»Die Fahrt vor die Hunde«
Ich habe mir ein Upgrade für die 1. Klasse gegönnt und sitze in einem Vierer mit Tisch. Am Fenster sitzt sich ein älteres Ehepaar gegenüber. Ich vermute Rentner. Sie liest, er trinkt Bier. Ich sitze am Gang. Der zweite Platz gegenüber ist noch frei. Links von uns, auf einem Einzelsitz, eine junge Frau, die ihren großen Koffer anscheinend allzeit bei sich haben möchte. Dass sich alle Menschen, die an uns vorbei wollen, an ihrem Koffer vorbeizwängen müssen, stört sie nicht. Aber egal.
Nach zwei ruhigen Stunden steigt ein Mann in meinem Alter zu. Er kommt an unseren Vierer, zeigt auf den Rentner am Fenster und sagt vier Worte. Vier wenig höfliche Worte: „Das ist mein Platz“. Der ältere Herr wirkt überrascht, beginnt aber sogleich, sich bereitwillig aus seinem Sitz zu schälen. Der Mann in meinem Alter schaut ungeduldig dabei zu. Es ist eng auf den Fensterplätzen. Das ist offensichtlich. Ich traue mich und frage den Zugestiegenen, ob er nicht lieber am Gang sitzen möchte. „Mehr Beinfreiheit“, sage ich. Nein, er habe reserviert. „Wir haben alle reserviert“, rutscht es mir heraus. Aber sofort erspäht er meinen Upgrade-Zettel und sagt: „Sie nicht.“ Damit habe ich mein Rederecht anscheinend verwirkt.
Der Rentner gibt den Weg zum Fenstersitz frei. Der Zugestiegene stopft erst Jacke, dann seinen massigen Rucksack in die Gepäckablage und zwängt sich auf den Fensterplatz. Er ist, wie ich, nicht mehr ganz bauchfrei. Aber sein Ächzen wirkt trotzdem überzogen. An wen diese Form der respiratorischen Wehklage gerichtet sein soll, wird nicht so richtig klar. Als er sich niederlässt, sagt er noch in die Runde: „Ich will nur nicht, dass jemand Neues kommt und dann ist Chaos“. Dieser Satz. „Ich will nur nicht, dass jemand Neues kommt und dann ist Chaos.“ Dass weder die Reservierungsanzeige, noch unser Fahrtverlauf, also der Fahrplan dieses Zuges, einen weiteren Zwischenhalt beweisen, dass sicher niemand mehr zusteigen wird, verkneife ich mir. Niemand hier hat Lust auf eine Diskussion.
Schnell kehrt wieder Ruhe ein. Dann aber, nach 20 Minuten, passiert etwas. Völlig unvermittelt fällt der Rucksack des Zugestiegenen aus der Gepäckablage. Mit Wucht auf den Kopf des Rentners, dann donnernd auf den Tisch. Das Bier kippt um. Reste spritzen über den Tisch, mich, den Gang, sogar bis rüber an den Koffer der jungen Frau. Nach einer Schrecksekunde packt der Zugestiegene beherzt nach seinem Rucksack, erhebt sich und stopft ihn stöhnend zurück in die Gepäckablage. Nichts weiter. Der Rentner richtet seine Brille, seine Frau liest weiter. Nur die junge Frau wischt über ihren Schalenkoffer. „Ist das Bier?“, fragt sie entrüstet. Der Rentner nickt. „Oh Mann!“, nölt sie.
Fünf Anstandssekunden warte ich, dann wieder fünf, um dem Zugestiegenen noch etwas Zeit zu geben. Zeit um Anstand oder Erziehung oder Menschlichkeit zu zeigen. Aber nichts passiert. Gar nichts. „Ist bei Ihnen alles in Ordnung?“, frage ich den Rentner. „Ja“, sagt er, ohne aufzuschauen. Das war’s. Wirklich: Das war’s. Der Kopf des Rentners, der kiloschwere Rucksack, der bierbespritzte Tisch, alles egal. Nach einer letzten stillen Stunde erreichen wir das Ziel und gehen unserer Wege.
Diese Anekdote hat sich vor zwei Wochen zugetragen. Es ist keine aufregende Anekdote. Ich bin so viel in deutschen Zügen unterwegs, dass ich sowas quasi ständig erlebe. In allen Abstufungen. Nach unten, wie nach oben hin. Aber gerade diese Geschichte will mir nicht mehr aus dem Kopf gehen. Weil sie so exemplarisch ist. Weil sie in sonderbarer Kürze deutlich macht, was mit uns nicht stimmt: Dass das, was uns irgendwo auf diesem Weg an Umsicht abhanden gekommen ist, an Güte, an Demut, an Nachsicht, an Gewissenhaftigkeit, an vorausschauender Cleverness, an Sorge und Einfühlsamkeit für unseren Nächsten, dass all das nur aufgewogen wird, nur noch gefüllt, durch eines: Egoismus. Nicht böswilligen Egoismus. Sondern dummen. Jeder ist sich selbst der Nächste. Jeder fühlt und denkt und glaubt und handelt nur so weit, wie er selbst gerade greifen kann. Keinen Millimeter weiter. Wie bitte soll diese fürchterliche Spezies noch zu retten sein?
Herzlich willkommen zur dritten Ausgabe von »Feine Auslese«.
#1 / Ich glaube ja noch immer …
… dass der Versuch, die Nebelkrähen aus der Nachbarschaft zu konditionieren irgendwie schief gelaufen ist. 'Erdnüsse' stand im Internet. Mit Schale! Unbedingt mit Schale! Diese Berliner Nebelkrähen geben einen Fick auf meine ungeschälten Erdnüsse. Seit Tagen liegt das gleiche Dutzend Erdnüsse verloren auf meiner Balkonbrüstung. Bei den ganzen Fleischflocken, die hier im Kiez aus irgendwelchen Dönertaschen fallen, hab ich mit meinen Nüssen keine Chance. Samstag habe ich kapituliert. Jetzt fresse ich die Erdnüsse. Zieht sich ganz schön, so eine Zwei-Kilo-Tüte. Zwei Kilo! Da hab ich noch geglaubt, ich und die Nebelkrähen, wir würden richtig dicke. Walnüsse gehen. Geschälte Walnüsse. Wenn ich die auslege, dann kommen sie. Dann hockt sich eine Krähe auf die Gaslaterne gegenüber, kräht und ich eile von der Küche zum Balkon, um eine kleine Menge Walnussbruch auszulegen. Endlich, jetzt endlich hab’ ich sie so weit.
#2 / Toujours la tristesse
Kleinkunstabend in Lutherstadt Eisleben. Die Rezeption im Landgasthof Holzaue ist nur bis 14.00 Uhr besetzt. Ich finde meinen Zimmerschlüssel im Blumenkasten neben der Garage. Dass mein Zimmerschlüssel im Blumenkasten neben der Garage liegt, das weiß ich, weil am Eingang zur Rezeption ein handschriftlicher Zettel klebt mit der Aufschrift »Zimmerschlüssel für Bukowski: Blumenkübel neben der Garage«.
#3 / Eine unangenehme Wahrheit
Stell' mir die unangenehmste Frage, die dir in den Sinn kommt. Aber nur, wenn du dich traust, sie auch selber in diesem Newsletter zu beantworten. Jeden Monat eine Frage. Jeden Monat zwei Antworten. Deine und meine! Schick deine Frage und deine Antwort einfach an feineauslese@paulbokowski.de (Abre numa nova janela)
Josias fragt: »Was ist die schlimmste Sache, die du leider geil findest?«
Paul / »Seid gewarnt: Jetzt wird es nasty! Mein guilty pleasure ist eine sehr zweifelhafte Familientradition. Sonntags versammelt sich die Sippe Bokowski vor ihren jeweiligen Fernsehern, um räumlich verstreut, aber im Geiste vereint, die neueste Folge „Bitte melde dich“ zu gucken. Oder das RTL-Pendant „Vermisst“. Ein vermutlich komplett geskriptetes TV-Format, in dem zwei emotional aufdringliche Moderatorinnen verschollene Familienmitglieder zusammenführen. Wir telefonieren dabei, fachsimpeln und ergötzen uns über die aktuelle Sendung. Manchmal gönnen wir uns sogar eine Zoomkonferenz. Dabei sind Vater und ich immer die ersten, die anfangen zu heulen.«
Josias / »Den „Joghurt mit der Ecke“ von Müllermilch. Noch dazu den Allerschlimmsten aus dem fragwürdigen Sortiment: Ahoj Brause! Ich weiß, weder sollte ich diesen Hersteller gutheißen, noch wird das chemiegrüne Gärprodukt meiner Gesundheit in irgendeiner Weise zuträglich sein. Aber wenn die brausegefüllten Schokoperlen meinen Mund mit tausend kleinen Explosionen durchkitzeln, dann kann ich mir kaum ein erquickenderes Gefühl vorstellen. Ganz egal ob Herstellerabsicht oder doch nur neurologische Nebenwirkung: Leider geil.«
Josias ist einer meiner liebsten Berliner Brillenträger und ein ziemlich guter Musiker. Hört mal rein unter josiasender.de (Abre numa nova janela) - Danke Josias!
#4 / Feine Ablese
Angelesen: Wie ich einmal lebte (Abre numa nova janela) von Ahne
Wenn man den Autor heimlich seit 15 Jahren vergöttert, ist schwer zu sagen, ob das Buch wirklich so viel taugt, wie man gerade denkt, oder ob die Netzhaut nur den langen Umweg durch das Herz zum Hirn genommen hat. Wer aber Lust auf einen bewegenden, schnörkellosen DDR-Roman hat, auf viel spröden Witz und kluge Reflexion, bauernschlau und herzlich, der ist bei Ahne goldrichtig.
Ausgelesen: Was man von hier aus sehen kann (Abre numa nova janela) von Mariana Leky
Ich sag’, wie’s ist: War mir zu quirky. Ist ein bisschen ein Arschlochargument. Also anders: Ich wäre froh, wenn ich so schreiben könnte, wie Mariana Leky. Und ich wäre froh, wenn ich nie den Trailer zur Verfilmung gesehen hätte. Diese Mische aus Amelié und Wes Anderson bin ich nicht mehr losgeworden. Selber schuld. Aber: Ich habe mir am Samstag »Kummer aller Art« bestellt. Und ich sag’, wie’s wird: ganz groß.
Abgelesen: Furiously Happy (Abre numa nova janela) von Jenny Lawson
Jenny Lawson. Kennt hier drüben keiner. Amerikanische Autorin. Ihr Erstling (Abre numa nova janela) gehört zu den lustigsten Büchern, das ich je gelesen habe. Ist in Deutschland leider in die falschen Übersetzerhände gefallen. Schon im Titel haben sie’s versaut. In der englischen Originalausgabe ist mir das passiert, was Leute immer über meine Bücher sagen: Laut gelacht. »Furiously Happy« ist ärgerlicherweise das Gleiche in Grün. Was bekanntlich nur Édouard Louis erfolgreich hinbekommt.
#5 / Wenn der Berg nicht zum Paul kommt
08.04. / WIESBADEN / Humorlesung
15.04. / ERLANGEN / Humorlesung
19.04. / BERLIN / Lesebühne Fuchs&Söhne
26.04. / KÖLN / Humorlesung
27.04. / WUPPERTAL / Humorlesung
30.04. / DREDSEN / Humorlesung
04.05. / OSNABRÜCK / Humorlesung
Alle Termine, alle Infos unter: paulbokowski.de (Abre numa nova janela)
#6 / Das letzte von der Rolle
Sitze sind blau,
Polen ist schön.
Trotzdem kurz hinter Breslau eine verstörend explizite Autobahnwerbung gegen Abtreibung gesehen.
#7 / Feiaahmnt.
Wer hätte gedacht, dass Newsletterschreiben so viel Laune macht. Hoffe, dass sich die leidenschaftlichen Stunden an der einen oder anderen Stelle transportiert haben. Alle bisherigen Newsletter findet ihr hier (Abre numa nova janela). Wenn ihr die Arbeit an diesem Newsletter supporten wollt, sehr gerne! Und jetzt: Prosit.
#8 / Nachklang
🔊 🔊 🔊 Dekker mit »This Here Island« 🔊 🔊 🔊
https://open.spotify.com/track/3eeUu1HT2I2cVKjRLklLUh?si=31824a2d879e4a36 (Abre numa nova janela)