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Wie viel wäre gewonnen, wenn Medien die Klimakrise endlich ernst nehmen würden?
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#74 #Medienkrise #Buchauszug #UnlearnCO₂
Der Klima-Türsteher in unseren Köpfen
Gute Klimakommunikation muss vor allem eines: vorbeikommen am inneren Türsteher. Die mediale Berichterstattung scheitert noch viel zu häufig daran. Vor allem, weil sie fünf folgenschweren Missverständnissen aufsitzt. ~ 10 Minuten Lesezeit
Wir können es nicht mehr hören: die Behauptung, dass die Klimakrise gerade einfach kein beliebtes Thema mehr sei. Egal, in welches Medium man schaut, „die Klimabewegung“ ist angeblich am Ende und die Grünen am Boden.
„Die Kriege und Krisen der aktuellen Welt haben dem Klimathema derzeit das Momentum genommen“, lautet selbst ein Kommentar in der taz. Aber ist das wirklich so? Lenken all die Kriege und Krisen vom Klima ab – oder sind es nicht vielmehr die Medien, die ihrer Verantwortung nicht gerecht werden?
Weil sie es versäumen, adäquat über die komplexe und krisenhafte Welt zu berichten. Und weil sie daran scheitern, abzubilden, in welcher Misere wir beim Klima stecken – und vor allem: wie wir da wieder rauskommen.
Seit mehr als einem Jahr bewegt sich die globale Durchschnittstemperatur unerklärlich weit vom historischen Durchschnitt entfernt (Abre numa nova janela). Diese Klima-Anomalien lassen selbst die besten Forscher*innen ratlos und alarmiert zurück – und der mediale Aufschrei, die Brennpunkte, die Auseinandersetzung damit, wie eine angemessene Reaktion aussehen kann? Das alles bleibt einfach aus.
Wir sind daher überzeugt: Nicht das „Klimathema“ (ganz schlechtes Wort übrigens, dazu gleich mehr) hat an Momentum verloren, sondern die Medien.
Ein Sneak Peak in Unlearn CO₂
Wer schon länger hier mitliest (Abre numa nova janela), weiß, dass wir die mediale Berichterstattung zur Klimakrise gerne kritisch unter die Lupe nehmen. In den vergangenen Monaten umso intensiver – denn wir schreiben darüber in unserem Buch.
Vielleicht hast Du unsere Ankündigung am Dienstag schon gelesen. Wir bringen am 1. August einen Sammelband im Ullstein Verlag heraus (Abre numa nova janela), zusammen mit Claudia Kemfert. Unlearn CO₂ wird das Buch heißen und es wird die Frage beantworten, wie wir das fossile System in den verschiedensten Bereichen unseres Lebens endlich hinter uns lassen – oder eben verlernen können.
Viele inspirierende Menschen haben einen Text beigetragen, und auch wir haben ein Kapitel geschrieben. Es heißt: Unlearn Medien. Dafür haben wir nicht nur recherchiert, wie sehr (auch eigentlich seriöse) Medien die Klimakrise ignorieren, sondern uns auch gefragt, wie gute, konstruktive Klimakommunikation aussehen kann.
Wir haben lange an unserem Beitrag gesessen und viel Hirnschmalz und Herzblut hineingesteckt. Herausgekommen ist ein Text, an dem uns viel liegt – nicht zuletzt, weil wir überzeugt sind, dass noch viel mehr über die Verantwortung der Medien in der Klimakrise gesprochen werden muss.
Umso mehr freuen wir uns, dass wir jetzt eine kleine Überraschung für Dich parat haben. Wir haben die Erlaubnis von Ullstein bekommen, einen Auszug aus unserem Kapitel vorab hier im Newsletter zu veröffentlichen.
Du bist also live dabei, wenn wir jetzt – schon vor dem offiziellen Buch-Release – Dir und allen Leser*innen zum ersten Mal einen Einblick in unser Buch Unlearn CO₂ (Abre numa nova janela) geben. Bist Du bereit?
Was Medien verlernen müssen
Die Klimaberichterstattung in vielen großen Medien ist mehr Teil des Problems als Teil der Lösung. Denn, wenn sie überhaupt mal vorkommt, dann folgt sie viel zu häufig destruktiven Mustern: Sie konzentriert sich auf die Klimafolgen, meist ohne Blick auf die Lösungen, ist manchmal sogar faktisch falsch – und im schlimmsten Fall malt sie gleich die Apokalypse an die Wand.
Die Folge? Die ganze Palette von Verdrängung über Verharmlosung bis hin zu Ohnmacht. Immerhin leugnen hierzulande gar nicht mal so viele den menschengemachten Klimawandel, anders als zum Beispiel in den USA. Und trotzdem lässt die Klimakompetenz der Deutschen zu wünschen übrig: Nur ein Sechstel der Bevölkerung ist sich der gravierenden Gefahren durch die Erderhitzung wirklich bewusst.
Und nicht wenige von denen, die sich intensiv mit der Klimakrise auseinandersetzen, haben mit Angstgefühlen zu kämpfen. Sie sind vor lauter Weltuntergangs-News ohnmächtig und resignieren. Das betrifft insbesondere junge Menschen. Von 10.000 befragten Kindern und Jugendlichen aus zehn Ländern gaben über 45 Prozent an, dass ihre Klimagefühle ihr tägliches Leben negativ beeinflussen.
„Du kommst hier nicht rein“
Die vorherrschenden Umgangsweisen mit der Klimakrise, von Verdrängung bis Klimaangst, sind ein Problem. Denn weder diejenigen, die verdrängen, noch diejenigen, die alles für nicht so schlimm halten, noch diejenigen, die vor lauter Hiobsbotschaften in Schockstarre verfallen, sind in der Lage zu handeln. Ohne handelnde Bürger*innen wird der nötige gesellschaftliche Wandel hin zu Klimagerechtigkeit aber nie gelingen.
Doch wie kann es überhaupt sein, dass sich die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung der Dringlichkeit der Klimakrise immer noch nicht bewusst ist?
Wir stellen uns das so vor: Jeder Mensch hat einen Klima-Türsteher im Kopf. Ein breiter Typ mit Vollbart und Bomberjacke von Alpha Industries (um alle Klischees zu bedienen). Er hat es sich zur Aufgabe gemacht, bloß keine unangenehmen Infos zur planetaren Krise in den ohnehin schon mit Sorgen vollen Laden zu lassen.
Gute Klimakommunikation muss also vor allem eines: vorbeikommen an diesem Türsteher.
(Abre numa nova janela)Dafür braucht es nicht weniger als einen Wandel in der medialen Berichterstattung und einen neuen Journalismus, der Problembewusstsein und Handlungsbereitschaft fördert. Um dorthin zu kommen, müssen wir Medienschaffende vieles verlernen, was heute noch viel zu häufig als selbstverständlich gilt.
Die größten Missverständnisse in der Klimaberichterstattung
Bislang bringen Medienberichte zur Klimakrise den Türsteher in unseren Köpfen regelmäßig gegen sich auf, indem sie immer wieder fünf großen Missverständnissen aufsitzen. Diese Missverständnisse schwirren wie Glaubenssätze durch viele Redaktionen und verhindern eine faktentreue und konstruktive Auseinandersetzung mit der Klimakrise. Sie zu vermeiden, ist der erste wichtige Schritt in Richtung gute Klimakommunikation.
Missverständnis 1: „Es gibt doch schon viel Klima in den Medien“
Das Klima beschäftigt uns als Journalisten und Newsletter-Autoren jeden einzelnen Tag. Manchmal fühlt es sich jedoch so an, als wären wir einer großen Verschwörung auf den Leim gegangen: Das mit dem Klima kann doch nicht wirklich so schlimm sein! Würden sonst nicht alle pausenlos darüber reden? Wären Titelseiten und TV-Nachrichten nicht voll davon?
Sind sie aber nicht. Genau genommen wird die Klimakrise medial quasi totgeschwiegen.
Aber Moment mal, denkst du jetzt vielleicht, es gibt doch inzwischen immer mehr Podcasts und Instagram-Kanäle übers Klima. Das stimmt, aber einzelne neue Formate für ohnehin schon klima-interessierte Menschen ändern nichts an der Tatsache, dass Klima in den Medien im Großen und Ganzen ein Nischenthema ist. Das beweist auch ein Blick auf die Zahlen.
Aktuellen Analysen zufolge liegt der Anteil von Klimaberichterstattung
in Tageszeitungen in Deutschland bei 3,5 Prozent
in deutschen Online-Leitmedien bei 1,6 Prozent
im deutschen Fernsehen (im Gesamtprogramm) bei 1,8 Prozent
in Fernseh-Serien und -Filmen bei 0,6 Prozent
Trotz Social Media und Telegram-Gruppen informieren sich die meisten Menschen immer noch im Fernsehen über die Klimakrise. Hier wäre eine adäquate Berichterstattung also besonders wichtig. Leider geben selbst die öffentlich-rechtlichen Fernsehsender ein katastrophales Bild ab (weniger als 2,4 Prozent Klimainhalte im Gesamtprogramm).
Bei den TV-Sendungen Anne Will, Hart aber fair und Maybrit Illner wurde 2022 nur in zwei (!) der über 100 Ausgaben über die Klimakrise gesprochen, 2023 waren es (im Zusammenhang mit der Energiepolitik) immerhin zwölf Sendungen.
Aber wenigstens die gute alte Tagesschau greift das Klima einigermaßen häufig auf, oder? Nicht einmal annähernd. Wenn man in den zehn Jahren von 2009 bis 2018 alle Tage zusammenzählt, an denen in der Tagesschau nicht über das Klima berichtet wurde, kommt man auf satte 8,2 Jahre Ignorieren der Klimakrise.
Wie soll Krisenkommunikation in solch homöopathischen Dosen bitte am Klima-Türsteher vorbeikommen?
Missverständnis 2: „Klima ist ein Thema unter vielen“
Erinnerst du dich noch, als Will Smith bei der Oscar-Verleihung plötzlich aufstand, auf die Bühne marschierte und dem Moderator Chris Rock eine Ohrfeige verpasste?
Bestimmt, denn die Schlagzeilen überschlugen sich regelrecht. Erinnerst du dich auch noch, wie viel Aufmerksamkeit der Weltklimarat der Vereinten Nationen (IPCC) ungefähr zur gleichen Zeit für seinen neuesten Bericht bekam – und vor allem: was drinstand?
Der IPCC warnte damals davor, dass Teile des Planeten in naher Zukunft unbewohnbar werden. Selbst einigen großen Medien war das höchstens eine Randnotiz wert. Die Los Angeles Times berichtete: „Erde auf dem Weg, unbewohnbar zu werden“ – auf Seite Drei.
Peter Kalmus, NASA-Wissenschaftler und Klimaaktivist, konnte es nicht fassen und schrieb auf (damals noch) Twitter: „Das kann man sich nicht ausdenken.“ Wenn eine Zeitung einen bald unbewohnbaren Planeten lediglich als eine weitere Story auf Seite Drei behandle, sei das Klimaleugnung.
„Einzelne neue Formate ändern nichts an der Tatsache, dass Klima in den Medien ein Nischenthema ist.“ – aus Unlearn CO₂ (Abre numa nova janela)
Der russische Angriffskrieg, Corona, der Nahostkonflikt – all das dominiert die Schlagzeilen. Und die nächste akute Krise mit globalen Auswirkungen kommt mit Sicherheit, vielleicht in Taiwan, Pakistan oder Nigeria. Die Frage ist nicht ob, sondern wann. Da bleibt nicht mehr viel Aufmerksamkeit übrig für noch mehr Krisen. Aber genau hier liegt das große Missverständnis: Die Erderhitzung ist nicht nur eine vorübergehende Krise und erst recht kein einzelnes Thema. Sie wirkt sich auf alle Bereiche der Gesellschaft aus. Es gibt nichts mehr, was nicht von der Erderhitzung betroffen ist oder sie mit verursacht (meistens beides).
In welchem Maß hat unsere Abhängigkeit von Gas den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine begünstigt? Wie hängt die Zerstörung von Ökosystemen mit Pandemien zusammen? Warum treibt der weltweite Rechtsruck die Erderhitzung weiter an? Aber auch bei Olympischen Spielen, der Oscar-Verleihung, dem nächsten Bauprojekt ums Eck – die Klimakrise sollte immer mitgedacht werden.
Oder wie es die Klimajournalismus-Netzwerke aus Deutschland und Österreich in ihrer Charta formulieren: Das Klima ist kein Thema, sondern eine Dimension jedes Themas.
Missverständnis 3: „Es gibt immer zwei Seiten“
2023 war das heißeste Jahr seit 125.000 Jahren – sagen Wissenschaftler*innen des EU-Klimawandeldienstes Copernicus.
Statistiken, die einen so langen Zeitraum betreffen, seien unglaubwürdig – sagt James Woudhuysen, der für rechte Medien Anti-Energiewende-Artikel schreibt. Was stimmt denn nun?
(Abre numa nova janela)Sky News will „beide Seiten der Debatte“ zeigen und lädt Woudhuysen und Zoe Cohen von Extinction Rebellion in eine Talk-Sendung ein. Ein besseres Beispiel für deplatzierte Objektivität bei der Berichterstattung hätte der Nachrichtensender kaum liefern können. Dabei wollte er doch nur verschiedene Meinungen neutral wiedergeben – und ausgewogen zu berichten ist doch eigentlich ein journalistischer Qualitätsanspruch, oder?
In Beiträgen zur Klimakrise, insbesondere zu wissenschaftlichen Erkenntnissen, hat dieser sogenannte „He said, she said“-Journalismus aber nichts zu suchen. Denn unter Wissenschaftler*innen gibt es einen über 99-prozentigen Konsens zur Ursache der Klimakrise: menschengemachte Treibhausgase. Dies wird in den Medien immer noch allzu oft ausgeblendet (heute immerhin seltener als früher).
Dann werden die Fakten von Fachleuten und die Ansichten (oder sogar Desinformationen) von Nicht-Fachleuten gleichberechtigt wiedergegeben, um eine vermeintliche Ausgewogenheit zu schaffen, auch „false balance“ genannt. Im schlimmsten Fall glauben die Menschen so am Ende an einen wissenschaftlichen Dissens, den es gar nicht gibt.
Diese Missverständnisse sorgen nicht nur dafür, dass wichtige Klima-News vom Türsteher nach Hause geschickt werden. Sie bergen noch eine weitere Gefahr: dass der Türsteher stattdessen Informationen reinlässt, die sich als Fakten verkleidet haben, aber eigentlich unwahr sind.
Wir hoffen, dass Dir der Auszug gefallen hat! Im Rest unseres Kapitels gehen wir noch auf die letzten beiden der fünf größten Missverständnisse ein und besprechen, wie wir sie überwinden können. Und natürlich: wie gute Klimakommunikation in Zeiten von Temperaturanomalien und drohenden Kipppunkten eigentlich aussieht – oder mit anderen Worten: wie wir am Klima-Türsteher in unseren Köpfen vorbeikommen.
Außerdem warten in unserem Sammelband Unlearn CO₂ (Abre numa nova janela) noch viele andere spannende Beiträge auf Dich – zum Beispiel von Klimaforscher Stefan Rahmstorf, der passend zu unserem Text über Medien das Kapitel „Unlearn Desinformation“ verfasst hat. Darin beschreibt er sehr anschaulich, zu welchen fiesen Tricks die fossile Lobby greift, um Lügen und Unwahrheiten zu verbreiten.
Wenn Du das Buch vorbestellen möchtest, schau am besten direkt im Buchladen Deines Vertrauens vorbei oder klicke einfach hier:
Die nächste Treibhauspost bekommst Du am 13. Juli.
Herzliche Grüße
Julien & Manuel
PS: In der aktuellen Folge von Pod der guten Hoffnung ist EWS-Vorstand Sebastian Sladek zu Gast und berichtet persönlich und sympathisch von seinem Umgang mit der Klimakrise und seinen Klimagefühlen und davon, wie uns die Energiewende gelingt. Hier könnt ihr bei Spotify (Abre numa nova janela) oder bei Apple (Abre numa nova janela) reinhören.
(Abre numa nova janela)👨🏻🎨 Alle Illustrationen wie immer in Handarbeit von Manuel Kronenberg.
💚 Herzlichen Dank für die Unterstützung an alle Treibhauspost-Partner:
Bürgerwerke (Abre numa nova janela), Ökostromversorger
Elektriz (Abre numa nova janela)itätswerke Schönau (Abre numa nova janela), Dezentraler Energieversorger
SCIARA (Abre numa nova janela), Online-Simulation für interaktive Klimazeitreisen
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