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Zugestanden, wir leben in Zeiten sich verschränkender Krisen und hochattraktiver Schlagzeilenthemen: zwischen Ukraine, Pandemie und internetunternehmenkaufenden Milliardären ist wenig Platz für Erinnerung. Trotzdem hat es mich gestern Vormittag gewundert, wie wenig medial präsent war, dass an diesem Tag vor zwanzig Jahren Robert Steinhäuser seine ehemalige Schule betrat und dort 16 Menschen erschoss. Kürzlich hat Marcel Laskus, damals selbst Schüler dort, im SZ-Magazin einen exzellenten Artikel über das Leben seitdem geschrieben, die Lokalmedien erinnern mit Porträts an die Opfer, die nicht in Vergessenheit geraten dürfen. Das Verbrechen an sich entzieht sich weiterhin meinem Verständnis dessen, was ein Mensch anzurichten im Stande ist. Es ist minutiös aufgeklärt worden (weshalb es hier nicht um die Tat selbst oder ihre Opfer gehen soll), aber außerhalb der Tatstadt hat man sehr schnell, zu schnell, aufgehört, darüber zu reden. 20 Jahre sind genug Zeit, um auch den Nachgang zu historisieren: Ihn aus der Gegenwart herauszunehmen und mit (im Idealfall) abgeklärter Distanz zu bewerten.

Der Amoklauf von Erfurt war eine prägende Erfahrung für mich und für viele Menschen meines Jahrgangs, aber, so glaube ich, nicht für meine Generation. Ich erinnere mich gut an die nicht sonderlich aufrichtig wirkende Anteilnahme am Montag nach dem 26. April 2002 während der Schweigeminute, die der Direktor meines Kreisstadtgymnasiums über die Durchsageanlage ausrief und während der wir ihn leise durch die Lautsprecher atmen hören konnten. Am Freitag, die Erfurter Körper waren noch nicht einmal alle geborgen, hatte bei uns noch die Abi-Zulassungsparty stattgefunden, und dem Vernehmen nach waren so gut wie alle dagewesen.

Ich mache (und machte) das meinen Mitschüler:innen nicht zum Vorwurf, dass sie ihr Leben nicht auf Pause stellten weil in einem 392 Autokilometer entfernten Gymnasium ein Verbrechen geschehen war. Bis auf die Tatsache, dass es in einer Schule geschah, verband sie nichts mit dieser Tat, im Gegensatz zu heute war sie nicht komplett durchmedialisiert. Eine Generation, die man mit dem Amoklauf in Verbindung bringen konnte, gab es so nicht.

Es gab aber eine Kohorte von Menschen, geboren grob irgendwann zwischen 1982 und 1988, 14 bis 20 Jahre alt, für die der Weg, wie unsere Gesellschaft mit dem Verbrechen umging, eine Zäsur bedeutete: Wir hörten die Musik, wir spielten die Spiele, wir hatten eine ähnliche pseudomaskuline Sozialisierung durchlaufen wie Robert Steinhäuser. Viele von uns sahen so aus wie er, dicklich, Pickel, scheiß Frisur, wer konnte, hatte einen scheiß Bart.

Wir hatten es uns in einer nur halbernstgemeinten Nische des Außenseitertums gemütlich gemacht, wo wir protestieren, schreien, „People = Shit“ skandieren konnten aber im Notfall eben doch meistens zurück in den Schoß der von uns so abgelehnten Gesellschaft zurückkehren konnten. Wir hörten Slipknot laut genug, dass auch der Rest der Familie außerhalb des Zimmers hören konnte, dass wir Slipknot hörten, aber Abendessen gab es für uns eben auch.

Die Zäsur bestand dementsprechend darin, dass Menschen anfingen, uns diese tägliche Rückkehroption abzusprechen, weil wir diese Musik hören und diese Spiele spielten. Das Misstrauen, das uns in der Folge entgegengebracht wurde, ist teilweise bis heute spürbar. Wenn ich mit Menschen rede, die ich erst als längst Erwachsene, im Leben arrivierte Menschen, als Familienväter kennengelernt habe, ist da bei denen, die zur Generationskohorte „Egoshooter und New Metal“ gehörten, bis heute eine Irritation vorhanden darüber, dass uns Menschen plötzlich für potenzielle Gewalttäter hielten wegen unserer Freizeitgestaltung. Wir lernten damals erstmals, wie Exklusionsmechanismen einer Mehrheitsgesellschaft funktionieren können, wie schnell sie parat sind.

Natürlich geschah das aus einer enorm privilegierten Position, es geht hier auch wirklich nicht darum zu jammern. Weder wurden wir körperlich angegangen noch spürten wir Ablehnung aufgrund unveränderlicher Eigenschaften. Es geht nicht darum, uns zu Opfern zu machen, aber eine subjektive Erfahrungsgeschichte zu notieren.

Googelt man beispielsweise nach „School Wars“, findet man bis heute neue Beiträge in Sozialen Medien und Büchern. „School Wars“ war ein angeblicher Song der Band Slipknot, frei erfunden von der BILD-Zeitung, inklusive der genauso frei erfundenen Songzeile „Kill your naughty teachers with a pumpgun“. Nichts daran stimmte, nichts davon existierte, es war keine Verwechslung, kein falsch zugeschriebenes Zitat, kein Missverständnis: Jemand in der BILD-Redaktion musste sich das aus der dünnen Luft ausgedacht und als Fakt in die Zeitung geschrieben haben. Meines Wissens hat niemand aus der damaligen Redaktion jemals eine Erklärung dafür gegeben. Diese erste Erfahrung mit einer offensiv lügenden Presse dürfte auch tiefe Spuren hinterlassen haben.

Und wer eine lügende BILD nicht für besonders überraschend hielt, konnte auch in der Qualitätspresse davon lesen, dass unser kultureller Alltag zwischen Musik und Spielen geprägt sei von Mordlust und Blutrausch, das mit uns irgendetwas nicht stimme, weil wir Counter-Strike spielten und Poster von „Fight Club“ an den Wänden hatten.

Und mit „Fight Club“ wird auch das letzte große Versäumnis unseres gesellschaftlichen Umgangs mit dem Amoklauf von Erfurt offenbar: kaum irgendwo in den vielen, vielen Artikeln, die das Verbrechen in den folgenden Wochen zu erklären versuchten kam das Moment der gekränkten, noch nicht in der Moderne angekommenen Männlichkeit von Robert Steinhäuser vor, die in „Fight Club“ in den Tyler-Durden-Faschismus und die abschließende Katastrophe führt. Der Film (und die Buchvorlage) übten auch deshalb so eine große Faszination auf unsere Generation an, weil die charismatische Führerfigur genau diese ziellosen (post-)pubertären Kränkungen ansprach, denen sich junge Männer um die Jahrtausendwende ausgesetzt fühlten, mit einem Fuß im traditionellen maskulinen Bild, mit dem anderen in einer leidlich feministischen Postmoderne. Robert Steinhäuser erschoss unter anderem acht Lehrerinnen und vier Lehrer.

Wir hätten deutlich früher anfangen können, über dieses Thema gesellschaftlich zu diskutieren und nicht erst durch die vielen nachfolgenden, aus einer vollkommen fehlgeleiteten Maskulinität entstandenen Gewalttaten. Wir haben es nicht getan, weil die Erinnerung an den Amoklauf von Erfurt weitgehend aus der Diskussion und aus der Geschichte der Berliner Republik verschwunden ist – weil er keine bundespolitische Zäsur darstellte, aber auch weil er keine Helden kannte: es gab nur Täter, Opfer und eine traumatisierte Stadt, die dem Lehrer Rainer Heise, der Steinhäuser gestellt hatte, bald nicht mehr glaubte. Es wird Zeit, dieses Ereignis als die soziale Zäsur, die es für Teile Deutschlands darstellte, anzunehmen und es in den Kontext der nächsten deutschen Zeitgeschichte aufzunehmen.

Was sonst noch war:

Meine langjährige partner in crime Charlotte ist verdientermaßen mit „nichtsophiescholl“ für den Grimme Online Award nominiert – das ungefähr eine Million mal teurere Originalprojekt „ichbinsophiescholl“ nicht: https://www.grimme-online-award.de/2022/nominierte (Abre numa nova janela)

In dieser Woche lernte ich den hyperlokal diskriminierenden Begriff des „Speckdänen“ kennen und empfehle die kurze Wikipedia-Lektüre: https://de.m.wikipedia.org/wiki/Speckd%C3%A4ne (Abre numa nova janela)

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