Das Problem mit dem Begriff “Suchtmittel”
Warum der Begriff “Suchtmittel” nicht entstigmatisiert
Dieser Begriff ist ein gutes Beispiel dafür ist, warum sich das Gespräch über Sprache lohnt: Erst durch den Austausch von Perspektiven lässt sich verstehen, warum manche Menschen diesen Begriff verwenden und andere ihn ablehnen. Wie der Titel schon vorhersagt, lehne ich ihn auch ab und erkläre in diesem Text warum.
Vorneweg: Sprache ist nicht alles – aber sie sagt viel
Wenn wir über Begriffe rund um „Sucht“, „Abhängigkeit“ oder „Substanzgebrauchsstörung“ sprechen, dürfen wir nicht vergessen: Die schmerzlichsten Benachteiligungen für betroffene Menschen liegen nicht in einem einzelnen Wort. Sie liegt in kaputtgesparten Beratungsstellen, in Wohnungsnot, in psychischen Krisen, in Marginalisierung, Traumatisierung und Diskriminierung im Allgemeinen und in Bezug auf Drogengebrauch und Sucht: Kriminalisierung, Justiz, Polizei. Ein Begriff allein bringt niemanden aus der Armut, schützt niemanden vor Gewalt und sichert keine würdevolle Therapie.
Und trotzdem ist es wichtig, über Wortwahl und Alternativen zu sprechen. Nicht, um sie einfach auszutauschen – sondern um anlässlich Themen zu öffnen, die aufgrund der Stigmatisierung und der Tabuisierung unterbelichtet sind.
Sprache kann aufdecken, aber auch verschleiern
Es gibt auch Begriffe, die schlichtweg beleidigen und abwerten. Worte wie „Zombie“ entmenschlichen. Sie stellen den Wert des Lebens von Menschen in Fragen, denen es offenkundig elendig geht – als wären sie keine Menschen und eh schon mehr tot als lebendig. Bedrohung, Müll, Belastung. (Siehe auch: Mein Artikel vom letztem Jahr (Abre numa nova janela))
Auch Begriffe wie “Drogenopfer”, “Rauschgiftsüchtige” haben die klare Absicht der Abwertung. Entstigmatisieren heißt, die Abwertung und Ausgrenzung abzubauen. Das gelingt mit dieser Wortwahl eindeutig nicht und soll es auch nicht.
Aber auch ein neutraler anmutender Begriff wie „Suchtmittel“ trägt zur Abwertung von nicht-abhängigem und abhängigem Drogengebrauch bei.
Er ist irrführend und leugnet die facettenreichen Wirkweisen und Bedeutungen für ein erfülltes Leben von vielen Menschen, die illegale Drogen gebrauchen. Ein kleinerer Teil derjenigen, die illegalisierte Substanzen konsumieren, tut dies abhängig — das gilt auch für die am meisten stigmatisierten Drogen. Aber auch den von Sucht Betroffenen wird man mit dem Begriff “Suchtmittel” nicht gerecht.
Dabei gibt es gute Gründe, ihn zu verwenden:
“Suchtmittel” ist ein vergleichweise progressiver Begriff.
Im Vergleich zu Begriffen wie „Rauschgift“ oder „Suchtgift“ ist „Suchtmittel“ ein Fortschritt.
Und er hat auch eine wichtige Absicht: Er ist leichter auch mit Alkohol verknüpfbar im Vergleich zu “Droge”. Viele sperren sich dagegen, Alkohol als eine “Droge” anzuerkennen. Eine Gleichbehandlung zwischen legalen und illegalen Drogen ist im Hilfesystem extrem wichtig, um den Behandlungsanspruch anerzuerkennen, egal um welche Substanz es sich handelt und wie sie rechtlich (un)reguliert ist. Alkohol vom Ross zu holen kommt der Entstigmatisierung zu gute, indem zum Beispiel klarer wird, dass sich die Grenzen zwischen legal und illegal gesetzlich definiert ist und nicht chemisch oder medizinisch.
Der Fortschritt reicht aber nicht weit.
Wie seine begrifflichen Vorgänger ist seine Verwendung damit erklärbar, dass die Wortwahl rund um Drogen und Sucht von Nicht-Konsumierenden geprägt wird. Es gilt immer noch, dass jene Personen, die möglichst wenig mit der Sache und den Menschen zu tun haben, besonders viel Autorität zugesprochen wird und Stigmaerfahrenen ihre Haltung abgesprochen wird. Das ist der Sinn von Stigmatisierung.
Die Grenzen des Begriffs „Suchtmittel“
Der Begriff „Suchtmittel“ trägt die falschen und irreführenden Botschaften …
Dass der Gebrauch einer Substanz früher oder später zwangsläufig mit Sucht verbunden sei. Oder es zumindest der unwahrscheinlichere Fall sei, es nicht “als Suchtmittel” zu konsumieren.
Dass die Person, die “trotzdem” konsumiert, eine Sucht “in Kauf nehme”.
Dass die Person entsprechend “die Schuld” an ihrer Situation trage („Du hättest ja wissen können, welches Risiko zu eingehst”.)
Dass die Sucht in der Substanz stecke – und nicht in einem komplexen Zusammenspiel aus chemischen/neurologischen, psychischen/persönlichen und gesellschaftlichen/politischen Faktoren. Diese Logik ignoriert soziale Realität, Armut, Ausgrenzung und psychische Krisen. Eine sprachliche Form von Entsolidarisierung. Viel inspirierende Kritik läuft, über Drogengebrauch und Sucht hinaus, im Englischen unter “Medicalizing poverty”.
Dass es keine vielfältigen Verwendungsmöglichkeiten und Erfahrungen mit verschiedenen Arten von Substanzen gebe, wie zum Beispiel Spaß, Neugier, den Wunsch nach Rauscherleben, Traditionen, Bereicherung, Selbstmedikation (bspw. wo legale Optionen infolge der Illegalisierung fehlen), Selbsterfahrung, etc.
Der Begriff “Suchtmittel” erklärt nicht, warum die einen abhängig konsumieren und die anderen nicht.
Aber das ist eigentlich eine zentrale Frage, die gesellschaftliche Aufklärung braucht. Der Elefant im Raum. Niemand will süchtig werden und manche werden es von denselben Substanzen, von denselben Gewohnheiten doch. Warum?
Wenn wir von der Vorstellung wegkommen wollen, dass doch irgendwo eine schuldhafte, verurteilende Verantwortung in den einzelnen Personen liegt, müssen wir in diesen Unterschied eintauchen und ihn verstehen lernen. Dazu gehört, nicht nur über “die Sucht-Seite” zu sprechen, sondern auch darüber, dass dieselben Substanzen große Freude bereiten und für die meisten abseits von Stigmatisierung, Kriminalisierung und Illegalität mit keinen Problemen verbunden sind.
Was stattdessen sagen?
Statt von „Suchtmitteln“ zu sprechen, kann man:
von psychoaktiven Substanzen sprechen,
von legalen und illegalen/illegalisierten Substanzen (oder “Drogen”, allerdings umstritten, u.a. wenn nur für die illegalisierten begriffen)
oder von [Substanz XY].
Verharmlost das nicht?
Nein. Das Ziel ist, genauer auszudrücken, was man vermitteln möchte. Um welche Substanz geht es? Um welche Risiken? Um welche Gefahren für die Gesundheit? Das erlaubt, über reale Erfahrungen, Risiken und besonders sensible Lebenssituationen aufzuklären. Man kommuniziert klarer, welches Bild man von der Sache hat und was einem Sorgen bereitet. Man lädt andere dazu ein, nachzufragen, zu widersprechen, gemeinsam weiterzudenken.
Dieser Artikel erschien zuerst am Mittwoch für die zahlenden Mitglieder (Abre numa nova janela) des Drogenpolitik Briefings, in der Regel erscheint es freitags. Dies hier ist die kostenlose, zeitlich verzögerte Veröffentlichung. Es ist mir wichtig, die Paywall nach ein paar Tagen aufzuheben und ich freue mich über alle Interessierten. Willkommen an die Neuen!
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Philine Edbauer leitet das bundesweite #MyBrainMyChoice-Netzwerk, das durch Kampagnen und Publikationen die Öffentlichkeit und Politik über drogenpolitische Handlungsoptionen aufklärt. Als Regionalwissenschaftlerin (M.A.) hat sie sich auf die Analyse der globalen Drogenbekämpfung spezialisiert, ist Mitglied des Experten-Netzwerks Schildower Kreis und hat die Bundesregierung zur Cannabisgesetzgebung beraten. Philine Edbauer lebt in Berlin und arbeitet als freie Autorin und Fachreferentin zu den Themen Drogenpolitik, Menschenrechte und Entstigmatisierung.