Kirche in Not: Wie "freie Werke" zum Retter werden könnten
Stell dir vor, die Kirche ist wie ein altes Schiff auf hoher See. Es hat schon einige Stürme überstanden, aber jetzt ist der Wind so heftig, dass es langsam leckschlägt. Darüber spricht Professorin Dr. Uta Pohl-Patalong aus Kiel – und sie hat ein paar spannende Ideen, wie das Schiff wieder auf Kurs kommen könnte. Ich hatte ja die „Kirchenreform-Bewegung (Abre numa nova janela)” in den letzten beiden Posts schon besprochen (und Ann-Kristin hier vertieft).
Pohl-Patalons Vortrag auf dem AMD-Kongress im Mai 2025 dreht sich darum, wie die Kirche, gerade in unserer modernen Zeit, ihre wichtigste Aufgabe – die „Gute Nachricht" (Evangelium) an die Leute zu bringen – überhaupt noch schaffen kann. Und dabei rückt sie besonders die dort versammelten „freien Werke" (also Dienste, Einrichtungen und Projekte, die nicht direkt zur klassischen Kirchengemeinde gehören) ins Rampenlicht. Die sieht sie nämlich als echte Vorreiter für die Zukunft. Hier mal die Audio-Version, dann der ausführlichere Text (und im Labor dann das ganze in Fachsprache) (Abre numa nova janela).

Kirche in der Krise: Rettung durch „freie Projekte”?
Die Kirche hat große Probleme: Immer weniger Mitglieder, finanzielle Sorgen und Skandale machen ihr zu schaffen. Diese Schwierigkeiten gab es schon immer, aber in den letzten 15 Jahren haben sie sich massiv verschärft. Dazu kommt jetzt noch ein neuer, großer Engpass: Es gibt viel zu wenig Pfarrpersonen und andere Hauptamtliche. Die Professorin Uta Pohl-Patalong aus Kiel sagt ganz klar: So wie es ist, kann es nicht weitergehen.
Die Leute treten heute nicht unbedingt aus Protest aus der Kirche aus, sondern weil sie die Kirche als nicht mehr wichtig oder glaubwürdig empfinden. Früher war es selbstverständlich, dazuzugehören – heute muss die Kirche zeigen, dass sie relevant ist.
Der eigentliche Auftrag der Kirche: Gottes Liebe erlebbar machen
Für Frau Pohl-Patalong ist die Hauptaufgabe der Kirche, die "Gute Nachricht" (Evangelium) weiterzugeben. Das bedeutet, Menschen sollen die grenzenlose Liebe Gottes erfahren können. Wenn die Kirche diesen Auftrag erfüllt, dann spüren die Menschen, wie der christliche Glaube ihr Leben bereichert, zum Beispiel durch Lebensvertrauen oder Unterstützung in schwierigen Zeiten.
Das Problem mit den Kirchengemeinden vor Ort
Die Kirche steckt die meiste Energie in die klassischen Kirchengemeinden (Pfarreien vor Ort). Aber das ist ein Problem:
Sie erreichen nur wenige: Nur ein kleiner Teil der Kirchenmitglieder fühlt sich von den Ortsgemeinden wirklich angesprochen.
Sie sind teuer: Diese Gemeinden sind sehr personalintensiv und teuer, da sie versuchen, alles gleichzeitig anzubieten und überall präsent zu sein.
Veraltetes Konzept: Das System der Ortsgemeinde stammt aus einer Zeit, in der die Kirche noch selbstverständlich war. Es passt nicht mehr zu unserer modernen Gesellschaft, in der jeder selbst entscheidet, was ihm wichtig ist.
Mit immer weniger Geld und Personal wird dieses System voraussichtlich zusammenbrechen.
Die Chance der „freien Projekte”
Hier kommen die „freien Werke”, Dienste und Einrichtungen ins Spiel – also kirchliche Projekte und Initiativen, die nicht direkt zur klassischen Ortsgemeinde gehören (z.B. Beratungsstellen, Jugendwerke, Bildungsangebote). Sie können der Kirche zeigen, wie es in Zukunft gehen könnte:
Bedarfsorientiert arbeiten: Sie fragen, was die Menschen brauchen, und starten dort, statt nur nach alten Strukturen zu gehen.
Sich spezialisieren: Sie konzentrieren sich auf bestimmte Aufgaben, statt alles gleichzeitig anbieten zu wollen.
Als Netzwerk agieren: Sie arbeiten oft schon in Netzwerken zusammen, was ein Zukunftsmodell für die ganze Kirche sein könnte.
Vielfältige Gemeinschaften: Sie ermöglichen unterschiedliche Arten, Gemeinschaft zu erleben, nicht nur im wöchentlichen Gottesdienst.
Niedrigschwellige Angebote: Sie machen es leicht, mit christlichen Inhalten in Kontakt zu kommen, ohne Vorkenntnisse vorauszusetzen.
Inhalte statt Personen: Bei ihnen stehen oft die Inhalte im Vordergrund, die überzeugen sollen, und nicht nur die eine Pfarrperson vor Ort.
Teamarbeit: Sie arbeiten oft mit Teams aus verschiedenen Berufsgruppen.
Attraktiv für Ehrenamtliche: Sie bieten konkrete, gut begleitete Aufgaben für Freiwillige.
Eine neue Zusammenarbeit: Gemeinsam die Zukunft gestalten
Wenn die Kirche diese Impulse der „freien Werke" aufgreifen würde, könnten die alten Trennungen zwischen Gemeinden und Werken verschwinden. Es ginge darum, gemeinsam neue Wege zu finden, um die Botschaft des Evangeliums in unserer heutigen Gesellschaft wirksam zu verbreiten. Die Energien, die sonst für Abgrenzung verbraucht werden, könnten dann für die eigentliche Arbeit genutzt werden.
Meine Gedanken dazu: Wo es hakt und wo es passt
Was mich besonders anspricht:
Der Fokus auf Inhalte statt nur auf Personen: Super gut ist die Idee, dass in den Werken zwar Menschen wichtig sind, aber nicht der einzige Ankerpunkt. Es geht um die Plausibilität und Relevanz der Inhalte selbst, und Beziehungen unterstützen das. Das ist viel sinnvoller, als wenn alles von einer einzigen Pfarrperson abhängt, die "das Gesicht vor Ort" sein muss. So können sich Inhalte auch ohne eine bestimmte Person verbreiten.
Aber jetzt kommt der Knackpunkt:
Die Definition des Evangeliums ist problematisch: Frau Pohl-Patalong versteht den Auftrag als "Kommunikation des Evangeliums": "möglichst vielen Menschen Begegnungschancen mit der unbedingten Liebe Gottes für sie selbst und für die gesamte Schöpfung zu eröffnen." Ist das wirklich das Evangelium? Wenn man sich anschaut, was das apokalyptische Evangelium in der Zeit Jesu oder später bei Paulus war, dann ging es eher um eine politische Botschaft eines Umsturzes. Damals war das Volk unter römischer Herrschaft, die Tora wurde nicht eingehalten, und Jesus sollte als "neuer Imperator" Gottes die Machtverhältnisse ändern. Es ging um eine Machtverschiebung.
Wie müsste man also das Evangelium heute formulieren? Wer könnte eine solche "politische Botschaft" für eine Gemeinschaft (das "Volk Gottes") verfassen?
Ist die Kirchenkrise eine Folge eines zu individualistischen Erlösungs-Konzept? Könnte es sein, dass die Kirche in der Krise steckt, weil sie das originale Evangelium falsch interpretiert oder es für unsere Generation nicht passend gemacht hat? Ist es zu sehr ein individualisiertes Evangelium (spirituelle Rettung des „sündigen Einzelnen" für den Himmel)? Oder selbst wenn es politischer formuliert wird, bleibt es dann nur eine Motivation für Einzelne, „Reich-Gottes-Taten" zu vollbringen ("Kingdom-Thing-Fokus")?
Welche „korporalen Strukturen einer solidarischen Widerstandsgruppe" müsste die Kirche heute verkörpern? Zum Beispiel für die berüchtigte „Klimakleber”-Widerstands-Bewegung, jetzt in „neue Generation" umbenannt, die sich im politischen Widerstand für die Gesellschaft der Zukunft engagiert?
Kirche als Antwort auf die Klimakatastrophe: Wie müsste eine Kirche als Organisation inhaltlich und ganzheitlich-spirituell auf die Klimakatastrophe reagieren?
Mit welchem "solidarisches Verhalten fördernden" Evangelium könnte sie das tun? Einem, das das Gute für heute verkündet, ohne unrealistische Hoffnungen ("Hopium") zu schüren?
Ist die Ekklesiologie (die Lehre von der Kirche) das Problem? Waren die paulinischen Gemeinden nicht gerade solidarische Überlebensinseln für die Opfer des Imperiums in einem untergehenden Römischen Reich? Eine Übergangslösung für ein kommendes "tausendjähriges Friedenszeitalter"?
Also, ein Evangelium, das in Wort und Erleben in apokalyptischen Zeiten wirklich Relevanz hat...
Diese Fragen gehen tiefer und zeigen, dass die Krise der Kirche vielleicht nicht nur eine Organisations-, sondern auch eine grundlegende Inhaltsfrage ist. Was denkst du? Sollten wir da noch weiterbohren?
Mit gekräuselter Stirn grüßt dich diesen Sonntag Helge