Der Tanz mit dem Schatten
Die Theorie des Schattens nach C. G. Jung
Das Bewusstsein teilt sich nach der Ansicht von C. G. Jung in eine Persona und deren Schatten. Auf der einen Seite stehen alle Eigenschaften, die wir an uns schätzen, auf der anderen jene, die wir ablehnen oder verdrängen. Jung definiert den Schatten als das, was der Mensch nicht sein möchte:
„Jedermann ist gefolgt von einem Schatten, und je weniger dieser im bewussten Leben des Individuums verkörpert ist, umso schwärzer und dichter ist er. Wenn eine Minderwertigkeit bewusst ist, hat man immer die Chance, sie zu korrigieren. Auch steht sie ständig in Berührung mit anderen Interessen, sodass sie stetig Modifikationen unterworfen ist. Aber wenn sie verdrängt und aus dem Bewusstsein isoliert ist, wird sie niemals korrigiert. Es besteht überdies die Gefahr, dass in einem Augenblick der Unachtsamkeit das Verdrängte plötzlich ausbricht. Auf alle Fälle bildet es ein unbewusstes Hindernis, das die bestgemeinten Versuche zum Scheitern bringt.“
Was ist der Schatten?
Der Schatten umfasst all das, was wir an uns selbst oder an anderen ablehnen – Eigenschaften, Gedanken und Gefühle, die wir zu verbergen versuchen. Doch genau diese verdrängten Anteile fehlen uns, um ganz zu werden. Sie wirken unbewusst auf unser Handeln und unsere Gefühle ein und beeinflussen so unser Leben, ohne dass wir es bemerken.
Im Laufe unserer Erziehung und Entwicklung lernen wir durch Reaktionen von Eltern, Freunden, PartnerInnen oder KollegInnen, welche Eigenschaften und Verhaltensweisen in der Gesellschaft erwünscht sind. Wir passen uns diesen Normen an und verdrängen dabei Anteile von uns selbst, die nicht dem entsprechen, was von uns erwartet wird.
Der Schatten ist nicht nur negativ
Jung betont, dass der Schatten nicht ausschließlich aus negativen Eigenschaften besteht. Er zeigt sich auch in allem, was wir an anderen bewundern. Gleichzeitig spiegelt der negative Schatten, was uns an anderen stört. Jung nahm sogar an, dass wir an anderen nur die Eigenschaften wahrnehmen, die in uns selbst angelegt sind. Für alles andere würde uns das Instrumentarium fehlen, sie zu erkennen.
Der Schatten als Teil des Selbst
Persona und Schatten zusammen bilden das Selbst. Der Weg zur Ganzheit führt daher nur über die Auseinandersetzung mit dem Schatten. Statt ihn zu bekämpfen oder zu verleugnen, sollten wir versuchen, ihn “ins Licht zu rücken”. Mehr ist auch nicht nötig. Verdrängtes und Unterdrücktes wird durch “Hinschauen” befreit.
Projektion: Der Schatten in den anderen
Wie gerne wir eigene Wünsche, Erwartungen und Gefühle auf andere projizieren, zeigt die folgende Geschichte von Hodscha Nasreddin:
“Ein Philosoph hatte sich bei Mulla Nasrudin, einem Sufilehrer, angemeldet, um mit ihm zu debattieren. Als der Philosoph zur verabredeten Zeit ankam, war Nasrudin nicht da. Wütend schrieb der Philosoph mit einem Stück Kreide an Nasrudins Tor: Dummer Flegel.
Als Nasrudin nach Hause kam und das sah, eilte er zum Haus des Philosophen und sagte: Ich habe vergessen, dass du kommen wolltest, und es tut mir leid, dass ich nicht da war. Aber ich erinnerte mich sofort daran, als ich deinen Namen auf meinem Tor sah.“
Das Schloss: Eine Metapher für das Selbst
Die folgende Geschichte stammt aus Debbie Fords Buch „Schattenarbeit: Wachstum durch die Integration unserer dunklen Seite“. Sie illustriert, wie wir Teile von uns selbst verleugnen und dadurch den Zugang zu unserem vollen Potenzial verlieren:
„Stellen Sie sich vor, dass Sie ein prachtvolles Schloss sind, mit langen Fluren und Tausenden von Zimmern. Jedes Zimmer im Schloss ist vollkommen und enthält ein besonderes Geschenk. Jedes Zimmer stellt einen anderen Aspekt von Ihnen dar und ist ein integraler Bestandteil dieses vollkommenen Schlosses.
Als Kind haben Sie jeden Zentimeter Ihres Schlosses erforscht, ohne Scham und ohne zu urteilen. Furchtlos haben Sie in jedem Zimmer nach seinen Edelsteinen und seinem Geheimnis gesucht. Alle Räume gehörten dazu: die Abstellkammer, das Schlafzimmer, die Toilette und der Keller. Jedes Zimmer war einzigartig. Das Schloss war voller Licht und Liebe, und Sie staunten über die Fülle.
Dann kam eines Tages jemand in Ihr Schloss, der sagte, dass mit einem Zimmer etwas nicht in Ordnung sei, es gehöre sicherlich gar nicht zum Schloss. Er machte den Vorschlag, dass Sie die Tür zu diesem Zimmer verschließen sollten, falls Sie ein perfektes Schloss haben wollten. Da Sie sich nach Liebe und Angenommensein sehnten, schlossen Sie diesen Raum schnell zu. Im Laufe der Jahre kamen immer mehr Leute in Ihr Schloss. Sie ließen Sie wissen, welche Zimmer sie mochten und welche nicht. Und allmählich schlossen Sie eine Tür nach der anderen zu. Die wunderbaren Räume wurden abgesperrt und der Dunkelheit überlassen. Ein Kreislauf hatte begonnen.
[…]
Glücklicherweise sind wir nie zufrieden, wenn wir weniger sind, als wir sein können. Unsere Unzufriedenheit mit uns selbst motiviert uns, nach all diesen verlorenen Zimmern in unserem Schloss zu suchen.“
Der Schatten in unterschiedlichen Kulturen
Den Begriff des Schattens gibt es in vielen Kulturen, zu allen Zeiten und unter verschiedenen Namen: der Doppelgänger, das Verdrängte, die dunkle Seite, die Dämonen, der Teufel oder Luzifer.
Die Auseinandersetzung mit dem Schatten ist kein einfacher, aber ein notwendiger Prozess, um uns selbst besser zu verstehen und zu wachsen. Der Schatten lässt sich nicht ausrotten, doch wir können ihn integrieren, um Ganzheit zu erlangen.
Durch die Beschäftigung mit unserem Schatten öffnen wir die Türen zu den verborgenen Räumen unseres Schlosses und entdecken die Schätze, die uns zu einem erfüllteren Leben führen können.
“Man wird nicht dadurch erleuchtet, daß man sich Lichtgestalten vorstellt, sondern durch Bewusstmachung der Dunkelheit.”
C.G. Jung