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Die „Barra“ und ich

Ein Rausch mitten aus dem Atlantischen Ozean

„Mama, und was war das schönste, das du heute erlebt hast?“, murmelt mein Mädchen in ihren Hasi hinein. „Aber das wird dich ein bisschen traurig machen“, erwidere ich leise. Seit wir regelmäßig auf die Insel fahren, vergeht kein Tag, an dem sie nicht in den Wellen surft. Wir haben ihr extra dafür zu Ostern einen Neoprenanzug geschenkt, damit sie nicht nach einer Stunde bibbernd das Meer verlassen muss. Jetzt hat sie Angst wegen einer Verletzung am Oberschenkel, die noch immer mitten im Heilungsprozess ist, wieder richtig in den Wellen zu toben. „Das macht nichts, ich kann mich mit dir freuen“, antwortet sie schlaftrunken und ist schon beinahe im Traumland. Ich beginne leise zu erzählen, wie sehr ich es genossen habe, zur „Barra“ zu schwimmen. Der zwei Kilometer lange Sandstrand von „Las Canteras“ in Las Palmas ist zur Hälfte von einer Art natürlichen Damm umgeben. Eine Barriere, die nicht nur als Wellenbrecher dient, sondern auch ein fantastisches Schnorchelrevier ist, um die Unterwasserwelt zu beobachten. Bei Flut verschwindet die „Barra“ nahezu komplett und bei Ebbe kann man vom Strand hinüber schwimmen und auf den Steinen des Dammes herumkraxeln. Und genau das habe ich heute getan.

Wie eine Badewanne liegt das Meer zwischen Strand und „Barra“ vor mir. Ganz ruhig und nur von kleinen Wellen durchkräuselt. Ich schwimme vorsichtig los, ich bin keine gute Schwimmerin und habe auch immer ein bisschen Angst im tiefen Wasser, aber der Ozean ist beinahe still und ich werde mutiger. So schlage ich kräftiger zu, berühre das Wasser, lasse mich von ihm tragen und gleite dahin. Es ist nicht weit, ich schwimme gemütlich (was anderes kann ich gar nicht) und brauche zehn Minuten. Dann fühle ich schon unter mir glitschige Steine und sehe bunte Fische: Durchsichtig und mit blauen und roten Streifen, schwarz und leuchtend, beinahe golden blitzen sie durch das Wasser nach oben. Hätte ich mal eine Taucherbrille dabei, aber die passte natürlich nicht ins Handgepäck (Abre numa nova janela).

Angekommen taste ich mich vorsichtig die Steine hoch, alles ist sehr glatt und ich habe Angst auszurutschen. Das würde wehtun und ich verdrehe mir bestimmt etwas, denke ich schon wieder ängstlich. Aber dann tappe ich auf die Steine und stehe plötzlich mitten im Meer. Vor mir der offene Atlantik und hinter mir die Skyline von Las Palmas. Die Bucht ist eine Art Halbkreis und obwohl der Anblick der Stadt mit einigen hässlichen Hochhäusern nicht so richtig schön ist, möchte ich ein bisschen weinen. Die Situation beglückt mich. Zwischen den meist bunten und niedrigen Häusern stehen Palmen, der Himmel ist in ein diesiges Blau gehüllt und der Wind weht mir warm entgegen. Meine Haare kräuseln sich und ein lauer Schauer durchläuft meinen Körper. Ich hocke mich ins seichte Wasser, das kühle Nass umspült meinen Popo und ich schließe die Augen. Als ich tief Luft hole und unter mich schaue, bekomme ich einen Schreck. Direkt vor mir taucht eine schwarze Gestalt auf. Gefolgt von noch weiteren Schnorchelnden in Neoprenanzügen (die Dinger verfolgen mich irgendwie (Abre numa nova janela)) grinsen sie mich an und zeigen auf die Steine um mich herum. Ich kriege gleich wieder einen Schreck, denn aus jeder noch so winzigen Ritze schauen mich kleine Krebsäuglein an. Als ich mich ruckhaft bewege, verschwinden sie in ihren Löchern und ich beschließe, sie in Ruhe zu lassen. Ich gleite zurück ins Meer und schwimme zum Strand. Der Rückweg dauert länger, die Strömung und die kommende Flut wollen mich bei sich halten.

Mir kommt ein Sub Board entgegen, darauf ein Pärchen mit einer kleinen Kühltasche und ich muss an die Worte von Kordula und Claude denken. Sie verbringen die Wintermonate auf der Insel und wohnen über uns. „Es gibt morgens immer mal wieder Leute, die bei Ebbe auf die „Barra“ paddeln und dort frühstücken“, erzählte Kordula, als wir sie in den Osterferien (Abre numa nova janela) kennenlernten. Der Gedanke gefällt mir. Aber die beiden haben das wohl noch nicht gemacht. Sie kommen aus Hamburg. Also Claude ist natürlich Franzose, klar, bei dem Namen. Er ist aus der Bretagne, aus einem Dorf wenige Kilometer nahe der belgischen Grenze. Genau genommen sei er ein echter Sch’ti, wie er selber lachend zugibt. Seit über zehn Jahren sind die beiden im Winter schon auf der Insel. Kordula hat die Wohnung von ihrem dänischen Papa geerbt, ihm sei der Kopenhagener Winter immer zu kalt gewesen, erzählte sie uns.

Kordula und unser Onkel Tio waren gute Freunde, sein Tod machte sie sehr traurig. Sie haben oft gemeinsam Weihnachten und Silvester hier gefeiert. Im Sommer, bevor er starb, besuchten sie und Claude ihn noch in Deutschland. Das war der Moment Rum (Abre numa nova janela) nachzuschenken. Alle vermissen die Leichtigkeit von Onkel Theodor. Claude knufft seine Frau in die Seite und bevor sie sich verabschieden, geben sie uns noch lachend den Hinweis, nie ohne Handy mit dem Aufzug zu fahren. Sie sind schon mehrmals stecken geblieben. Zwinkernd fügt Claude hinzu: „Welch Glück waren wir immer nur zu zweit und konnten die Zeit gut rumkriegen.“ Mein Kopfkino spielt gleich verrückt und ich trinke den Rum schnell aus. Apropos Rum: Wir haben uns die Rumfabrik in Arucas angeschaut und verkostet. „Muy rico“ und wirklich außergewöhnlich.

Über meinen Gedanken bin ich eingeschlafen, meine Hand liegt auf dem Gesicht meines Mädchens und ihr Atem streift meine Wange. Vorsichtig richte ich mich auf, genieße den Blick auf sie und tappe dann nach nebenan zu meinem Mann. Er schnauft friedlich, sein Buch liegt aufgeklappt auf seinem Bauch und die Nachtlampe scheint ihm hell ins Gesicht. Er lächelt im Schlaf. Als ich am nächsten Tag am Meer sitze und in die Wellen schaue, hüpft mein Kind gerade am Strand entlang und strahlt mich an. „Nächste Wochen schwimmen wir zusammen zur ‚Barra‘“, schreit sie mir entgegen und spritzt mich nass.

Bleibt im Moment und dabei leicht&lebendig,
Helen

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Die Illustrationen kommen Woche für Woche von der wunderbaren Sophie Schäfer. Danke!

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