Rezepte gegen Einsamkeit
Nachbarschaftsrestaurant in Amsterdam
Während der Corona-Lockdowns fanden sich Menschen plötzlich allein in ihren Wohnungen wieder und wurden vielleicht zum ersten Mal mit dem Gefühl von Einsamkeit konfrontiert. Aber viele kennen das nicht erst seit der Pandemie – vor allem Ältere sind betroffen. Darum gibt es in Amsterdam die Organisation „Resto van Harte“, die über das Abendessen Menschen zusammenführen will.
Von Sarah Tekath, Amsterdam
Gläser und Besteck sind schon ordentlich auf dem Tisch platziert. Ein junger Mann stellt Vasen mit Wildblumen dazu. Die Besucher*innen kommen nach und nach in das bürgerliche Gemeindezentrum. Sanne Doedens schiebt einen Servierwagen zwischen den langen Tischreihen hindurch. Sie beaufsichtigt alles, denn in einer knappen halben Stunde wird hier wieder ein Abendessen serviert. Dabei geht es um mehr als Essen – es geht um den Kampf gegen Einsamkeit.
Seit fünf Jahren ist die 58-jährige Doedens Managerin dieses Standorts in Amsterdam-Noord und koordiniert alles vom Einkauf über die Menü-Planung bis hin zu den Freiwilligen, die beim Auftragen der Gerichte unterstützen. Dabei handelt es sich häufig um Personen mit Behinderung, denn Inklusion ist der Organisation wichtig. An diesem Abend helfen ein junger Mann mit Autismus und zwei junge Frauen mit Down-Syndrom.
Auch bei der Planung der Menüs will die Organisation „Resto van Harte“ nachhaltig sein. „Ich kaufe häufig von lokalen Küchengärten hier in Noord. Uns ist es wichtig, dass wir alle Produkte auch verbrauchen und nichts wegwerfen müssen. Wenn etwas übrigbleibt, geben wir es den Besuchern mit nach Hause.“ Das Team ist bereit, die Servierwagen vor sich. Doedens stellt sich in die Mitte des Saals, bittet kurz um Ruhe, begrüßt alle Besucher*innen und erklärt dann das Dinner für eröffnet.
Restaurant des Herzens
Bei „Resto van Harte (Abre numa nova janela)“, zu Deutsch „Restaurant des Herzens“, geht es darum, bezahlbare Speisen mit Geselligkeit zu verbinden. An mehr als 50 Standorten in den Niederlanden gibt es diese Nachbarschaftsrestaurants. In Amsterdam sind es aktuell fünf. In verschiedenen Stadtteilen werden normalerweise wöchentlich feste Termine angeboten, wofür online ein Platz reserviert werden kann.
An anderen Wochentagen werden die Räumlichkeiten dann von anderen Gruppen für deren Aktivitäten genutzt. Meist werden einzelne Tische zu einer großen Tafel zusammengeschoben, an der die Menschen zusammensitzen und neue Bekanntschaften schließen können. Einlass in den Gemeindesaal ist knapp eine halbe Stunde, bevor das Essen beginnt, sodass auch noch Zeit für Geselligkeit bleibt, während in der Küche gekocht wird.
Renske Westerhof von der Presseabteilung erklärt: „Hier können sich Menschen jeden Alters treffen, neue Kontakte knüpfen und ein bezahlbares Abendessen zusammen genießen.“ Normalerweise werden in den Restaurants drei Gänge für einen durchschnittlichen Preis von sieben Euro serviert. „Unser Gründer Fred Beekers hatte die Idee für Resto van Harte, als er als Taxifahrer ältere Menschen abends nach Hause fuhr“, so Westerhof. Dabei fiel ihm auf, dass sie gerade zum Abendessen allein waren. Das Konzept besteht nun schon mehr als 15 Jahre.
Gegen die Wegwerfkultur
Zwei der Besucherinnen, die regelmäßig hier essen, sind Marrie Voogt und Corrie Freen. Für sie ist die Liste der Vorteile lang. Sie können Geld sparen, denn Freen hat einen sogenannten „Stadspass“, also eine jährliche Abo-Karte, die in Amsterdam für Vergünstigungen sorgt. Damit zahlt sie nur zwei Euro für das Drei-Gänge-Menü und kann eine weitere Person kostenlos mitnehmen. „Für mich lohnt es sich nicht, große Mengen einzukaufen, denn ich lebe alleine und würde zu viel wegwerfen.“„Außerdem sind wir beide zu faul, um zu kochen und abzuspülen“, ergänzt Voogt lachend.
Sie habe mal versucht, sich selbst Abendessen zu machen, aber allein vor dem Fernseher im Sessel habe es ihr einfach nicht geschmeckt. Die beiden Frauen sind Freundinnen, kennengelernt haben sie sich vor fünf Jahren, als eine die andere im Bus einfach ansprach. Seitdem sind sie in Kontakt geblieben und unternehmen vieles zusammen. Beide sind verwitwet und leben allein. „Wir sind aber nicht die Typen dafür, allein hinter der Gardine zu hocken und die Welt nur anzuschauen. Wir wollen noch was erleben. Wir sind ja erst 81 und 80, aber wir gehen locker für 65 durch.“
Die Zurückgezogenheit von Menschen im hohen Alter kennen die beiden aber aus ihrem Umfeld. „Eine Bekannte sitzt eigentlich nur noch zu Hause. Sie geht nie raus und hat auch keine Freunde mehr. Ich habe sie ein paar Mal eingeladen, aber sie will einfach nicht“, so Freen. Mit anderen Teilnehmer*innen der Abendessen hätten sich schon gemeinsame Aktivitäten wie Bootsfahrten und Ausflüge ergeben. Eine Frau, die ebenfalls häufig zum Essen kommt, aber oft alleine gesessen habe, hätten sie, wie sie sagen, unter ihre Fittiche genommen und würden sie nun öfter zu sich nach Hause einladen.
Außerdem schätzen Voogt und Freen die Abwechslung im Speiseplan. „Es ist immer wie eine Überraschung. Wir wissen nie, was es zu essen geben wird und lernen so auch neue Gerichte kennen. Das Rot-Weiße letztens war richtig gut“, erklärt Voogt. „Pannacotta“, grinst Doedens.
Tabuthema Einsamkeit
Das Projekt finanziert sich unter anderem durch Partnerschaften mit Unternehmen wie der großen niederländischen Supermarktkette „Albert Heijn“ oder „Chaudfontaine“, der Mineralwassermarke von Coca-Cola. Trotzdem würden diese plus die Beiträge der Gäste nicht ausreichen, um die Kosten zu decken. So müssen regelmäßig Fonds von der Regierung angefragt werden, die häufig bewilligt werden.
„Wir wollen Niederlande schaffen, in denen niemand einsam ist“, so Pressesprecherin Westerhof. Doch das sei nicht einfach, denn Einsamkeit oder allein darüber zu sprechen sei ein Tabu. Die meisten Menschen wollten lieber nicht zugeben, dass sie einsam sind. Darum werde diese Formulierung bei den Einladungen für die Abendessen von „Resto van Harte“ auch nicht verwendet. „Bei uns stehen die Geselligkeit und das Beisammensein im Vordergrund.“
Auch Sanne Doedens will lieber nicht von einsamen Menschen sprechen, sondern von Menschen mit einsamen Gefühlen. Das klinge positiver, findet sie. Ihr Angebot verbreitet die Organisation über Social Media, lokale Medien, Newsletter und natürlich Mund-zu-Mund-Propaganda. Auch wenn die Abendessen vor allem ältere Menschen anziehen, sei doch jeder willkommen, so Westerhof.
Gesellschaftliches Problem
Denn Einsamkeit ist in den Niederlanden kein Problem, das nur ältere Menschen betrifft. Rund ein Viertel der Niederländer*innen – etwa 26 Prozent – ab 15 Jahre fühlten sich 2019 einsam. Neun Prozent gaben sogar an, sich sehr einsam zu fühlen. Das zeigte eine Untersuchung (Abre numa nova janela) des niederländischen Statistikamts. Trotzdem trat das Gefühl häufiger bei Personen ab 75 Jahre auf, nämlich bei 33 Prozent – also jeder dritten Person in dieser Altersgruppe.
Ausschlaggebende Faktoren sind dabei häufig der Tod von Partner*innen, Verwandten und Freund*innen, aber gleichzeitig auch eingeschränkte Mobilität, etwas durch Krankheit, ebenso der Rückgang von kognitiven und sensorischen Fähigkeiten. Auch die finanziellen Möglichkeiten spielen eine Rolle: So sind Menschen mit einem ehemals hohen Einkommen und entsprechend hoher Rente seltener einsam als Menschen mit vormals niedrigem Einkommen, so die Angaben auf der Webseite (Abre numa nova janela) der Kampagne „Vereint gegen Einsamkeit“ vom niederländischen Ministerium für Gesundheit, Wohlsein und Sport.
Gründe sieht Westerhof vor allem in der sinkenden Anzahl von Senior*innenheimen. „Menschen leben länger in ihrer eigenen Wohnung und dadurch steigt das Risiko der Einsamkeit“, erklärt sie. Viele der älteren Gäste hätten ihr erzählt, dass der Partner und viele Freunde verstorben seien, wodurch das soziale Umfeld viel kleiner geworden sei. Gerade beim Abendessen fühlten sie sich dann einsam. Dies ist mit der niederländischen Essenskultur zu erklären, denn anders als in Deutschland wird in den Niederlanden mittags meist nur eine Kleinigkeit – oft auch einfach Brot – gegessen. Die große, warme Mahlzeit wird dann am Abend mit der ganzen Familie oder im Freundeskreis eingenommen.
Omas Rezepte für Themenabende
Aber die älteren Teilnehmenden sind nicht nur als Gäste gern gesehen, sondern können auch ihr Wissen in der Küche weitergeben. „Wir haben oft Themenabende“, so Renske Westerhof, „dabei können zum Beispiel ältere Menschen aus Surinam, der Türkei oder Marokko zusammen mit Freiwilligen ihre Rezepte für die ganze Gruppe kochen.“ Zudem gäbe es auch Veranstaltungen, bei denen Kinder zusammen mit älteren Menschen Mahlzeiten zubereiteten.
Seit 2021 gibt es Koch-Workshops in Kooperation mit der Organisation „Alzheimer Nederland“, bei der vor allem Menschen mit Demenz einbezogen werden. Die Gruppe kocht gemeinsam bekannte Gerichte und kann beim anschließenden Abendessen neue Kontakte knüpfen mit Menschen mit der gleichen Diagnose. Aber „Resto van Harte“ will auch konkret eine jüngere Zielgruppe ansprechen. „Anfang Oktober wollen wir ein Pop-up-Restaurant im Zentrum von Amsterdam organisieren – speziell für junge Menschen. Wir wollen sehen, wie das angenommen wird. Aber ich bin schon jetzt sicher, dass auch da Bedarf besteht“, erklärt Doedens. Denn ihrer Überzeugung nach gehen Liebe und Freundschaft am Ende in jedem Alter durch den Magen.