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An diesem Donnerstag ist die Schwarze US-amerikanische Literaturwissenschaftlerin, Autorin und Feministin bell hooks im Alter von nur 69 Jahren verstorben. Erst in diesem Jahr erschien ihr berühmtes Werk „all about love“ das erste Mal in deutscher Übersetzung (Abre numa nova janela), über 20 Jahre nach der Veröffentlichung auf Englisch. bell hooks hat sich in ihrer Arbeit unter anderem mit der Verknüpfung unterschiedlicher Unterdrückungsmechanismen wie Rassismus, Klassismus und Sexismus beschäftigt. Im New Yorker ist ein lesenswerter Nachruf (Abre numa nova janela) auf sie erschienen. JSTOR, eine Plattform für akademische Texte, hat gerade drei wichtige Texte (Abre numa nova janela)von ihr frei zugänglich gemacht.

Von bell hooks stammt das Zitat:

„No Black woman writer in this culture can write ‘too much’. Indeed, no woman writer can write ‘too much’ … No woman has ever written enough.”

– Remembered Rapture: The Writer At Work (Abre numa nova janela), 1999

Zu diesem Zitat, bei dem es um die Marginalisierung von Autor_innen of Colour und schreibenden Frauen insgesamt geht, hatte ich zwei spontane Assoziationen. Zum einen eine Floskel, die man unter anderem in vielen Facebook-Gruppen liest, in denen Menschen sich austauschen und die in meiner Beobachtung vor allem von Frauen benutzt wird: 

„Sorry für den langen Text“. 

Diese Entschuldigung steht meist am Ende einer Frage, in der eine Frau eine Situation oder ein Problem schildert und um Tipps oder Erfahrungen von anderen bittet. Meistens ist es notwendig, dass sie mehrere Sätze schreibt, damit andere ihre Situation digital überhaupt nachvollziehen können und eine passende Antwort geben können. Ich weiß nicht, ob ich überhaupt schon mal eine digital formulierte Bitte um Rat gelesen habe, die ich als zu lang empfunden habe, denn man kann selbst mehrere Zeilen in ein oder zwei Minuten lesen. Und dennoch entschuldigen sich die Frauen dafür, Raum einzunehmen, weil ihre kulturelle Sozialisation ihnen beigebracht hat, dass sie sich kurzfassen sollen und keinesfalls zu viel, zu lang, zu detailliert sprechen sollen – oder dass ihre komplexen und facettenreichen Erfahrungen nicht interessieren. Sie sollen einfach sein, widerspruchsfrei, nicht störend, am besten unsichtbar. Die Formulierung „Sorry für den langen Text“ artikuliert im Prinzip sogar schon eine Scham, diese Frage überhaupt stellen zu müssen und nicht allein auf die Antwort gekommen zu sein. 

„Sorry für den langen Text“ ist vielleicht der Satz, von dem ich mir wünsche, dass keine Frau ihn jemals wieder schreibt oder denkt, ihn schreiben zu müssen. Ich wünsche mir, dass Menschen stattdessen frei schreiben können, was sie bewegt und ihre Fragen in den Wissen formulieren können, dass sie berechtigt sind und es okay ist, dass sie sich darüber mit anderen austauschen wollen, statt die Suche nach Antworten mit sich allein auszumachen. Sich an eine anonyme digitale Gruppe zu wenden ist ohnehin ein Zeichen davon, auf eine Art allein zu sein und eine nahe Gemeinschaft, in der man diese Frage stellen könnte, nicht zu haben oder dort schlechte Erfahrungen gemacht zu haben. Der Satz „Sorry für den langen Text“ schließt häufig die Fragen in Kinderwunsch-Gruppen ab oder anderen Gruppen rund um Familien-, Gesundheits- oder Partnerschaftsthemen. Von Ärzt_innen oder den eigenen Partner_innen sind die Frauen zurückgewiesen worden; sie hatten keine Zeit für ausführliche Antworten. Oder die Ängste und Unsicherheiten waren den Fragesteller_innen so peinlich, dass sie sie gerade deswegen in einer Gruppe stellen wollten, in der sie niemand persönlich kennt. „Sorry für den langen Text“ ist auch eine Chiffre dafür, endlich jemandem zu begegnen, der zuhört und nicht urteilt. Man könnte den Satz auch umschreiben in: „Danke fürs da Sein.“

Der andere Gedanke, den das Zitat von bell hooks in mir hervorrief, war der an all die ungeschriebenen Texte insbesondere in der Zeit der Pandemie. Die nicht gehaltenen Vorträge, die nicht stattgefundenen Gespräche, die nicht neu zustandegekommenen Kontakte. Die ersten empirischen Untersuchungen zeigten schon wenige Monate nach Pandemie-Beginn, dass es insbesondere weibliche Care-Verantwortliche waren, die ihre Arbeitszeiten reduzierten, um Kinder oder Angehörige Zuhause versorgen zu können. Die Zahl der Publikationen von Wissenschaftlerinnen sank; sie forschten und schrieben nicht mehr. Dazu, wie sich die veränderten Zeitbedarfe in der Pandemie auf Journalistinnen und Autorinnen ausgewirkt haben, habe ich noch nichts gelesen, sondern nur anekdotenhaft von befreundeten oder lose bekannten Autorinnen erzählt bekommen, dass sie viele Aufträge absagten, Manuskript-Abgaben schoben oder Buch-Projekte komplett verwarfen. Wie ihr vielleicht bei mir gemerkt habt, habe ich in den letzten Monaten die SZ-Magazin-Kolumne nur noch unregelmäßig geschrieben. Manchmal fiel dieser Newsletter aus. Für meine ganz eigenen Bedürfnisse und das, was ich als Autorin zusagen habe, habe ich in diesem Jahr viel zu wenig geschrieben oder auf öffentlichen Veranstaltungen gesprochen. Und das, obwohl wir die Betreuung der Kinder in meiner Familie unter mehreren Personen aufteilen: mein Partner, sein Vater, der Vater meines ersten Kindes und seine Bonus-Mama. Wir haben ein kleines Dorf, das zumindest einen Teil der verschluckten Zeit wieder befreien konnte.

Doch ganz besonders dieser Dezember war ein schwarzes Loch. Sowohl Kinderärzt_innen als auch Eltern berichten davon, dass Kinder in diesem Herbst und Winter so viele Infekte und damit Krankentage Zuhause haben wie in kaum einem anderen Jahr. Nach den monatelangen Schließungen von Kitas und Schulen und den darüber hinaus begrenzten Kontakten, holen die Kinder nun gesammelt all die Krankheiten nach, die sie zuvor nicht bekamen, weil sie isoliert Zuhause saßen. Die meisten Freund_innen mit denen ich zuletzt gesprochen habe, sagen über ihre jüngeren Kinder diesen Satz: „Ich weiß nicht, wann das Kind zuletzt mal eine ganze Woche am Stück in der Kita war.“ Seit drei Wochen ist bei uns jeden Tag eines der Kinder krank Zuhause geblieben, mit weiteren Fehltagen im November und Oktober davor. An die zurückliegenden drei Wochen schließt am Montag die vierte Woche mit mindestens einem Kind Zuhause an, da die Grundschule meiner Tochter die Ferien um eine Woche vorgezogen hat. Schulen und Kitas waren diesen Winter bislang offiziell offen, aber für uns und viele andere Familien war und ist die Situation so, dass durch Krankheiten und Quarantäne der Alltag an die Zeit der Schließungen erinnerte. Über viele Wochen hinweg mussten wir improvisieren, umplanen, multitasken, spät abends arbeiten, Aufträge absagen, verschieben, auf Geld verzichten. Dieser Winter geht im Januar weiter und endet nicht auf wundersame Weise mit dem neuen Jahr.

Allein für den Dezember wären es theoretisch 17 Kinderkrankentage, die ich bei meiner Krankenkasse einreichen müsste. Ich habe nicht mitgezählt, wie viele Tage es in den Wintermonaten zum Jahresbeginn waren. Die Kitas und Schulen hatten schließlich ab Mitte Dezember 2020 geschlossen und öffneten langsam wieder ab März 2021.

Mit der Rückkehr in die Kita  im Frühjahr 2021 begannen die nachgeholten Infekte. Da meine Tochter zudem im Sommer eingeschult wurde, endete ihr Kitajahr sieben oder acht Wochen vor Einschulung. Es fühlte sich nicht immer an wie ein leichter Sommer, sondern erinnerte eben auch an die Zeit, in der uns die Betreuung unter den Füßen weggezogen wurde. Denn zu Beginn der Sommerferien war die Betreuungssituation ja nur drei oder vier Monate halbwegs normal gewesen. Zu wenig, um wieder einen Rhythmus zu haben.

Ich habe nicht nachgerechnet, auf welche Honorarsummen ich verzichtet habe. Das ist zum einen erstmal eine bequeme Situation, weil ich es mir leisten konnte, Dinge abzusagen, ohne dass es finanziell zu eng wurde. Doch auf struktureller Ebene zählt der Verzicht von Müttern und Eltern auf Geld in sowohl den Gender-Pay-Gap als auch die so genannte finanzielle Motherhood-Penalty hinein. Als Person ohne Kinder hätte ich nicht nur mehr bezahlte Aufträge annehmen können – oder mehr freie Zeit, für Erholung, Freund_innen, Nachdenken, Nichtstun – ich hätte zudem weniger Ausgaben gehabt. Das ist die paradoxe Situation von Eltern: Sie haben weniger Zeit, um Geld zu verdienen, brauchen jedoch prinzipiell mehr Geld für ihre Lebenshaltungskosten. Sowohl der gegenwärtige Pay-Gap als auch der Pension-Gap (die Unterschiede bei den Renten), können so theoretisch zwischen Menschen, die weniger oder viel arbeiten können, immer größer werden. Das Geld, das man für den Schulranzen eines Kindes ausgibt oder für mehr Miete, kann nicht in eine private Altersvorsorge fließen.

Wie gleicht man das politisch sinnvoll aus? Wird die Kindergrundsicherung, die im Koalitionsvertrag der Ampel steht, das für die alltäglichen Kosten können? Noch sind keine Details dazu bekannt. Und gesellschaftlich ist strittig, ob und wie stark Familien mit Kindern überhaupt finanziell entlastet werden sollten. Ist die Lösung, dass Kinder bis 20 Uhr in der Kita sind, damit alle Eltern oder pflegende Angehörigen genauso lang arbeiten können wie Menschen ohne Care-Pflichten? Mein Eindruck ist, dass die Haltung zunimmt, die Entscheidung für Kinder sei eine private und die damit verbundenen Nachteile im Beruf, bei der Rente, die höheren Kosten für Wohnraum, Essen und weitere Dinge des alltäglichen Bedarfs, seien ebenfalls privater Natur und weniger ein politisches Thema. Kinder verlieren ihre Selbstverständlichkeit, die neoliberale Sichtweise, man müsse sich Kinder eben leisten können und nur für eine Familie entscheiden, wenn man es finanziell kann, wird anschlussfähiger. 

Damit spricht man ärmeren Menschen ab, sich eine Familie wünschen zu dürfen. In diesem Bild gehören Kinder außerdem nicht zur Gesellschaft. Sie werden abstrahiert zu einer Anschaffung, einem luxuriösen Besitz, auf den man bewusst verzichten kann. Eine Sache, die eben nicht konstitutiv ist für eine Gesellschaft, sondern optional. Über diese Sichtweise werden Kinder zum einen entmenschlicht, zum anderen schließt sie mit unserer Existenz als Gesellschaft ab. Wer Kinder verzichtbar findet, hält sich selbst für die letzte Generation. 

Damit möchte ich nicht sagen, jede_r müsse sich Kinder wünschen oder könne mit ihnen leben. Denn natürlich ist es eine Errungengeschaft, gerade für Menschen, die als Frauen gelesen werden, heute mehr Lebensmodelle leben zu können, die Anerkennung finden. Zudem können nicht alle Menschen, die sich Kinder wünschen, Kinder bekommen. Oder sie wurden beispielsweise, wie trans Personen bis 2011 in Deutschland, zwangsterilisiert. Lesbischen Müttern wurde noch bis in die 90er Jahre das Sorgerecht entzogen (Abre numa nova janela).

Aber in der Freiheit, sich für ein Leben ohne eigene Kinder entscheiden zu können, sollten Erwachsene nicht vergessen, dass Kinder ganz unabhängig von unserem Verwandtschaftsverhältnis zu ihnen genauso zu unserer Gesellschaft gehören wie jede erwachsene Person. Wie es Kindern geht, bei uns und überall auf der Welt, geht uns alle etwas an, wenn wir uns grundsätzlich für die Welt und für Gerechtigkeit interessieren. Kinder sind keine private Lebensentscheidung, Kinder sind Teil unserer Gesellschaft. Ohne das gegenwärtige und das zukünftige Leben von Kindern mitzudenken, erfassen wir nur einen kleinen Teil der Welt. Wie Familien und Sorgegemeinschaften mit Kindern leben und ob sie gleichberechtigt leben können, ist eine wichtige politische Frage. Aus meiner Sicht müssen wir im neuen Jahr politisch und gesellschaftlich daher wieder viel mehr darüber reden und schreiben, wie Familien und Kinder gut durch die Pandemie kommen und welche Schlüsse wir daraus ziehen für die Zeit danach. Mehr sprechen über die psychische Gesundheit von allen, denn es gibt bislang keine politische Sprache für die sozialpsychologische Dimension der vergangenen zwei Jahre. Von zwei Jahren Pandemie werden sich viele Menschen allein durch einen Sommer nicht erholen können.

Oder doch? Was denkst du?

Bis bald

Teresa

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Rolemodels-Podcast (Abre numa nova janela)vom 7. Dezember. Im Gespräch mit Isa Sonnenfeld und David Noel. 

(Spotify-Link (Abre numa nova janela))

https://soundcloud.com/rolemodels_de/75-teresa-bucker-uber-den-wert-von-zeit-radikale-menschlichkeit-und-das-grose-bild-der-zukunft (Abre numa nova janela)

Aufzeichnung des Online-Vortrags von mir: „Gleichstellung braucht Zeit-Gerechtigkeit“, Mittwoch, 08.12.2021, Arbeitskammer des Saarlands

https://www.youtube.com/watch?v=29wnjWNcjE0 (Abre numa nova janela)

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