Ein Tag nach dem anderen
Als ich vor sieben Tagen diesen Newsletter schrieb, kam mit die Welt schon ziemlich düster und kompliziert vor. Und doch war das die gute alte Zeit.
Unnötig, alles an dieser Stelle noch einmal zu rekapitulieren. Die Details der Wahrheit sind ohnehin kaum auszuhalten. Man muss einen Tag nach dem anderen schaffen und auch solche wie Freitag den Dreizehnten, an dem man morgens schon ahnen konnte, dass es etwa in Frankreich Opfer geben würde.
Ich denke oft an ein Gespräch, das ich vor Jahren mit dem algerischen Schriftsteller und Journalisten Kamel Daoud hatte. Er warnte vor der Zange zwischen der extremen Rechten und den Islamisten, die sich um die offene Gesellschaft Europas schließen könnte wie um seine Heimat, Algerien: Islamisten und Marine Le Pen, AfD und Antisemiten, Putin und Hamas – sie sind laut, brauchen einander und treiben uns vor sich her. Für die offene Gesellschaft ergibt sich ein Konflikt an zwei Fronten. Damals schrieb ich einen Essay (Abre numa nova janela) dazu.
Die Feinde der offenen Gesellschaft, so unterschiedlich sie sich geben, haben eine Gemeinsamkeit: Ihr mörderischer Hass auf Juden, Frauen und Minderheiten bliebe mehr oder minder privat, wenn sie nicht über diese immensen finanziellen Mittel verfügten. Iran und Russland sitzen auf irrsinnigen Mengen von Geld wie mörderische Dagobert Ducks. Kaufen sich Medien, Hassprediger, Waffen und ehemalige Bundeskanzler. Geld aus dem Verkauf von fossilen Brennstoffen, die wir brauchen, um die Klimaanlagen zu betreiben, weil die Luft so warm ist, um im Parkplatzsuchverkehr unsere Runden zu drehen oder Waren aus Asien zu importieren, die früher problemlos hier hergestellt wurden. Das ganze billige Zeug füllt dann Schubladen und Schränke, bis Mari Kondo kommen muss und uns retten. Und immer klingelt die Kasse für Energie und Transport bei unseren Feinden.
Die Fatwa auf Salman Rushdie brachte kein Umdenken und der 11. September 2001 auch nicht. Die Ausbreitung der Hassprediger im Maghreb und in Europa nicht, ebenso wenig die Attentate in London und später in Frankreich. Auch der russische Überfall auf die Ukraine änderte wenig, wir wechselten bloß den Lieferanten. "Die Angst der Bundesregierung vor den deutschen Autofahrern", schreibt Stephan Lamby in seinem Buch Ernstfall "ist größer als jene vor Putin." Deutschland lebt sentimental in der Fernsehwerbung der SiebzigerJahre: Eigenheim, PKW und Frühstücksidylle.
Der Einsatz von Militär und Polizei gegen Terroristen ist nötig, aber nicht nachhaltig. Erst wenn wir von Öl und Gas weg kommen, hellt sich der historische Horizont wieder auf. Der Verkauf von Rohstoffen begünstigt Korruption und die Herrschaft der Wenigen. Medien werden gekauft oder bedroht, Personenkult ersetzt das Gemeinwesen und Gewalt entscheidet alle Zweifelsfragen. Nicht in allen Ländern natürlich - Kanada und Norwegen sind löbliche Ausnahmen. Aber in unserer geografischen Nachbarschaft gibt es einfach zu viele dieser Könige, die sich alles nehmen wollen. Dabei halten sich ihre Gier und ihre Ideologie nicht immer gegenseitig in Schach. Auch in Israel und den USA nahm man an, dass der Wohlstand der Hamas-Führer und ihrer Unterstützer dazu führt, dass sie dem Krieg abschwören. Dass ihre Interessen ihren Hass, ihre Weltanschauung neutralisieren. Im ganzen Westen hatte sich solch ein Denken etabliert: Unsere Werte sind nur relativ, die Liebe zum Geld aber universell. Darum bemerkten Dienste in Israel und USA - so jedenfalls stand es zu lesen- verdächtige Vorbereitungen in Gaza und der Szene - aber auf der politischen Ebene nahm man es nicht ernst. Würden ja alles verlieren, warum sollten sie zuschlagen? Kein Grund zur Schadenfreude: Noch Ende 2021 machten Politiker und Experten genau denselben Fehler, als es darum ging, Putins Absichten zu erraten. Putin und seine Freunde waren unermesslich reich, genossen Respekt und die ganze Welt stand ihnen offen. Was sollten sie die Ukraine angreifen?
Sich mit Geld Ruhe zu kaufen, geht eine Weile gut, aber eben nur eine Weile.
Der Universalismus von Menschen- und Bürgerrechten muss auch der Leitfaden wirtschaftlichen Handelns sein. Und in diesem Sinne ist die Umrüstung auf erneuerbare Energien unsere beste Strategie und die einzige, die Freiheit und Sicherheit in Europa gewährleistet. Und mehr noch: Unsere Kultur und Zivilisation ist einem weiteren Anstieg der Temperaturen nicht gewachsen. Auch da rettet uns ein beschleunigter Umbau von Wirtschaft, Transport und privatem Konsum auf erneuerbare Energien.
Um gut durch diese Wochen zu kommen, hilft das neue Album von Igor Levit Fantasia. Klassik-Novizen wie ich verstehen vielleicht nicht auf Anhieb das Konzept dahinter, wohl aber die Geschichte, die hier erzählt wird. Sie stiftet Zuversicht und verbindet uns. Nimmt der Welt ihren Schrecken. Man fühlt sich, als sähe man zum ersten Mal eine schöne Wohnung, von der man gleich weiß, dass man dort viele Jahre leben wird.
https://www.youtube.com/watch?v=lP-bJAKa34k (Abre numa nova janela)Vor einigen Monaten machte ich mit meinem Freund Jörg einen seltsamen Waldspaziergang. Eine Frau überholte uns und bat uns um Hilfe, sie suchte einen Rucksack mitten im Wald. Viele Infos hatte sie nicht für uns, sondern rannte weiter in Richtung Dunkelheit. Wir hatten viele Fragen, etwa nach dem Aussehen des Rucksacks und wo wir ihn hinterlassen sollen, falls wir ihn finden, sahen aber nur noch ihre spurtende Silhouette in der Dämmerung. Wir haben sie nie wieder gesehen.
So kamen wir auf das Genre der unwirklichen Erlebnisse, der komischen Begegnungen und der magischen Momente. Jörg ist ein großer Kenner des Werks von Ludwig Tieck als solcher aber ziemlich allein. Nun hat er mit Roland Borgards einen Band vorgelegt, der in das Werk des großen Seelenkundlers, Romantikers und fantastischen Autors einführt. Er versammelt kurze, sehr beeindruckende Geschichten und bietet auch eine literarische und historische Interpretation. Es ist das fehlende Puzzlestück zwischen Romantik und Moderne und daher ein perfektes Geschenk, auch an Dich selbst.
Nach einem Tag im Zug oder am Schreibtisch brauche ich oft einen Abendspaziergang. Es handelt sich um eine oder zwei Runden um den Park oder im Wald, allerdings nicht in sportlicher, sondern in kontemplativer Absicht. Wenn das nicht klappt oder eben danach ist Kochen die beste Möglichkeit, wieder zu einem Menschen zu werden. Nigel Slater steht für so eine Küche, die nicht nach den Michelin-Sternen greift, sondern irdischen Trost spenden möchte. Ohne, dass man sich ruiniert oder Stunden am Herd verbringen muss.
https://www.theguardian.com/food/2023/sep/24/nigel-slaters-10-best-recipes-over-the-past-30-years-at-the-observer (Abre numa nova janela)Kopf hoch,
ihr
Nils Minkmar
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