Juni // Eve Ensler
Körper. Eigentlich seit Anfang an, der einzige Beweis für unsere Existenz. Ich spüre, dass ich mit diesem Wort eine große, riesige Diskussions- und persönliche Erfahrungsebene öffne, für die in diesem Newsletter nie genug Platz sein wird.
Körper. Körperchen. Körperschaft. Materie. Persönlicher Raum. Politischer Raum. Ende. Anfang. Vergnügen und Schmerz. Heiliges und Profanes. Alles und nichts. Lebendig und tot. Gesund und krank. Jedem ein Körper, jedem sein eigener und nie gleich. Ort der Ungerechtigkeit, Ort des Feierns. Ausdrucksmittel. Verbalisierung. Empfangen und Geben. Was ich auch schreibe, es wird immer zu wenig und zu wenig sein. Zu wenig über diesen einen Körper, über diese individuelle Erfahrung. Über deinen Körper, über deine damit verbundene Geschichte.
Beim Schreiben dieses Juni-Newsletters dachte ich mehrmals, dass dieser vielleicht der schwierigste bisher sein wird. Ich habe oft betont, dass ich mich seit Jahren mit Porträts beschäftige und das Gesicht als eines der wichtigsten und intimsten Körperteile betrachte. Aber als ich das schrieb, hatte ich nicht nur die Vielfalt der auf dem Gesicht ausgedrückten Emotionen im Sinn, sondern auch, dass das Gesicht ausdrückt, was dem Körper widerfahren ist.
Eine Freundin mag es zu sagen: Der Körper hat immer Recht. Habt ihr bemerkt, wie oft wir anstelle von Emotionen tatsächlich Symptome beschreiben und die Emotionen selbst umgehen? Wir sagen: Ich fühle mich dick, aber wir fühlen Schwere, wir sagen: Ich fühle mich alt, aber es geht um Müdigkeit, Frustration oder Angst. Manchmal…
Das Buch "The Good Body" (Abre numa nova janela)von Eve Ensler habe ich während meines Studiums in einem kleinen Buchladen entdeckt, lange bevor ich ihre berühmten „Vagina-Monologe“ kennengelernt habe und kurz nachdem ich das Wort Feminismus entdeckt und angefangen habe, es zu vertiefen. Vermutlich wissen nur wenige Leute von der Existenz des Werks, denn der Erfolg der „V-Monologe“ hat dieses kleine, aber sehr wichtige Buch in den Schatten gestellt. Für mich, damals 20 Jahre alt, war dieses Buch eine erschütternde Erfahrung. Und sehr eröffnend. Schon selbst der Titel "The Good Body" versprach eine Reise, die etwas in mir auslöste.
In diesem Buch setzt sich Eve mit ihrem Hass auf ihren eigenen Bauch auseinander und verfolgt den Kreuzzug von Frauen auf der ganzen Welt, die um und mit ihren eigenen Körper kämpfen. Eve reist durch Asien, Nord- und Südamerika und Europa, um die Geschichten von Frauen in verschiedenen kulturellen Kontexten zu hören. Um ihre Geschichten über gehasste, entstellte, besetzte, operierte, veränderte, verhungerte und trainierte Körper zu hören, sowohl freie als auch unterworfene, aber auch diejenigen, die Respekt, Vergnügen, Rührung oder Leidenschaft hervorrufen. Körper, die nur Körper sein möchten, aber Ethik, Politik und Ästhetik sind. Körper, die reine Ausdrücke sein möchten, aber zur Unterdrückung wurden. Körper, die individuell sein möchten, aber aufgrund von Mangel an Wahl, Zwang oder Angst öffentlich werden. Und schließlich Körper, die mehr über uns erzählen, als wir aushalten können. Aus jeder dieser bewegenden oder lustigen Geschichten strömt eine bestimmte Emotion, ein symptomatischer Mangel, ein primärer Hunger, den wir alle gut kennen...
In "The Good Body" sind die Erzählerinnen Frauen, aber ich frage mich selbst, worüber der männliche Körper wohl sprechen würde, wenn Eve ihm in diesem Buch auch eine Stimme geben würde...Das Buch wird durch die Geschichte von Eves Körper eröffnet und endet mit der berührenden Szene des verbotenen Vergnügens afghanischer Frauen beim Essen von Vanilleeis:
“Die süße Vanille löst sich illegal in mir auf. Ich esse Eis für die Frauen in Kabul, Kandahar und Mazar-i-Sharif. Ich esse für Bernice, für ihren Körper außerhalb des Gesetzes, für Bernice, die im Pool planschte und im Mondlicht riesige Wellen machte. Ich esse für sie. Ich esse für Priya, auf dem Laufband im Sunrise Fitnessstudio, die ihren Jadhi liebt, der ihrem Sari ausfüllt. Ich esse für meine Übersetzerin aus Moskau, die sagte, dass Cellulite antikommunistisch ist. Ich esse für Helen Gurley Brown, damit sie sich erlauben kann zu leben. Ich esse für Nina und ihre verlorenen Brüste. Ich esse mit Sunita - dort hinten in einem afghanischen Restaurant. Ich nehme es in meinen Mund, schlucke, um Vergnügen zu empfinden, um die Zukunft am Leben zu erhalten. Ich esse für sie alle. Ich esse für meine Mutter. Ich esse für mich selbst. [...] Erlaube mir langsam, meine Rundungen nicht zu fürchten. Erlaube mir langsam, nicht zu fürchten gesehen zu werden. Vielleicht besteht Perfektion nicht darin etwas loszuwerden. Vielleicht hat Perfektion etwas mit Chaos zu tun. [...] Unser Körper ist unser Zuhause. Die einzige Stadt. Das einzige Dorf. Das einzige, was wir jemals kennen werden. Unser Körper trägt die Geschichten der Welt, der Erde und unserer Mutter in sich. [...] Wir sind Frauen. Zu viel ist in uns. Wir sind zu leer. Wir sind ausgefüllt. Wir leben in guten Körpern. Guter Körper. Guter Körper. Guter Körper.”
Übersetzter Auszug aus dem Buch: “The Good Body”, New York, Villard, 2004
Körper. Ich schreibe diesen Newsletter am Fluss, tippe mit meinen Fingern auf der Tastatur, höre etwas, sehe etwas, erlebe etwas, bei dieser Tätigkeit ist mein ganzer Körper, alle meine Sinne involviert. Da ich fast immer alleine am Fluss bin, habe ich die Möglichkeit, meinen nackten Körper zu erleben, der fühlt, der sich erlaubt Vergnügen zu empfinden: ich spüre die Wärme der Sonne, das leichte Zwicken zu aggressiven Sonnenstrahlen auf meinen Schultern und, dass es schmerzt… Ich stehe auf, um eine Pause vom Schreiben zu machen und strecke meine Arme weit aus. Die alte Kaiserschnittnarbe zieht und macht sich bemerkbar. Der Flusswind trocknet meinen Schweiß, wirbelt Strähnen grauer Haare durcheinander. Milliarden feiner Härchen auf meiner Haut wiegen sich gerade mit dem Wind und lassen mich deren Richtung spüren. Die Ameiseninvasion behandelt mich wie einen Baumstamm, den man erklimmen muss… Gegenseitiges Rufen der Frösche, ein angenehmes Gurgeln im Hals, bei dem ich Gänsehaut kriege... Ich bin im Körper und durch den Körper ausgedrückt, aber gleichzeitig bin ich nicht er. Ich bin, was ich damit mache, ich bin, wie ich damit in Kontakt trete und was ich beschreibe. Wie oft ich es nicht bin… Mein Körper ist meine Geschichte, wir sind gegenseitig ineinander eingeschrieben. Wir erzählen uns. Wir widersprechen uns. Erst seit kurzem beginne ich zu verstehen, worum es mit dem Körper geht und komme zu dem Schluss, dass wenn jeder von uns einfach damit beginnen würde, zu beschreiben, was er fühlt, in Kontakt mit seiner einzigartigen Körperlichkeit tritt, jede Beschreibung wäre Poesie, Prosa oder ein Essay.