PBN-Labor #14 mit Born in the Prenzlauer Berg
Liebe Leute, Fußballfans und Locals.
Als Letztere habt ihr natürlich und sofort messerscharf erkannt: Das Foto oben ist aus dem Gesundbrunnen. Aber der Aufnahmeort ist nur eine Gleimtunnellänge vom Prenzlauer Berg entfernt, und außerdem finde ich kein schöneres Symbol dafür, wie das hier in Berlin gerade läuft mit dieser Männerfußball-EM – oh, Entschuldigung, natürlich UEFA EURO 2024 TM (Abre numa nova janela):
Viel Theater in der Mitte. Drumherum ist eigentlich alles wie immer.
So können wir uns heute problemlos einem ganz anderen Thema widmen, dem sich unsere Kollegin Susanne Grautmann angenommen hat.
Bitte schön:
Thema der Woche: Goodbye Bullerbü
Foto: Christian Lue auf Unsplash (Abre numa nova janela)
Worum geht’s?
„Ich dachte, die stirbt mir weg“ erzählt Daniela Meurer*. Ihre Tochter Rebecca* lag apathisch im Bett und schien das Bewusstsein zu verlieren. Meurer hatte nicht die geringste Ahnung, was ihre Dreizehnjährige in diesen Zustand versetzt hatte. Alkohol? Drogen? K.O.-Tropfen? Sie konnte es überhaupt nicht einschätzen, und aus der Freundin der Tochter war nichts herauszubekommen. Sie hätten Hugo getrunken, druckste die herum. Da seien so Flaschen rumgegangen. Was für Flaschen und wo überhaupt? „Am Alex.” Da rief Meurer die 112.
Die Kinder des Prenzlauer Bergs dienten über Jahre als Running Gag der deutschen Comedy- Szene. Skandinavische Vornamen, Dinkelgebäck, Instrumentenkarussell – mehr Bullerbü als am Pregnancy Hill schien nicht zu gehen.
Und heute? Sind Finja und Lasse Teenager, die ihre Freizeit in einer Hochburg für Jugendgruppengewalt verbringen. In keinem anderen Berliner Ortsteil wurden so viele Jugendliche und junge Erwachsene von Gruppen Gleichaltriger abgezogen, also bedroht und um Handys, Turnschuhe oder Geld beraubt.
Viele der heute hier lebenden Eltern sind aus Kleinstädten und Dörfern in den Prenzlauer Berg gezogen. Wenn einem da die Kontrolle entglitt, landete man unter der Schützenfestbank oder auf einem Stück Acker. Auf ihre Kinder warten heute Kriminalität, K.O.-Tropfen und Spätis mit Space-Keksen im Bückwarensortiment.
Warum ist das wichtig?
Die Erfahrungshorizonte sind anders. Die Zeiten sind andere. Und auch die Pädagogik ist eine andere. Bedürfnisorientierte Eltern wollen Kindern gerecht werden, deren Planungen und Auskünfte etwa so vage ausfallen wie die Abfahrtszeiten des RE 5. Die wiederum erobern sich nach ihrer bürgerlichen Kindheit im Kiez nun Groß-Berlin. Das sind große gesellschaftliche Spannungsfelder, kondensiert bei uns, zwischen Mauerpark und Helmholtzplatz.
Was sagen Betroffene?
Daniela Meurer hat ihre apathische Tochter auf dem Damen-Toilette der Schönhauser Allee Arkaden aufgelesen. Rebecca hing gerade über der Kloschüssel, als sie dort ankam. Ihr Mageninhalt sah giftgrün aus, sie selbst war leichenblass und kaum ansprechbar. Meurer hatte ihre Tochter noch nie so gesehen. Sie kannte sie als zuverlässiges und vernünftiges Mädchen. Eigentlich war sie in den Arkaden verabredet, um noch ein paar Weihnachtsgeschenke zu besorgen.
Rebecca ist in Prenzlauer Berg aufgewachsen, besucht ein Gymnasium im Helmholtz-Kiez. Das Verhältnis zu den Eltern ist gut, das war es auch damals, vor mittlerweile vier Jahren. Der Radius, in dem sie sich durch die Stadt bewegte, vergrößerte sich zu der Zeit gerade. Auch am Alex hing sie als Riesen-K-Pop-Fan ab und zu rum. Über das Internet hatte sie andere Fans kennengelernt, die sie dorthin mitgeschleppt hatten.
Meurer und ihr Mann waren schon früh die Basics mit ihr durchgegangen: keine offenen Getränke, die Gläser nicht rumstehen lassen, mit niemandem mitgehen. Sie waren überzeugt, dass das bei ihrer Tochter angekommen war. „Wir haben sie nie kontrolliert”, sagt Meurer.
Was an diesem Tag genau passiert ist, wissen sie bis heute nicht.
Paul* begegnete der Kriminalität mitten im Mauerpark, am helllichten Tag. Ein paar Jugendliche bedrohten ihn plötzlich und nahmen ihm Handy und Bargeld ab. „Als wir später Anzeige erstattet haben, gab uns die Polizei zu verstehen, Jugendliche aus Prenzlauer Berg würden wohl auch deswegen Opfer solcher Überfälle, weil die Täter sich ausrechneten, dass viele hier Marken-Klamotten und teure Smartphones hätten und sich eher nicht zur Wehr setzten“, sagt seine Mutter. Vielen trichtere man zu Hause ein: „Wenn einer was von dir will, gib alles ab und renn’ weg!”
Was sagt die Statistik?
Dass man in den meisten Parks und einigen Spätis aus einem Drogen-Sortiment wählen kann, das mindestens so viel Auswahl bietet wie das Müsli-Regal im Supermarkt, ist kein Geheimnis.
In den Jahren 2022 und 2023 lag der Prenzlauer Berg im Durchschnitt auf Platz fünf von allen 96 Berliner Ortsteilen, was Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz durch Jugendliche betrifft. Die mit Abstand meisten Fälle wurden im Mauerpark erfasst, danach folgten der S- Bahnhof Landsberger Allee und die Kulturbrauerei.
Bei Straftaten mit jugendlicher Beteiligung landete unser Stadtteil zuletzt auf Platz drei. Raub, Körperverletzungen und Diebstahl stehen auf der Liste. Als Hotspots gelten der Mauerpark, der Mühlenkiez an der Hanns-Eisler-Straße und der Helmholtzplatz .
Dass Prenzlauer Berg in der Statistik so weit oben rangiert, liegt allerdings auch daran, dass hier besonders viele Jugendliche wohnen oder sich aufhalten. Nach Angaben des Amts für Statistik Berlin-Brandenburg leben im Bezirk Pankow 52.000 Kinder und junge Erwachsene im Alter von acht bis 21 Jahren – mehr als in jedem anderen Berliner Bezirk; 19.000 davon in Prenzlauer Berg.
Was sagen Expert:innen?
Wie kann man sein Kind bestmöglich auf eine Stadt wie Berlin vorbereiten, wo im Prinzip alles jederzeit verfügbar ist und es jede Menge „kriminalitätsbelastete Orte” gibt, wie es in der Polizeistatistik heißt?
Doreen Schiller ist Diplom-Psychologin und Psychotherapeutin und berät Eltern und Kinder in der Fröbel-Familienberatung Clara nahe des Straußberger Platzes. Ein Schwerpunkt ihrer Arbeit ist die Beratung bei Problemen in Pubertät und Teenagerzeit.
Schiller sagt: „Am wichtigsten ist, dass wir mit unseren Kindern auch in den Teenagerjahren in gutem Kontakt bleiben. In dem Alter geht es nicht mehr so sehr um Erziehung, sondern um die Beziehung.”
Sie rät zu mehr Freiheit und Eigenverantwortung – wie bei einem Vorgarten, in dem man den Zaun immer ein kleines Stück weiter vom Haus entfernt aufstellt und den Freiraum mit den Jahren vergrößert. Dabei sollte das Kind spüren, dass die Eltern noch immer für es da sind. „Man kann seinem Kind sagen, dass man zu ihm hält, egal was passiert. Und dass es sich immer an die Eltern wenden kann, wenn es Sorgen oder Probleme hat.”
Schöne Worte. Doch dringt man damit durch, gerade in einem Alter, in dem die Selbstüberschätzung zur DNA gehört? Bei Teenagern, die die Wirkung von Alkohol, Drogen oder die Gefährlichkeit bestimmter Orte gar nicht einschätzen können?
Schiller setzt auf Ich-Botschaften. „Ich kann meinem Kind erklären, dass ich mir Sorgen mache und welche Gefahren ich sehe und besprechen, wie es sich verhalten kann, wenn es mal brenzlig wird." Wer in gutem Kontakt sei, könne Vereinbarungen treffen, mit denen beide Seiten leben könnten. „Man kann zum Beispiel abmachen, dass die Kinder eine Textnachricht schicken, bevor sie sich auf den Heimweg machen, oder dass sie sich abends nur mit anderen zusammen in Parks oder U-Bahnhöfen aufhalten.”
Von strikten Verboten hält Schiller wenig. „Das bringt in dem Alter eigentlich nichts. Man kann es sowieso nicht kontrollieren und schnell dazu führen, dass die Jugendlichen erst recht dagegen verstoßen oder kaum noch etwas erzählen.”
Ein eigenständiger Umgang auch mit riskanten Situationen ist in diesem Alter die wichtigste Entwicklungsaufgabe. Wer seinen Kindern Vertrauen vermittelt, stärkt deren Selbstbewusstsein. Ein selbstbewusstes Kind kann sich eher gegen Gruppendruck behaupten.
Fischer rät, seinem Kind beispielsweise mitzugeben: „Ich traue dir zu, dass du das gut hinkriegst”. Letztlich komme es darauf an, eine gute Balance zwischen Aufmerksamkeit und Vertrauen zu finden: „Ein Auge ist liebevoll zugedrückt, das andere noch aufmerksam auf das Kind gerichtet.”
*Die Namen der Betroffenen sind geändert, aber der Autorin bekannt.
Die Fröbel Familienberatung bietet zum Thema den Kurs “Pubertät - Eltern zwischen Festhalten und Loslassen” (Abre numa nova janela) an. Er richtet sich an Eltern mit Kindern zwischen 12 und 16 Jahren.
Text: Susanne Grautmann
Machen
Pressefoto: FeteDeLaMusique 2023 – Ⓒ Jim Kroft
Fête de la Musique / Freitag, 21. Juni
Same procedure as every year, James (Programm (Abre numa nova janela)).
Achtzehn. Wie ist es, heute erwachsen zu werden? / Freitag, 21. Juni bis Donnerstag, 1. August
Multimedia-Ausstellung im Foyer des Zeiss-Großplanerariums, Eintritt frei (mehr (Abre numa nova janela)).
Museumsfest auf Italienisch / Samstag, 22. Juni, 16 bis 22 Uhr
Das Museum Pankow feiert passend zu seiner Sonderausstellung „Musica di strada“ zur Geschichte von Italiener:innen in Prenzlauer Berg ein Fest mit Führungen, Musik, Spielen, Sprachkurs und Essen. Im Hof des Kultur- und Bildungszentrums Sebastian Haffner, Eintritt frei (mehr (Abre numa nova janela)).
Queerpass: Ein Fest der queeren Fankultur / Sonntag, 23. Juni, ab 16 Uhr
Fest und Public Viewing in Rahmen des Fußballkultursommers, auf der Kulturinsel, Danziger Straße 101-105, Eintritt frei (mehr (Abre numa nova janela)).
Zwischen Paradies und Diktatur – Die Erinnerung an die DDR und was sie für uns heute bedeutet / Dienstag, 25. Juni, ab 18.30 Uhr
Peter Wensierski war West-Journalist in der DDR. Nun öffnet er erstmals sein Privatarchiv, zeigt Fotos und Videos und spricht über seine DDR-Erfahrungen damals und den Blick darauf heute. Im Kultur- und Bildungszentrum Sebastian Haffner, Eintritt frei (mehr (Abre numa nova janela)).
Vielen Dank fürs Lesen bis hierhin. Wie immer freue ich mich über Rückmeldungen, Themenhinweise und Fragen an redaktion@prenzlauerberg-nachrichten.de (Abre numa nova janela) oder Tipps direkt in unseren Themen-Briefkasten:
Beste Grüße und bis bald,
Juliane von den Prenzlauer Berg Nachrichten