Der Staatsbesuch
Während Sie diesen Newsletter lesen, sitze ich im Zug nach Berlin, um abends im Schloss Bellevue am Empfang für Emmanuel Macron teilzunehmen. Und weiß immer noch nicht, was es zu essen geben wird.
Am Tag nach der Brexit-Abstimmung hörte ich im Radio ein Interview mit dem ehemaligen französischen Außenminister Hubert Védrine, einem ausgesprochenen Realisten. Er wurde nach den Folgen der britischen Entscheidung gefragt und überraschte die Zuhörer mit seiner Prognose: Sie werden wieder eintreten. Er räumte ein, dass sich das jetzt vielleicht utopisch anhört und dass es noch lange dauern könne - aber so, wie die Welt sich entwickelt habe, sei ein einzelner Nationalstaat zu klein, um alleine klarzukommen. Ein bisschen gilt das auch für das deutsch-französische Verhältnis. Wenn man auf den Globus schaut, haben beide Länder keine guten anderen Optionen. Wären Italien und Spanien immer noch die Schwergewichte, die sie in der frühen Neuzeit waren, wären die beiden schönen Länder sicher die Wunschpartner Frankreichs in einem Europa der Eleganz und der späten Abendessen, aber so ist es nunmal nicht mehr. In Deutschland kenne ich viele anglophile Menschen, die sich ein inniges hanseatisch-britisches Bündnis wünschen würden, aber das beruht nun mal nicht auf Gegenseitigkeit.
Also Deutschland-Frankreich. Das Erstaunliche ist nicht, dass manches auf der Strecke bleibt, sondern dass überhaupt so viel erreicht wurde. Schon die Kommunikation ist zum Scheitern verurteilt: Das in Deutschland so beliebte Sagen, wie es ist, grenzt in Frankreich an Beleidigung. Umgekehrt ist die französische Kommunikation oft so kompliziert strukturiert, dass die meiste Zeit mit Entziffern der eigentlichen Absichten und Adressaten verbracht werden muss. Daran gemessen sind wir weit gekommen, dennoch bleibt es ein Wunder.
Der heute beginnende Staatsbesuch des französischen Präsidenten ist der erste seit dem Jahr 2000. Damals war Jacques Chirac noch Präsident – er war auch der letzte, dem zwei volle Amtszeiten vergönnt waren. Liest man die Rede, die er als erste ausländischer Gast im renovierten Reichstag gehalten hat, fällt der unerschütterliche Optimismus auf, mit dem er in die Welt blickte. Ganz falsch lag er nicht: Das vergangene Vierteljahrhundert war sowohl für Frankreich als auch für Deutschland das friedlichste und schönste der Geschichte, enorme Reichtümer entstanden. Technologisch und medizinisch wurden große Fortschritte gemacht. Wir stehen auch politisch-moralisch besser da: Ende des letzten Jahrhunderts wurde den Massakern in Bosnien, dem Völkermord in Ruanda von Paris und Bonn aus mehr oder minder tatenlos zugesehen. Das internationale Gewissen ist heute deutlich ausgeprägter. Die Gefahren, kein Zweifel, sind es auch.
Um ihnen zu begegnen, ist die unwahrscheinliche Nachbarschaft Freundschaft zwischen Deutschen und Franzosen das wichtigste Mittel. Aktuell steht die extreme Rechte in beiden Ländern wieder schwächer da, die Bevölkerung ist wach und neugierig und die Innovationskraft in beiden Ländern ist so hoch wie lange nicht mehr. Ich bin zuversichtlich: Die Jahre bis zum nächsten Staatsbesuch werden ebenso gut wie die letzten fünfundzwanzig, wenn nicht noch besser. Und das Essen ? Meine Frau sagt ohnehin, das sei nicht das Wichtigste an so einem Abend. Ich werde berichten.
Ein neues Format, um Europa kennenzulernen, bietet Arte in Form von Reise-Dokumentationen mit Jagoda Marinić. Eine der ersten Folgen führt nach Frankreich und da gerade mal nicht nach Paris, sondern ins ewig unruhige Okzitanien. Sie trifft Landwirte in Nöten, Künstlerinnen, Intellektuelle und Aktivisten. Es ist sehr aufschlussreich: Ein Trupp vermummter Protestler hat ein Foto des Präsidenten auf den Boden gelegt und als sie nach dem Grund danach gefragt werden, beschweren sie sich darüber, dass Macron ihnen nicht zuhört. Der König ist ein Schuft, es sei denn, er hört uns einmal zu - ein ganz altes Muster in Frankreich. Und die Wirtschaftswissenschaftlerin Geneviève Azam erinnert an die großen Reichtumsunterschiede in Frankreich, ein oft verkanntes Thema. Ich bin gespannt auf die anderen Folgen.
https://www.arte.tv/de/videos/119048-002-A/nice-to-meet-you-frankreich/ (Abre numa nova janela)Dieser Essay erinnert an eine vor lauter Vorsicht etwas vergessene Praxis, nämlich den Spott. In meiner Familie und unter Freunden wurde eigentlich die meiste Zeit nachgemacht, veralbert oder zum Besten gehalten. Es gab Spitznamen, Witze auf Kosten der Gäste und aberwitzige Behauptungen, alles, um durch Lachen Verbindungen zu stiften. Heute sind alle so korrekt, dass es etwas langweilig geworden ist.
https://www.theatlantic.com/books/archive/2024/05/david-shoemaker-wisecracks/678471/ (Abre numa nova janela)In der fünften Klasse des Gymnasiums besuchten wir eine Jugendherberge in Perl-Nennig, eine alte Burg. Es war eine schöne, wilde Woche. Heute ist in dem Gebäude ein Hotel mit einem der besten Restaurants Deutschlands. Der Chef dort ist Christian Bau, über den es einen neuen Film gibt. Er beginnt gleich mit einer Reise nach Paris, passt also zu unserem heutigen Thema:
https://www.sr-mediathek.de/index.php?seite=7&id=139095 (Abre numa nova janela)Kopf hoch,
ihr
Nils Minkmar
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