8. Oktober 2020
In Linz gibt es derzeit im Rahmen des Brucknerfestes mit dem Titel „Kontroverse“ eine Installation von dir. Setzt du dich da mehr mit dem Begriff Kontroverse oder eher mit Bruckner auseinander?
Tanja Brüggemann: Absolut mit Kontroverse. Aber da es ja um Bruckner und seine Zeitgenossen ging, eröffneten sich mir eigentlich gleich zwei Felder. Das eine war natürlich Bruckner und Brahms. Und das zweite erschließt sich aus meinen persönlichen Bezügen zu deren Lebensorten, weil ich ja in Linz aufgewachsen bin und auch in Sankt Florian ein Komponierzimmer habe. Ich höre die Glocken des Stiftes Sankt Florian, ich höre den Wald, die ganze Umgebung. Und ich liebe diesen Klang, auch den des Brunnens im Innenhof des Stiftes, diese Tropfen. Es ist fantastisch, in den Stiftswäldern spazieren zu gehen, auch in der Nacht. Ich brauche nur hinten aus dem Fenster zu schauen und da liegt Bruckner unter der Orgel in der Basilika des Stiftes Sankt Florian.
Was genau macht das mit dir? Ein Zugang erscheint so … naheliegend.
Tanja Brüggemann: Literally. Bruckner ist tatsächlich ständig gegenwärtig und gibt mir damit dieses Gefühl, in einer Tradition zu stehen. Es entsteht daraus auch ein Bewusstsein, worauf ich mich als jetzige Komponistin immer beziehe, was es schon gab. Bruckners Handschriften sind in der Bibliothek zum Anschauen. Das heißt, hier ist einfach ein historischer Ort, den ich aber auch tatsächlich ganz konkret, sozusagen in jeder Hinsicht um mich habe. Das ist auf der einen Seite natürlich prägend. Auf der anderen Seite ist es auch wichtig und interessant, dass gerade ich mich als Frau und Komponistin in gewisser Weise trotzdem von dieser ganzen Tradition loslöse. Ich glaube, es ist als Komponist und Komponistin überhaupt das Wichtigste, dass man sich seine eigene Freiheit in jeder Hinsicht nimmt.
Und Brahms?
Tanja Brüggemann: Mein Vater war Hamburger, ich habe dort Verwandtschaft. Ich kenne den Hafen, Schiffsklänge, die Nebelhörner der großen Pötter, das ist ja irre laut. Auch wieder die Kirchenglocken des Michels und natürlich das Meer. Meine Oma und meine Tante sprechen Plattdeutsch, also „min lütte deern“ ist mir einfach die ganze Zeit im Ohr. Ich habe also Brahms’ und Bruckners Umgebungsklang zum einen für die Installation hernehmen können.
Der zweite Zugang war ein Unfall, der in der PlusCity, diesem Einkaufszentrum, stattgefunden hat: Eine schwangere Frau, Angestellte in einem der Geschäfte, wurde von herabfallendem Glas, das zerbrochen ist, schwerst verletzt und lag Monate im Koma. Sie ist wieder aufgewacht, war in Reha und konnte ihr Kind sogar gebären. Sie wurde nach ihrer ungeheuren Kraft gefragt und ihre Antwort war, dass sie diesen ganzen Weg zurück ins Leben eigentlich nur deshalb schafft, weil sie für ihr Kind leben will. Mir wurde plötzlich klar, dass nichts von den seienden, gewesenen Komponisten, die da in unserer Tradition sind, möglich wäre, wenn es nicht Frauen gäbe, die ihnen das Leben gegeben hätten. Was bedeutet es eigentlich, sich selbst dem Leben zu widmen? Und was treibt uns als Menschen an, weiterzumachen, weiterzuleben? Wir sollten schauen, was das Leben wirklich von uns fordert. Also war die Idee dann, die Installation aus dem entstehen zu lassen, was diese beiden Komponisten im Mutterleib gehört haben könnten. Nämlich die Umgebung von Bruckner und Brahms, aber auch die Körperklänge der Mutter. Und so entstanden die beiden Räume, Bruckner grün und Brahms blau, verbunden durch eine Klangbrücke. Sie ist ein Wiegenlied, das ich in London damals für meine Tochter geschrieben und selbst eingesungen habe.
Was ist durch diesen Moment, als dir klar wurde, dass jeder Komponist von einer Frau geboren worden sein muss und deswegen das Frausein so eine existenzielle Berechtigung und Notwendigkeit erfährt, mit der Komponistin in dir geschehen?
Tanja Brüggemann: Ich habe begonnen zu verstehen, dass sich mir als Frau, die Komponistin ist, eben ganz andere Grundlagen und Existenzmöglichkeiten eröffnen, die Männer so nicht haben. Zuerst empfand ich es als Reduktion, mich um meine Kinder kümmern zu dürfen und dadurch nicht zum Komponieren zu kommen. Und es geht ja nicht nur um das Komponieren, es geht ja auch um Zeit, um mit Ensembles und Musikerinnen und Musikern arbeiten zu können. Allein die dafür notwendige Konzentration ist einfach in einer gewissen Phase des Lebens nicht möglich. Mittlerweile empfinde ich es als große Freiheit, mich gewissen Vorgaben nicht fügen zu können, weil ich die vorgegebene erwartete Vita für einen Komponist als Frau und Mutter gar nicht erfülle. So kann ich tatsächlich künstlerisch total frei sein. Und das ist glaube ich auch das, was Kunst braucht: einfach ihre Sprache zu entwickeln und sich dem, was gerade ansteht, unterzuordnen, zu dienen. Ich sehe mich da voller Demut in Ausübung meiner Arbeit als Komponistin, nämlich wirklich vielen Stimmen einen Raum zu geben, und versuche dabei, sehr reflektiert zu sein.
Mutterschaft als eine große Gnade verstanden und außerdem Teil eines notwendigen Lebensvollzuges, der auch Arbeit und kreative Selbstverwirklichung beinhaltet – alles Teile des gleichen Lebens, des Weiblichen. Ich denke aber auch an die vielen Biografien, nicht zuletzt zum Beispiel Louise Bourgeois, die ja auch durch deinen Werkkosmos geistert, um ihrer Arbeit oder eben ihrem inneren Ruf folgen zu können. Sollten wir es vielleicht auch als Gnade empfinden, dass wir aufgrund längeren Lebens die Chance haben, beides in ein Leben zu packen?
Tanja Brüggemann: Man muss mehr denn je darauf pochen, Kunst überhaupt als Arbeit anzusehen und einfach die notwendigen, ganz konkreten pragmatischen Dinge zu regeln, um einfach davon auch leben zu können. Und dafür muss es auch Strukturen geben, die so geschaffen sind, dass man arbeiten, verdienen und leben kann. Es geht eben nicht darum, sich selbst zu verwirklichen, sondern ich denke einfach, jeder Mensch hat Gaben, die er den Menschen, der Natur, seiner Umwelt, einfach der Zeit, in die er geboren wurde, zu geben verpflichtet ist. Sich zur Verfügung zu stellen. Das ist ein Auftrag, den jeder Mensch hat. Wir sollten uns mehr bemühen, zu erkennen, welche Talente und Mitbringsel für diese Welt, für dieses Leben jeder Mensch mitbringt, sollten aber auch um seine Beschränkungen wissen. Man wird und muss nicht alles können. Das erzeugt genau die Zwangslage, die uns als Menschheit so stresst. Nicht überall hinterherzurennen, nicht alles machen zu müssen, sondern nur das, was man wirklich gut kann. Das bringt Ruhe ins System. Und lässt Dankbarkeit wachsen. Ich sehe mich als ganz kleines Tröpfchen, das einfach jetzt lebt und versucht, bewusst seine Schritte zu tun, sich so gut wie möglich einzusetzen. Man kann nie die perfekte Situation haben. Es ist immer ein Verhandeln.
Diese Sicht erzeugt auch die maximale Notwendigkeit, sich seiner selbst bewusst zu werden. Mit welchen Strategien ist dir das gelungen?
Tanja Brüggemann: Es gab in meinem Leben immer wieder glückliche Fügungen, die mir glasklar vor Augen führten, was ich zu tun habe. Einerseits bin ich mit Musik aufgewachsen, mein Vater war auch Komponist. Und ich habe mit fünf Jahren am Konservatorium Klavier zu lernen begonnen, wollte eigentlich immer bei Adriana Hölszky und Tristan Murail studieren ...
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