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Sehen, was ist

Der weiße Fuchs/Aldo Moro/Alexandre Couillon/In eigener Sache

Zu den wesentlichen Ritualen des modernen Familienlebens zählt der Elternabend. Mein Vater sorgte an meiner saarländischen Grundschule in den siebziger Jahren für Furore, weil er einmal teilgenommen hat – damals waren solche Termine Muttersache. Heute sind die Anforderungen an Eltern ganz anders gelagert und ich habe schon viele Abende auf den Stühlen der Kinder verbracht. Manchmal war ich danach froh, schon Kinder zu haben, denn angesichts des Gebarens anderer Eltern hätte ich mir das vielleicht noch mal anders überlegt. Ein Vater nutzte mal das Thema Klassenkasse zu einer Ausführung über Blockchains und chinesische Dominanz und möchte man so werden? An einem anderen Abend war eine Mutter  ganz aufgebracht, weil ihr Sohn zum Mittagsessen die falsche Sorte Brot bekam, grobes Vollkornbrot statt einer anderen Sorte. Es ging nicht um Unverträglichkeit, aber das Kind war irgendwie traurig danach. 

Neulich aber war es eine ruhige Sitzung. Ich kam recht früh wieder hinaus und traf auf das oben abgebildete Tier. Es waren noch andere Personen unterwegs, Passanten und Automobilisten, aber niemand blieb stehen. Ich fragte eine Dame, ob sie auch sehe, was ich sehe und sie bestätigte es, zog dann aber weiter. Ich erinnerte mich dann, dass in der Nähe der Schule ein Tierpark ist, aus dem, hatte ich der Lokalpresse entnommen, unlängst ein silberfarbener Farmfuchs ausgebüxt war. Sie suchen ihn aber nicht, denn er schaut allabendlich  im alten Gehege vorbei. Einziehen möchte er aber nicht mehr. Die Droge der Freiheit hat ihn erfasst und so ein großes Schulgelände ist ihm ein Buffet an verschmähten Pausensnacks, gleich welcher Brotsorte.  

Ich frage mich, was ich gesehen häte, wenn ich nichts vom entflohenen Fuchs gelesen hätte? Eine seltsame Katze, einen nassen Pudel oder einen sich tarnenden Waschbär?  Wissen bedingt unsere Wahrnehmung. Der amerikanische Philosoph Mark Rowlands hat dafür ein treffendes Beispiel. Er hatte viele Jahre lang einen Wolf als Haustier oder besser Gefährten. In dem Buch, das er über diese Erfahrung schrieb, Der Philosoph und der Wolf (Abre numa nova janela) , schildert er eine Szene, die sich in Irland zugetragen hat. Rowlands belauschte einige Farmer, die die Zeitung studierten und sich Sorgen machten, weil aus einem Gehege ein junger Wolf entwichen war. Sie sprachen davon, wie man dieses Tier am besten fangen oder erschießen könnte, hatten einen Heidenrespekt vor dem mythischen Wesen und ängstigten sich vor einer Welt, in der so etwas frei herumläuft. Und übersahen in ihrem Kopfkino völlig, dass ein ausgewachsener, kräftiger und schwerer Wolf zu ihren Füßen schlief, mitten im Café. Denn Rowlands, der jeden Morgen in dieser Kneipe frühstückte, ging nirgends ohne seinen Wolf Brenin hin. Aber weil die Einheimischen nicht wussten, dass der große Hund ein Wolf ist, hatten sie auch keine Angst, ja sie sahen ihn nicht einmal. 

Umgekehrt funktioniert es auch. Nach der Lektüre von Rowlands Buch fiel mir eine Dame auf, die vor unserem Rewe wartete und neben sich einen hohen, schmalen und wie von Bernard Buffet gezeichneten Hund hatte. Ich fragte sie im Flüsterton, ob es sich um einen Wolf handelt und sie nickte, legte aber dabei ihren Finger auf die Lippen. Wolf schon vor Rewe – manchem Boulevardblatt genügt das ja schon.

Stellt sich die Frage, was wir alles übersehen, weil wir nichts davon wissen?

Die  besonders eindrückliche italienische Serie Esterno notto ist derzeit in der Mediathek von Arte abrufbar, die wieder einmal als europäisches Netflix fungiert. In sechs Teilen erzählt der italienische Regisseur Marco Bellocchio die Entführung des Christdemokraten Aldo Moro im Jahre 1978. 

Es ist eine bis heute vieldiskutierte Geschichte und das italische Drama schlechthin. Jahr für Jahr erscheinen dort zahllose Artikel und Bücher zu diesem Fall.  Moro war der politische Architekt des historischen Kompromisses, also der Zusammenarbeit zwischen Christdemokraten und Kommunisten. Kaum waren sich diese historischen Kräfte einig, wurde Moro von den Roten Brigaden entführt und später ermordet. Damals war Italien die Heimat der sagenhaften Geheimloge P2 und wichtiger Bestandteil der Gladio-Programme westlicher Dienste, die im Falle einer kommunistischen Machtübernahme den Widerstand organisieren sollten. Der Zusammenhang zwischen Terrorismus und Geheimdiensten ist seitdem ein publizistisches Standardthema und es ist auch wirklich viel dran. 

Bellocchio streift das alles aber nur am Rande. Ihm geht es um eine poetische und humane Darstellung der Zeit und der Personen. Politiker werden als Sonderlinge gezeigt, die ganze Kultur der Zeit als eine vergebliche Suche nach Antworten und Verbindlichkeiten. Träume, Ahnungen und Offenbarungen spielen eine große Rolle, ohne dass die Serie ins Fantastische abdriftet. 

Es ist ein Werk, das zum mit- und weiterdenken inspiriert. Höchste Zeit, dass auch hierzulande etwa der Mord an Siegfried Buback in vergleichbarer Weise behandelt wird. 

https://www.arte.tv/de/videos/097481-001-A/und-draussen-die-nacht-1-6/ (Abre numa nova janela)

Das zentrale französische Schimpfwort ist nicht wie im Deutschen vulgär-fäkal, sondern misogyn-genital und bezeichnet das weibliche Geschlecht: con, zu Deutsch Fotze. Aber es gibt ein männliches Pendant und lautet couillon zu Deutsch Sack oder Sackgesicht. Es ist also schon mal eine Challenge, mit diesem Namen ins französische Leben zu starten und die Sache wird nicht einfacher, wenn die schulischen Leistungen so komplett ausbleiben. 

Der junge Alexandre war in dieser Lage und hatte also nur sehr beschränkte Optionen im real existierenden Frankreich. Genau genommen nur eine, nämlich das Restaurant seiner Eltern auf der Insel Noirmoutier in der Vendée zu übernehmen. Die war, als er anfing, auch noch richtig abgelegen und weit weg von allem, was in Medien, Politik oder Gastronomie irgendwie relevant gewesen wäre, eine Art Sibirien am Atlantik. Couillon hatte zu Beginn sogar Mühe, guten Fisch zu bekommen, denn der ging direkt nach Paris. Gemeinsam mit seiner Frau Céline machten sie beide weiter und sich Gedanken: Was für eine cuisine passt zum wilden Westen der Vendée? Zu diesem Treffpunkt von Meer und Acker? Sie hielten durch und nun bekam ihr Haus, als einziger Newcomer, den dritten Stern des Guide Michelin! Bei der Verleihung laberte Alexandre in totaler Überforderung irgendwas, Céline konnte vor Rührung gar nichts sagen, hatte Tränen in den Augen und mir ging es auch nicht anders. Daher heute kein Geflügel.  

https://www.youtube.com/watch?v=iH2U3Frfock (Abre numa nova janela)

In eigener Sache: Seit bald zwei Jahren schreibe ich diesen Newsletter und es ist die reine Freude. Mittlerweile gehört er bei vielen Menschen zum Sonntag dazu und das soll auch so bleiben.  Dazu muss er aber finanziell besser ausgestattet werden. 

Ich möchte keine Werbung  auf der Seite und auch nicht unter eine Medienmarke schlüpfen. Allerdings ist mir die Arbeit daran so wichtig, nimmt Zeit in Anspruch, dass ich, wenn es so weiter gehen soll, auch mehr Mitgliedschaften brauche, um das Projekt weiter zu finanzieren. 

Das Ziel ist, bis Mai von 157 auf 300 Mitglieder zu kommen. Wer den "Siebten Tag" gern liest und das Geld erübrigen kann, möge es bitte tun. (Alle, die knapp bei Kasse sind, lesen selbstverständlich gratis weiter, wir machen Robin-Hood-Prinzip) Montag reicht auch, heute ist ja der siebte Tag. 

Kopf hoch

ihr

Nils Minkmar

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