Panikmache in den Sozialen Medien - Fallbeispiel

Ich wurde am Montag von Michael per PN auf Steady danach gefragt, was ich von einem Facebook Posting halte.
Nun bin ich in der Zwickmühle.
Einerseits möchte ich den Nutzer nicht bloßstellen, da er es vielleicht einfach nur gut meint. Andererseits bin ich schon mehrfach auf dessen Postings aufmerksam gemacht worden. Die teilweise eine überraschende Reichweite erreichen.
Das liegt offenbar daran, dass er aus meiner Sicht den Panik-Knopf bedient. Ob bewusst oder unbewusst.
Dafür verwendet er Informationen aus populären Quellen. Also das, was jeder Normalsterbliche auch so lesen würde. Die er jedoch verzerrt oder gar falsch wiedergibt. Und das halte ich für gefährlich.

Daher gehe ich das Posting einmal durch.
„Die Menschen, die die russische Bedrohung verharmlosen, versuchen sich mit dem Argument zu beruhigen, dass Russland ja nicht einmal in der Ukraine zurechtkommen würde und dort Menschen und Material in einem Umfang verlieren würde, dass es für Europa keine Gefahr sein kann.“
Alle Medien und wirklichen Experten berichten etwas anderes.
„Das ist leider nur bedingt richtig.
Die 600.000 in der Ukraine kämpfenden russischen Soldaten sind keine Soldaten der regulären russischen Armee.“
Zunächst kämpfen keine 600.000 russische Soldaten in der Ukraine.
Die aktuelle Zahlen, die auf Schätzungen des ukrainischen Nachrichtendienstes beruhen, gehen von 470.000 russischen Soldaten aus. Aber nicht kämpfend, sondern in der Ukraine. Was bedeutet, das sind auch Soldaten die beispielsweise auf der Krim die Verwaltung übernehmen, den Hafen Sewastopol in Betrieb halten, Flugplätze versorgen, usw. (Kampftruppen zu allen anderen ca. 1 zu 3 oder weniger.)
600.000 ist die Zahl der von der NATO geschätzten getöteten und verwundeten russischen Soldaten Ende letzten Jahres.
Und selbstverständlich sind sie Teil der „regulären russischen Armee“. (Hier spricht man von Streitkräften, aber geschenkt.) Denn in Russland besteht eine Wehrpflicht.
„Es sind Freiwillige und Vertragssoldaten. Die reguläre russische Armee ist weiterhin völlig intakt.“
Hier wird der Eindruck vermittelt, es gäbe zwei Streitkräfte. Einmal das Gerümpel in der Ukraine und einmal die „richtigen“ Streitkräfte. Das ist grundlegend falsch.
Zudem ist die Aussage, diese „reguläre Armee“ sei weiterhin intakt, völlig absurd.
Aufgrund von verschiedenen Quellen, auch russischen, habe ich bereits Ende 2023 oder Anfang 2024 erklärt, dass etwa 80 Prozent der Luftlandetruppen Russlands aufgerieben sind. Nur um ein Beispiel zu nennen.
Diese VDV (WDW, ВДВ) stellen in Russland eine eigene Teilstreitkraft neben Heer, Marine und Luftwaffe dar. Zu ihnen gehören auch die bekannten Speznas. Das sind die, die bei Paraden mit den himmelblauen Barretts und den gestreiften Unterhemden marschieren.
Bereist Ende 2023 wurden sogar Einheiten aus Ussurijsk herangezogen (83. Luftsturm-Brigade), das liegt am Japanischen Meer, 7000 Kilometer entfernt.

„2022 hatte Putin rund eine Million ausgebildeter und ausgerüsteter Soldaten in dieser Armee.“
Man geht von weit weniger aus. Siehe untern. Und diese Million „ausgebildeter und ausgerüsteter Soldaten“ enthält eben auch die Wehrpflichtigen und die, die in der Ukraine im Einsatz sind.
„Heute sind es 1,5 Millionen.“
Auch das ist falsch.
Es wurde angeordnet, von einer Million auf 1,5 aufzustocken. Das bedeutet, das findet jetzt erst statt. Man spricht also von der »Sollstärke«. Was in der Realität passiert, ist etwas ganz anderes.
„Im Kriegsfall könnte er diese mit Rekruten, Reservisten und Freiwilligen auf bis zu 2,5 Millionen Soldaten aufstocken.“
Ich weiß nicht, woher diese Zahl stammt. Ich halte es für reine Phantasie.
Richtig ist, dass es eine »Sollstärke« von zwei Millionen Reservisten gibt. Bei einer Wehrpflicht sind das also alle, die einmal die Wehrpflicht geleistet haben und noch im wehrfähigen Alter sind. Was in Russland sehr alt sein dürfte.
Da kam die Bundeswehr 2023 übrigens auf über 900.000. Und das soll ja aufgestockt werden.
„Beim militärischen Material sieht es ähnlich aus. In der Ukraine wird fast ausschließlich altes eingelagertes Material aus Sowjetzeiten eingesetzt. Neu produziertes modernes Material wandert in Depots und nicht in die Ukraine.“
Richtig ist, dass Russland an seinen Kapazitäten arbeitet, um über den Ukrainekrieg hinaus Panzer (und vermutlich andere Waffen) für die Depots produzieren zu können.
„Die Russen produzieren 1.500 moderne Panzer in 2025.“
Das ist eine Schätzung, die durch den Generalinspekteur der Bundeswehr General Carsten Breuer im Juli 2024 geäußert wurde. Sie ist aber falsch wiedergegeben.
„Die russische Armee stockt Jahr für Jahr um 1.000 bis 1.500 zusätzliche Panzer auf. Die fünf größten europäischen Nato-Mitgliedsstaaten haben gerade mal die Hälfte davon im Bestand.“
Das bedeutet, es ist eigentlich noch dramatischer. Denn das sind nicht alle produzierten, sondern die geschätzte Zahl der zusätzlich produzierten Panzer. (Dem kann ich mich übrigens nach wie vor nicht anschließen, da ich keinerlei Erklärung für diese oft wiedergegebene Aussage kenne. Bis dahin bleibe ich skeptisch.)
Zudem wird die Zahl häufig von Medien falsch kontextualisiert, indem sie 300 Kampfpanzern der Bundeswehr gegenübergestellt wird. Kampfpanzer sind aber nur ein Teil der 1500 Panzer, dazu zählen vor allem auch Schützenpanzer, die BMP, die produziert werden wie Fischdosenstanzen, und Artilleriepanzer.
Von „modern“ hat niemand etwas gesagt. Russland hat in dem Bereich quasi nichts, was irgendwie „modern“ wäre. Bei den Kampfpanzern wäre das Modernste der T-90, der aber ungefähr (!) auf dem Niveau der Version des Leopard II ist, auf dem auch ich Anfang der 90er gelernt habe.
Der Kampfpanzer, der am häufigsten im Dienst ist und von dem größten Werk Uralwagonsawod in Dreierschichten produziert, nachgerüstet und repariert wird, ist nach wie vor der T-72. Und ich sehe keine Änderung.
Nur um eine Relation zu geben:
Die Auswerter-Plattform Oryx sammelt Hinweise auf alle kaputten Panzer. Und sie versucht jede Meldung zu verifizieren, beispielsweise durch Social Media und offizielle Meldungen.
Laut Oryx hat Russland in der Ukraine bisher 12702 Panzer verloren. (Zerstört, beschädigt, erobert, etc.) Plus anderes Gerät.
Selbst wenn sie also 1500 Panzer für die Depots produzieren können, kämen sie damit nur in der Ukraine nicht einmal ein halbes Jahr aus.

Das erklärt vielleicht auch, warum ich mir bei der Aussage erlaube skeptisch zu sein. Das ist nämlich gar kein so großes Ding. Der General wird da schon seine Quellen haben.
„Sie wollen mehr als 1.000 ballistische Raketen pro Monat produzieren, verschießen davon aber nur ca. zehn pro Monat auf die Ukraine.“
Auch hier weiß ich nicht, woher diese Zahl stammen soll. Mir ist sie unbekannt. Ich halte sie für absolut illusorisch. Raketen vielleicht, aber ballistische?
Es gibt dokumentierte Fälle (über die auch ich berichtet hatte), in denen die Seriennummern von abgefangenen Raketen gefunden und ausgewertet wurden. Und sie wurden erst im vorherigen oder sogar gleichen Quartal produziert. Das kling nicht nach vollen Depots.
„3 Millionen Artilleriegranaten produziert Russland jährlich, verschießt in der Ukraine aber fast ausschließlich aus Nordkorea gelieferte Munition. Drohnen aller Größenordnungen werden zu Hunderttausenden produziert.“
Dazu kann ich nichts sagen, die Zahlen lese ich zum ersten Mal.
„Die starke Nordmeerflotte und die russische Luftwaffe sind nahezu vollständig intakt und werden weiter modernisiert.“
Oh, mein Fachgebiet. Ich freue mich.
Russland hat vier Flotten: Schwarzmeerflotte, pazifische Flotte, baltische Flotte und Nordmeerflotte. Und die Nordmeerflotte ist immer schon die stärkste. Denn in ihr sind die Mehrzahl der Schiffe vereint, die Nuklearwaffen tragen können.
Die Kursk ist gesunken. Die Admiral Kusnezow, der einzige Flugzeugträger Russlands, war bereits in den 1990ern in erbarmungswürdigem Zustand, als meine Einheit ihn aufgeklärt hat.
Der Pott liegt ständig auf Kiel. Er ist trotz einiger Modernisierungen so rott, dass wenn er mal fährt, er ständig von einem Schlepper begleitet wird.
Es ist unwahrscheinlich, dass die Kusnezow je wieder in den Dienst zurückkehrt. Das ist aber ein Problem für die Russische Führung. Denn eine anständige Weltmacht muss wohl einen Flugzeugträger haben. (Die USA haben etwa zehn im Dienst, amphibische Träger und weitere im Zulauf. Selbst Großbritannien hat zwei.) Also wird das tote Pferd Kusnezow weiter geritten, weil Russland auch nicht das Geld für einen neuen Träger hat.

Die Besatzung der Kusnezow, also Seeleute, wurde übrigens Infanterieeinheiten in der Ukraine zugeordnet (3. Mechanisiertes Bataillon „Fregat“) und dort verheizt.
Mein altes „Lieblingsschiff“, der Atomkreuzer Kirow, wurde nach einem Reaktorunfall 1990 der „Reserveflotte“ zugeteilt. Ihr Schicksal ist ähnlich wie das der Kusnezow.
Und ich könnte hier jede Schiffsklasse der Nordmeerflotte bis zu den Schnellbooten durchgehen.
Deutschland hat übrigens 300 Millionen für die sichere Entsorgung des Atommülls gespendet. Man weiß aber, dass Russland vieles trotzdem einfach ins Meer geschmissen hat. Folgen? Unabsehbar.
USA, Großbritannien, Norwegen, Kanada, Italien und Japan haben Milliarden für die Abrüstung von alten Atomschiffen zugeschustert.
Die Luftwaffe ist soweit intakt, wenn man die etwa 140 abgeschossenen Jets (davon waren einige dann tatsächlich mal „modern“) und 150 abgeschossenen Helikopter abzieht. Letztere fielen bereits in den ersten Tagen des Überfalls auf die Ukraine dadurch auf, dass sie in Ermangelung von Präzisionsmunition wie Artillerie beim Hochziehen einfach grob in die Richtung feuerten.
„Die Russen haben ihre Militärbezirke neu geordnet - mit Stoßrichtung Westen. In diesen westlichen Militärbezirken werden aktuell Hallen für Gerät gebaut und Depots angelegt.“
Das habe ich jüngst erst auf Anfrage erklärt. Das ist logisch und absehbar. Da sich die russische Landgrenze mit dem Beitrag Finnlands zur NATO verdoppelt hat. Die NATO-Mitglieder machen ähnliches. Es ist eine Umstrukturierung, nicht zwangsläufig ein „Mehr“.
„Alle Anzeichen deuten klar darauf hin, dass Russland die Ukraine gedenkt, mit relativ wenig Aufwand niederzuringen. Währenddessen bereitet sich Russland auf eine größere militärische Auseinandersetzung vor.“
Ich würde es eher so formulieren:
Russland versucht sich mit möglichst wenig Einsatz in der Ukraine über den Tag zu retten, weil eine Niederlage das Regime enorm schwächen würde. Es muss den starken Mann markieren und die Drohkulisse gegen die NATO vor allem innenpolitisch aufrechterhalten.
Gleichzeitig versucht es, diese Drohkulisse dadurch zu verstärken, dass es versucht auf Lager zu produzieren. Was angesichts der angespannten Wirtschaft eher mäßig gelingt.
„Europa ist aktuell nicht abwehrbereit und wird der gewaltigen russischen Militärmaschine nicht standhalten können. Die Ukraine hält Russland in seinem Expansionsdrang Richtung Westen auf und nutzt die russische Militärmaschinerie ab - damit verschafft uns die Ukraine wertvolle Zeit, die wir schnell und konsequent nutzen müssen, nachzurüsten und uns wehrfähig zu machen.“
Bei Letzterem gebe ich recht. Aber aus einer völlig anderen Perspektive heraus.
Die NATO ist Russland entsprechend der Verteidigungsausgaben etwa 15-fach überlegen. Vor dem Überfall auf die Ukraine.
Da die USA eine immer geringere Rolle spielen, würde ich die Überlegenheit Europas auf etwa 9-fach überlegen einschätzen. Nur um dem ein Preisschild anzuhängen.
Die Gefahr ist nicht, dass Russland einen „full scale“ Krieg vom Zaun bricht. Sondern dass es versucht, sich – aus seiner Sicht „verlorenes“ – Territorium zurückzuholen. Und damit die NATO und den Zusammenhalt in Europa dauerhaft zu schwächen.
Das ist die Ausrichtung des Regimes, der 72-jährige Putin wird das nur noch bedingt erleben können. Weshalb ich die ständige Fixierung auf die Person Putin für ebenso gefährlich halte.
Unsere Militärs sind natürlich darauf bedacht, es gar nicht erst soweit kommen zu lassen. Was bedeutet, dass man beim kleinsten Zucken sofort rigoros antworten können muss.
Hinzu kommt, dass Russland das Leben seiner Soldaten und Menschen ziemlich egal ist. Das ist in der russischen Seele verankert. Wir sind aber darauf getrimmt, möglichst wenig Menschenleben zu riskieren.
Deshalb schlagen die Militärs entsprechend Alarm. Denn Militärs sind keine Diplomaten.
Das ist mit dem „wehrfähig werden“ gemeint.
Nicht, dass wir uns bei einem Angriff nicht gegen die „russische Supermacht“ alleine in Deutschland verteidigen könnten. Wenn die Russen kommen, kommen die nicht einmal bis zum Elbtunnel. Und dann bleiben sie im Stau stecken.
Sondern dass wir, als Verbündete, in der Lage sein müssen, beispielsweise in kürzester Zeit tausende Soldaten nach Litauen zu verlegen, wenn Russland versuchen sollte, einen Korridor nach Kaliningrad zu schaffen. Und das können wir tatsächlich nicht. Denn da haben sich alle immer auf die USA verlassen und Europa hat sich nur darum gekümmert, wenn der Russe kommt.
Ein weiteres Beispiel sind die Drohnen, aber auch daran wird bereits gearbeitet.
Dieser Kontext wird aber weder von der Politik noch den Medien erklärt. Und letztere, meist vertreten durch Redakteure, die selber keine Ahnung haben, drücken den Panikknopf.
„Wir müssen zuerst vor allem die Ukraine stark machen und befähigen, Russland auch weiterhin aufzuhalten und zu schwächen, anstatt der Illusion nachzuhängen, Putin wäre zu einem Waffenstillstand oder gar einem Frieden bereit.
Eine starke Ukraine sichert uns den Frieden.“
Da muss ich Recht geben.
Trotzdem habe ich den Eindruck, dass hier jemand eben jene verzerrenden oder falschen Quellen bemüht, das Ganze noch mit etwas Hyperventilation und Elend mischt, und dann Klicks bekommt.
Und aufgrund der mir unverständlichen Reichweite dadurch ein völlig falsches und damit gefährliches Bild in die Köpfe von noch Unbedarfteren pflanzt.
Ich kann nur dazu aufrufen zu prüfen, von wem man was rezipiert.
Ob man jemandem ohne erkennbare Kompetenz oder Expertise auf Social Media glaubt, oder lieber die Zeit investiert zu hinterfragen, wer einem da was und vor allem warum erzählt.