tbc
Ihr könnt mir gern in einer Mail schreiben, ob ihr auch solche Eigenarten habt, die nicht frech von anderen abgewertet werden sollten.
Noch etwas Altes: Alte alte Freundinnen
»Alte Freundin« bedeutet ja üblicherweise Freundin, die man schon ewig kennt. »Alte Freundin« kann aber auch heißen, dass eine Freundin deutlich älter ist als man selbst, so dass das ein Thema ist. Oder es deutet an, dass die Freundin und mit ihr man selbst gleichermaßen jetzt alt wird oder ist. Letzteres ist neu für mich, aber es ist real. Einmal im Jahr treffe ich mich mit zwei Freundinnen, die ich schon ewig kenne und die und ich mit ihnen allmählich älter werden. Noch nicht so ganz alt, noch einigermaßen mittelalt, aber seit einer kleinen Weile gefühlt beim besten Willen nicht mehr jung. Während andere, oft um einiges jüngere Freund_innen nicht zugeben wollen, dass ich altere, und diese Vorstellung sogar energisch ablehnen, weil sie vielleicht befürchten, dies könnte etwas Trennendes sein, darf ich hier zwei, drei Tage offiziell alt sein. Das ist sehr entspannend. Es hat sich für mich schon länger angedeutet, dass ich in einer Um- und nicht zu hundert Prozent auch gleich wieder Aufbruchphase bin. An manchen Sachen habe ich seither das Interesse verloren (Gründen, Initiieren, Vorangehen), für manche Sachen bin ich neuerdings nicht mehr bereit, Lebenszeit aufzuwenden (Ü20-Menschen beim Endlosinterpretieren weirder Datingvorkommnisse zuzuhören), und manche Sachen machen mir jetzt erstmals plausibel, warum Menschen irgendwann auch gar keine Lust mehr haben, immer noch weiter zu leben (Soziale-Medien-Verfleischwolfung). Letzteres klingt jetzt wirklich sehr alt, ihr könnt gern die Welt ändern, dann lasse ich diesen Strang wieder fallen.
Jedenfalls hatte ich, hatten wir sehr angenehme alte Tage. Die reine Freude, was ja viele Freund_innenschaften sind, alle haben irgendwie ihre besonders schönen Zeiten und Räume. Bei diesem Treffen waren sogar zwei Ehemänner dabei, so safe ist der Space, dass das keinen Unterschied macht. Meine alten alten Freundinnen, die ich natürlich einst im Internet fand, grinsen jetzt bestimmt beim Lesen vor sich hin.
Ich bin nicht jeden Tag alt, nur manchmal, sie auch, und das ist doch okay.
Etwas Neues: Bahn-Masterclass
Als Person mit ausgeprägtem Bedürfnis, in der Öffentlichkeit (vielleicht auch immer) in Ruhe gelassen zu werden, sind Reisen für mich nichts, worüber ich im Norman-Mailer-Outfit Bücher schreiben würde, sondern purer Stress. Woanders sein: hui, woanders hin und wieder her kommen: pfui. Also überlege ich mir gut, wie ich, ohne ein offenkundiges soziales Monster zu sein, erreichen kann, dass im Zug der Platz neben mir frei bleibt. Hartgekochte Eier auszupacken und zu verspeisen, ist mir als Werkzeug zu offensiv. Mich schlafend zu stellen, ist einerseits nervlich belastend, andererseits auch moralisch ausgeschlossen, wenn der Zug wirklich voll ist. Aber mein neuer Trick ist bislang stabil. Ich reserviere den Gangplatz neben einem dieser ungefähr zehn Plätze im Zug, die auf dem Plan ein Ausrufezeichen haben, weil man von dort aus nicht gut aus dem Fenster sehen kann. Wer will schon, solange es noch andere Plätze zu reservieren gibt, einen schlechten Platz neben einem bereits reservierten okayen nehmen: niemand. Ihr dürft das gern nachmachen, aber bitte nicht weitererzählen, sonst klappt es bald nicht mehr.
Noch etwas Neues: Stiefelgespenst
Ein neues Medienphänomen ist, dass man potenziell nicht nur seinen Menschen und Haustieren, sondern auch seiner Kleidung im Internet begegnet. Nicht nur in dem Sinne, dass da Angebote sind, die einem gefallen und die man dann bestellt, geliefert bekommt, besitzt, trägt. Nein, es begegnen einem auch Kleidungsstücke, die man bereits vor langer Zeit gekauft hat und mittlerweile als Teil des Selbst empfindet: Persönliche Kleidung entfremdet sich instantan, entwickelt ein gespenstisches Eigenleben, spukt.
Gestern geisterten meine schwarzen Stiefel durch die TL und ich war so überrascht, sie zu sehen, dass ich sie impulsiv gefavt habe, nicht den Post, die Werbung, sondern sie, als würde es sich wirklich um mein Paar Stiefel handeln und nicht um seelenlose Doppelgänger. Ich favte die Stiefelgespenster so wahrhaftig, wie ich das Selfie einer alten Freundin favn würde.
Weiiiiird. Aber nicht wirklich unheimlich, also nur gedanklich, nicht gefühlt unheimlich.
Etwas Geborgtes: Ein Zitat
»Anyway, you never get there, you just keep going.«
– T. Fleischmann, Time Is the Thing a Body Moves Through (Abre numa nova janela)
Noch ein Zitat
»words gone as wounds appeared«
– Celia A. Sorhaindo, Guabancex (Abre numa nova janela)
Für Neue: Zitat hier = Leseempfehlung fürs ganze Buch
Etwas Unheimliches: Gruselgrafik
Ich weiß nicht, warum mir immer so ein Kram in die TL gespült wird, vermutlich weil ich vor solchen Werbungen minutenlang perhorresziert verharre:
Alfred Hitchcocks Meisterwerk »Psychografik«
*wischt ganz sicher nicht*
Noch etwas Unheimliches: Verlauren
Nachfolgend das beste Stück meiner Homestory-Merkwürdigkeiten-in-Designzeitschriften-Sammlung, der Thomas Gottschalk unter den Boomern. Falls ihr aktuell erwägen solltet, Ralph Laurens nächste viel jüngere Frau zu werden, überlegt bitte noch mal kurz, außer, der True Crime Vibe ist euer Ding.
Rubrikloses
Wenn dir zwei von drei Bildelementen verraten, dass du in Berlin bist
»Calmer« oder instinktiv vor Angst starr, weil auch Babys ihre Augen behalten wollen?
Maximaler Animal-Crossing-Vibe
Sage ich auch immer.
Präraffaelitische Girls erklären
So just relax and enjoy your croissant. Wir sehen uns nächste Woche. Seid lieb, nur nicht zu Nazis.
XOXO,
FrauFrohmann
Ich freue mich, wenn ihr für eine Weile ein Bezahlabo (Abre numa nova janela) abschließt oder über Paypalme (Abre numa nova janela) Laser eine Katzenmilch spendiert. Wer wenig Geld hat, liest bitte mit bestem Gewissen kostenlos mit.
FYI: Das Coverbild ist minus der rosa Einfärbung Meisje met de parel von Jan Vermeer aus dem Jahr 1665.
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