Folge 6
Etwas Altes: Ceci n’est pas un livre
Das E-Book hat ein Image-Problem. Ein Grund dafür ist klassische Medienangst. Es mag ja sein, dass die Schrift nicht die Dichtung, die Kunst nicht die Philosophie, der Roman nicht das Epos, die Fotografie nicht die Malerei, das Kino nicht die Literatur, das Fernsehen nicht das Kino, das Video nicht das Fernsehen, der Stream nicht das Video und überhaupt das Digitale nicht das Analoge zerstört hat. Aber »dieses E-Book«, wie es gerne parallel zu anderen technikgestützten Innovationen wie »dieses Facebook« oder auch »dieses Twitter« genannt wird, löst bei vielen noch immer Befremden aus.
Programmatische Print-only-Leser:innen sehen in E-Books schlicht schlechte Digitalkopien von Büchern. Im Verhältnis zum E-Book erscheint ihnen das gedruckte Buch erhaben, als »richtiges Buch« eben. Erstaunlich oft wird das Verlegen von E-Books deshalb auch mit Self-Publishing und minderwertiger Qualität gleichgesetzt, was schlichtweg Unsinn ist. Es gibt professionelle E-Book-Verlage und Self-Publishing, gerade so wie es professionelle Verlage und Print-on-Demand gibt.
Wenn man mit Autor*innen spricht, die in klassischen Verlagen veröffentlichen, gewinnt man schnell den Eindruck, dass auch dort das gründliche Lektorat längst keine Selbstverständlichkeit mehr ist, weil es extern und schlecht bezahlt durchgeführt wird. Eher ist es so, dass manche Indie-E-Book-Verlage in ihrem Beharren auf traditionellem Lektorat und schöner Gestaltung diese nach wie vor Traditionsverlagen zugesprochene Rolle übernommen haben. Hier arbeiten ausgesprochene Literaturliebhaber*innen, während die »klassischen Verlage« meist nicht mehr von visionären Inhaber*innen geführt werden, sondern gewinnorientierte Verlagsgruppen sind.
In den Medien kommt das E-Book aber nur dann vor, wenn Amazon wieder einmal eine Neuerung vorstellt, wie zuletzt sein Flatrate-Angebot »Kindle Unlimited«. Am E-Book selbst herrscht aber fast schon aggressives Desinteresse.
Dabei ist unter Verleger*innen Aufbruchstimmung zu spüren. 2013 gründeten mehrere Autorinnen und Autoren fast gleichzeitig in Berlin E-Book-only-Verlage, darunter Mikrotext, Frisch & Co, Ring E-Books und Shelff, mit denen sich der Frohmann-Verlag zum E-Book Network Berlin zusammengeschlossen hat. Im Juni dieses Jahres fand in Berlin mit der Electric Book Fair die erste Messe für E-Books und neue E-Book-Verlage statt. Im Netz eröffnen ständig neue Vertriebsplattformen und E-Book-Shops. Das feministische Missy Magazine hat gerade als erste Zeitschrift eine E-Book-only-Rezensionskolumne eingeführt. Laut Börsenverein des deutschen Buchhandels liegt der Marktanteil von E-Books inzwischen bei 3,9 Prozent. Was sich verkauft, sind vor allem Genre-Literatur und Sachbücher.
Vermutlich hätten es E-Books im deutschsprachigen Kulturraum von Anfang an leichter gehabt, wenn sie nicht wegen ihrer irreführenden Bezeichnung und diversen Gestaltungselementen – die Reader-Schutzhülle im Buchcoverdesign, die beim »Umblättern« raschelnden Seiten und Eselsohrmarkierungen mancher Leseapps – mit der klassischen Buchkultur so eng in Verbindung gebracht worden wären. Es gibt nämlich, mindestens, zwei Arten von E-Books und nur die eine lässt sich sinnvoll als »elektronisches Buch« bezeichnen: die digitale Ausgabe eines geistig-immateriellen Inhalts, der auch als gedrucktes Buch erhältlich ist. Wenn ein Titel als Printbuch existiert und der Verlag dazu eine digitale Ausgabe produziert, so ist dieses ein »richtiges E-Book«.
Der Text strömt
Deutlich eigensinniger, hybrider und interessanter sind die »falschen E-Books«, die kaum etwas mit Printbüchern gemein haben und deshalb eigentlich nicht sinnvoll »elektronische Bücher« genannt werden können. In und mit ihnen zeigt das neue Format performativ, was es kann: ein buchstäblich offener Text sein, der in verschiedenen Versionen neben- und nacheinander existiert, der sukzessive neue Gedanken, Bilder und Autoren in sich aufnimmt, der strömt und Resonanzschleifen erzeugt, der mittels Verlinkung beim Lesen rekursiv hin und her springt, der in seinem ungewöhnlichen Erscheinen neue Erfahrungs-, Vorstellungs- und Gefühlswelten eröffnet, die mit einem sich ständig verändernden Schreiben und Lesen einhergehen.
Den Gestaltungsmöglichkeiten von E-Books, echten und falschen, sind, darin irren die Kritiker*innen nicht, zum jetzigen Zeitpunkt noch Grenzen gesetzt. Mangels fehlender Standardisierungen von Dateiformaten, Leseapps und -geräten sehen ambitionierte Layouts nicht auf allen Geräten gleich gut aus oder weisen sogar Darstellungsfehler auf. Professionelle E-Book-Verleger*innen bescheiden sich daher für den Moment mit einer einfachen Gestaltung. Mit der Textsammlung Ästhetik des E-Books, die gratis als E-Pub-Datei heruntergeladen werden kann, wurde im Rahmen der Electric Book Fair deshalb nun ein Forum geschaffen, um die Diskussion zwischen Text-, Design- und Tech-Personen zu eröffnen.
So wie die meisten Argumente gegen das Medium auf die »falschen«, eher Insider*innen bekannten E-Books nicht zutreffen, referieren die meisten Argumente dafür – die Möglichkeit, seine ganze Bibliothek bequem mit sich herumzutragen oder auch die Schriftart und die Schriftgröße selbst bestimmen zu können – eigentlich nicht auf die E-Books selbst, die ja genau genommen nichts anderes als Dateien sind, sondern auf Lesegeräte. Es ist das Resultat eines begrifflich unscharfen Sprachgebrauchs. Selbst die Literaturwissenschaftlerin und Autorin Ruth Klüger outete sich 2011 im ersten Titel von eriginals berlin, Anders Lesen als »süchtige E-Book-Leserin«, wobei sie den Kindle ihr »E-Book« nannte. Dieser vermeintliche Fehler bei einer höchst sprachsensiblen Person deutet darauf hin, dass bei erfahrenen E-Book-Leser*innen Datei und Lesegerät beim Lesen als Vorstellung verschmelzen.
Bob Browns Vision
Wem das nicht plausibel erscheint, dem sei empfohlen, einfach einmal ein E-Book zu lesen, am besten ein schönes falsches von einem ambitionierten E-Book-only-Verlag, etwa die poetischen Drinkmails aus Der Gin des Lebens von Stefan Adrian (Mikrotext), den digitalen Fortsetzungsroman Der Katechon von Johannes Thumfart (Shelff) oder das zwischen E-Book-Anthologie, Blog und Baumwollbeutel springende Berlin Unschick (Frohmann). Die meisten Menschen zeigen sich, wenn sie es denn endlich am eigenen Leib zu fühlen bekommen, äußerst überrascht, wie angenehm es sich auf einem Reader, ja selbst auf einem Smartphone liest – laut Ex-Verlegerin Elisabeth Ruge und Trendforscher Johannes Kleske ohnehin das Lesegerät der Zukunft. Ob ein E-Book nun gut oder schlecht ist, erweist sich dann nicht mehr als eine prinzipielle Frage. E-Books sind so gut, wie man sie macht. Zumindest in dieser Hinsicht sind auch falsche E-Books Büchern vergleichbar.
1930 beschrieb der US-amerikanische Visionär Bob Brown in seinem zwischen futuristischem Gestus und Jules Verne’scher Bilderwelt oszillierenden Manifest The Readies »eine Maschine, die uns das Bewältigen der gewaltigen Menge an Gedrucktem erlauben und dabei optisch ansprechend sein wird«. Wie bei heutigen Lesegeräten sollte man mit dieser erfundenen Maschine die Schriftgröße den eigenen Bedürfnissen anpassen können. Als prospektiver Geistesverwandter der Avantgarde des Jahres 2014, die sich nicht für richtige E-Books interessiert, galt Browns Aufmerksamkeit nicht der bloßen Umformatierung klassischer Inhalte, sondern »einer verdammten Revolution des Wortes«.
Das falsche E-Book ist als kultureller Möglichmacher verdammt revolutionär und das, obwohl ihm als Format bereits zwangsläufig sein Ende eingeschrieben ist. Revolutionär am E-Book-Schreiben, -Lesen und -Verlegen ist eben nun mal auch, dass darauf hingearbeitet wird, in das nächste Format, die nächste Literatur und die nächste »verdammte Revolution des Wortes« überzugehen.
Zuerst erschienen in DER FREITAG, 31/2014 (Abre numa nova janela). Ich habe nachträglich gegendert und eine falsche Quellenangabe zum Text von Ruth Klüger korrigiert. – Inhaltlich hat sich nichts geändert, jedoch sind die Aufbruchstimmung und die meisten Projekte aus der Anfangszeit leider verschwunden, wohingegen alle Übriggebliebenen mittlerweile auch Printtitel veröffentlichen, was mit dem im Artikel Beschriebenen und unverändert Wirkenden zusammenhängt.
Etwas Neues: Digital aufgeschlossen, 1
»Der Begriff ›digital native‹ ist analog naiv.«
(Tweet, (Abre numa nova janela) 17.6.2014)
Ich glaube von jeher nicht an das Konzept digital native, sondern an grundsätzliche Aufgeschlossenheit mit zwei Ausprägungen: technologische Aufgeschlossenheit und kulturelle Aufgeschlossenheit. Beide sind nicht immer und oft nicht sinnvoll voneinander zu trennen, aber es gibt etwa Menschen, die kein Problem damit haben, anders aussehenden, sprechen, liebenden, lebenden Menschen offen zu begegnen und sich nicht zutrauen, die Bedienungsanleitung für einen Staubsauger eigenständig zu verstehen. Es gibt auch Menschen, die jedes erdenkliche technische Gadget nutzen und sich nicht gut auf andere Menschen einlassen können. Man kann annehmen, dass Menschen, die sowohl technisch als auch kulturell aufgeschlossen sind – ich fasse das als »digitale Aufgeschlossenheit« zusammen – es im aktuell rasanten globalen Wandel leichter als andere haben. Man kann auch annehmen, dass viele der Menschen, die gerade durch anscheinend rätselhafte Irrationalität unangenehm auffallen, willkürlichen Halt im festen System der Verschwörung suchen, weil sie die universalen Veränderungen schlecht vertragen. – Mit Rechten reden ist trotzdem falsch, weil sich der Exit ja gerade auf sprachlich verfasste Argumente bezieht. Sie sind keine Querdenker*innen, sondern Querredende und darüber finden sie zueinander, spüren Zugehörigkeit, die ihnen signalisiert, dass sie Recht haben, obwohl sachlich alles ein unglaublicher Quatsch ist. Eher schon müsste man für rechte Schwurbels künstlich Situationen schaffen, die ihnen angstfrei positive Erfahrungen mit sich ändernden Realitäten ermöglichen. Nein, nicht eher, es ist notwendig, denn Rechte gehen ja nicht weg, nur weil sie nicht Recht haben, und solange sie da sind, bedrohen sie oft unmittelbar und immer mittelbar die Leben von Menschen, denen sie das Menschsein absprechen. Weil aber sozial denkende Menschen in der Regel selbst keine Gewalt ausüben wollen, um andere von Gewalt abzuhalten, muss man, egal wie es einen persönlich ankotzt, versuchen, Menschen rechtes Denken weniger plausibel zu machen. Aber, wie gesagt, meines Erachtens eher nicht mit Worten, als mit inszenierten Erlebnissen, mit performativer Aufklärung.
In Teil 2 nächste Woche erzähle ich euch von Uroma, Pionierin der digitalen Aufgeschlossenheit.
Digitale Kunst von Uroma
Etwas Geborgtes: Ein Zitat
»Sobald man anfing, über Identität nachzudenken, fächerte sich die Wirklichkeit in so viele Dimensionen auf, dass es keine richtigen Worte mehr für sie gab.«
– Mithu Sanyal, Identitti (Abre numa nova janela), S. 46
Etwas Uncooles: »Ungraziöse Katze«
Kennt ihr das, wenn Katzen, die man zu Recht elegante, geschmeidige, graziöse Tiere nennt, breitbeinig auf dem Hintern sitzen, den Schwanz irgendwie random eingeklemmt und sich komplett unbeholfen vornüber am Bauch putzen, dabei am besten noch in der Bewegung einfrieren, mit raushängender Zunge und Glotzblick?
Und wisst ihr was? Es ist okay. Die Yogaposition ungraziöse Katze ist für Katzen okay und auch für Menschen. Als Zufallsereignis, als wtf-Moment, als Corona-Habitus, als Dauerzustand und als Haltung. Wirklich.
Leider kein Bild von »ungraziöse Katze« vorhanden (wird nachgeliefert), statt dessen ein Partyschnappschuss
Rubrikloses
Aufbruchstimmung, eBookCamp Hamburg (2013)
Als ich noch über Medien-Ignoranz scherzen konnte (2014)
Hexenflexen: Meine beste E-Book-Cover-Idee ever (Tausend Tode schreiben, seit 2015 fortlaufend)
Wenn Realität aussieht wie so ein schlimmer Sozialkitsch-Tweet (die immer nur Selfie-Publishing sind: seht her, so menschlich bin ich, gebt mir Klicks, gebt mir besten Job!)
Wunderschöner Moment: Mahret Ifeoma Kupka traut sich dann doch, zu Chimamanda Ngozi Adichie hinzugehen (Frankfurter Buchmesse, 2018).
Guerlica
Zurück zur Geschichte, zu den Geschichteschreibenden; wir sehen uns in einer Woche wieder.
– Seid lieb, nur nicht zu Nazis.
FrauFrohmann
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Wenn ihr könnt und wollt, werdet zahlendes Mitglied (Abre numa nova janela) mit einem Betrag, der euren Möglichkeiten entspricht. Oder spendiert Laser ein Sixpack Katzenmilch über Papyal (Abre numa nova janela). Bitte empfehlt New Frohmanntic sehr gern weiter.
Abbildungen (c) Das Bild vom E-Book-Camp stammt von den Veranstalter*innen. Die Vorlagen der Guerlica-Bilder sind Werke von Malern, deren Namen aus konzeptuellen Gründen verschwiegen werden, das Coverbild »Die zertanzten Schuhe« ist Teil meines multimedialen Zyklus The End of Pop. Auch die übrigen Bilder sind von mir.