Die Lustlehrerin
Orgasmusworkshops auf Chinesisch
Tausende Frauen zum Orgasmus gebracht zu haben – das können nicht viele von sich sagen. Sung Shi-ye macht es beruflich. Die Sexualberaterin gibt Lustworkshops für Frauen in China und Taiwan und berührt dabei Themen weit über den Sex hinaus.
Von Carina Rother, Taipei
„Positionen, die wirklich den G-Punkt aktivieren“ lautet eine Überschrift, „Frauen, die endlich zum Höhepunkt gekommen sind, erzählen, wie sie die Blockaden überwinden“, eine andere. Es sind keine Sex-Tipps aus einer amerikanischen Frauenzeitschrift, sondern chinesischsprachige Blog-Einträge der Sexualberaterin Sung Shi-ye*. Sie richtet sich damit an Frauen in China, denen der Zugang zu sexueller Aufklärung oft verwehrt bleibt. Ihnen will sie zeigen, wie sie den eigenen Körper lustvoll erleben können.
Dazu bietet Sung Workshops an, die ihren Schülerinnen zum Orgasmus verhelfen oder ihn besser machen sollen. Es ist Sungs chaotischer Wohnung im fünften Stock eines Appartementblocks in Taipei, Taiwan, nicht anzusehen, dass von hier aus jede Woche dutzende Chinesinnen die eigene Lust kennenlernen – online, an ihren Computern zu Hause in Shenzhen oder Shanghai.
Mehr als 2.000 Frauen hat Sung Shi-ye erreicht, seit sie vor fünf Jahren ihr Workshop-Programm entwickelte. Ihre Arbeit wird in China gebraucht, sagt die Taiwanerin, weil die Frauen dort wenig über Sex erfahren – weder online noch offline: „Die meisten haben noch nie einen Porno gesehen und sprechen von ihrem ersten Mal als pochu – „durchbrechen“. Pochu ist ein sehr hässliches Wort, es beschreibt das Durchstoßen des Jungfernhäutchens. Sie wussten vorher nicht, was auf sie zukommt. Sie hatten Angst, dass es weh tut.“
Freiheit versus Kontrolle auch in der Sexualität
Taiwan und China sind Nachbarländer und durch die gemeinsame Sprache verbunden. Aber ihre Gesellschaften könnten unterschiedlicher nicht sein: Chinas Diktatur geht mit einer strengen Internetzensur einher; Sexualaufklärung in Schulen ist rudimentär und Geschlechterrollen werden von ganz oben vorgegeben. Unverheiratete Frauen über 30 sind verpönt.
Nach Jahrzehnten der strengen Geburtenkontrolle sind staatstreue Familien seit Neuestem dazu aufgerufen, drei Kinder zu bekommen. Zuletzt erließ die kommunistische Partei sogar eine Vorschrift gegen „effeminierte“ Männlichkeit in der Popkultur. Das hat unter anderem zur Folge, dass einige südkoreanische Boybands nicht mehr im chinesischen Fernsehen auftreten dürfen.
Dass Taiwan das genaue Gegenprogramm bietet, hat Sung Shi-ye selbst erlebt. Die 38-Jährige wuchs während der Demokratisierung in den 90er Jahren auf. Später war sie als lesbische Aktivistin in der LGBTQ-Bewegung ganz vorne dabei. 2019 legalisierte Taiwan die gleichgeschlechtliche Ehe, als erstes Land in Asien. Die Insel hat ein weibliches Staatsoberhaupt; Geschlechtergerechte Bildung ist gesetzlich verankert. Trotzdem ist Sungs Werdegang auch in Taiwan nicht alltäglich.
Sie entdeckt früh ihre eigene Sexualität über Online-Foren. Als Teenagerin liest sie sogenannte Boys-Love-Geschichten – homoerotische Fan Fiction – verfasst von Frauen für Frauen. Durch die Foren kommt sie in Kontakt mit Fetisch-Communities und lernt als 18-Jährige BDSM kennen. Sie genießt die Rolle der Domina und gibt sich den Künstlerinnennamen Shi-ye, auf Deutsch „Zehn Nächte“. In den darauffolgenden Jahren sammelt Sung in BDSM-Spielen vielschichtige Erfahrungen mit menschlicher Sexualität. Die bilden heute, verbunden mit Kenntnissen aus ihrem Psychologie-Studium, die Grundlage ihrer Workshops.
Lustworkshops für ein besseres China
Als Sung 2011 für ein Jahr nach Peking geht, findet sie dort eine wachsende Szene feministischer Graswurzel-Organisationen vor, die sich für Aufklärung, LGBTQ-Rechte und sexuelle Selbstbestimmung einsetzen. Die Liberalisierung hält nicht lange an. Unter Xi Jinping machen viele Nichtregierungsorganisationen dicht oder werden in den Untergrund gedrängt. Aber ihre Kontakte von damals sind es, die Sung 2016 schließlich ermutigen, ihren Workshop zu konzipieren.
Die Taiwanerin lebt zu diesem Zeitpunkt wieder in ihrer Heimat, wo Frauen Fragen zu Sex einfach googeln. Ein Gedanke, der für die meisten Chinesinnen tabu sei, sagt Sung – aus Internetzensur folgt Selbstzensur. „Wenn diese Frauen lernen, sich selbst mehr zu lieben, dann macht das vielleicht das Land besser“, so ihre Hoffnung.
Ihre Workshops beginnt sie mit einer grundsätzlichen anatomischen Einführung: Wie ist die Vulva aufgebaut? Was ist die Klitoris, wo sind die erogenen Zonen in der Scheide und wie kann ich sie stimulieren? Und dann, sagt sie, brauchten ihre Klientinnen viel Ermutigung, sich selbst zu erkunden und sich immer wieder geduldig zu stimulieren, bis sie ihren Orgasmus richtig gut kennen. Die detaillierten Anweisungen dazu liefert Sung in drei aufeinanderfolgenden Sitzungen online, mit optionalem Selbstversuch im Livestream.
Danach begleitet sie die Schülerinnen weiter in Chat-Gruppen und Einzelgesprächen. Viele der meist heterosexuellen Klientinnen treibt der Wunsch an, den Sex mit dem Partner zu verbessern. Für Sung ist die Voraussetzung zum Erfolg, dass die Frauen erst lernen, ihre eigene Lust als Selbstzweck zu genießen – nicht als Ziel, um dem Partner zu gefallen. Nur wenn sie selbst wüssten, was sie beim Vorspiel brauchen, könnten sie es von ihrem Freund oder Mann einfordern.
Damit ihre Arbeit im chinesischen Internet möglich ist, sei ein „feinfühliger Tanz“ mit den Zensor*innen notwendig, erklärt Sung, die ihre öffentlichen Inhalte genau auf das abstimmt, was gerade noch erlaubt ist. Sie ist Teil einer zehnköpfigen Firma, die aus dem chinesischen Shenzhen heraus operiert und mit „Beratung und Training für sexuelle Gesundheit“ wirbt. Weil es ein kommerzielles Format ist, werde es von den Behörden nicht so scharf ins Visier genommen wie die Arbeit von Nichtregierungsorganisationen.
Vaginale Stimulation als Gefühlslabor
Neben den Online-Klassen für Chinesinnen bietet die Sexualberaterin jährlich vier bis fünf Präsenzveranstaltungen in Taiwan an, so wie an diesem Samstagnachmittag in Taipei. In einem kleinen Veranstaltungsraum sind die Vorhänge zugezogen, das Licht gedimmt. Auf dem Tisch liegt das Stoffmodell einer Vulva, eine Tube Gleitgel und ein paar Dildos. An der Wand hängen Seile und Peitschen; der Raum ist eigentlich ein BDSM-Studio. In einem Halbkreis auf dem Boden sitzen 14 Frauen von Mitte 20 bis Anfang 40. Vor ihnen steht Sung Shi-ye.
Der fünfstündige Kurs kostet stolze 120 Euro. Angemeldet haben sich größtenteils Bekannte von Bekannten. Sung Shi-ye ist gut vernetzt in Taipeis sexpositiver Szene. Sie beginnt den Nachmittag mit einem Gespräch über die inneren Blockaden, die daran hindern können, sich beim Sex ganz fallen zu lassen. Binnen weniger Minuten gibt es erste Meldungen mit sehr persönlichen Geschichten aus der Runde. Eine Frau erzählt vom ständigen Druck, beim Sex zum Orgasmus zu kommen. Eine andere berichtet von Mobbing durch einen früheren Partner. Sung Shi-ye weiß, dass es oft emotionale Themen und traumatische Erinnerungen sind, die hinter Lustlosigkeit und Orgasmusschwierigkeiten stecken.
„Im Unterricht begegnen die Frauen ihren sexuellen Traumata, die sie vergessen hatten. Bei der Berührung des Körpers fällt es ihnen wieder ein. Sie wollen sich dem nicht stellen, aber ich gebe ihnen eine Gelegenheit, sich daran zu erinnern.“ Die Arbeit an diesen Traumata sei hart und könne Jahre dauern. Das sei nicht ihre Aufgabe. Sie sieht ihr Angebot als die erste Stufe in einer langen Treppe zur Aufarbeitung – und als Gelegenheit, den eigenen Körper wieder für sexuelle Empfindungen zu sensibilisieren. Das Stimulieren der eigenen Vulva sei „Pandoras Box der Gefühle“. „Und in meinen Workshops öffnen wir sie zusammen“, so Sung.
Klitorismodelle und Masturbationsanleitung
Anhand eines handgenähten Stoffmodells zeigt Sung die Beschaffenheit der Klitoris im Körperinneren. Sie erklärt, wie der längliche Schwellkörper über vaginale Stimulation angeregt wird und wo G-Punkt und A-Punkt in der Scheide liegen. Nach der technischen Einführung geht es an die Selbsterfahrung: Erst wird eine Atemtechnik geübt, die die Aufmerksamkeit auf die Genitalregion lenken soll. Dann streichen sich die Teilnehmerinnen in Zweierteams über Gesicht und Körper, um die sinnliche Wahrnehmung zu aktivieren.
Schließlich sitzen 14 Frauen im Kreis um die Lehrerin, die anhand eines Unterleibs aus Gummi die Selbstbefriedigung vormacht. Die offene Atmosphäre macht es den Teilnehmerinnen leicht, nachzufragen und selbst an dem Gummimodell herumzuprobieren. Zum Schluss wird der Raum durch Stellwände aufgeteilt, Matten werden ausgelegt, das Licht geht aus. Die Teilnehmerinnen sind jetzt eingeladen, das Gesehene an sich auszuprobieren. Die Lehrerin macht die Runde, beantwortet Fragen, berät.
Nach fünf Stunden ist der Workshop vorbei. Auch wenn es nur ein Nachmittag war: Der Workshop hat den Frauen einen Raum geboten, der eigenen Sexualität einmal ganz bewusst zu begegnen, jenseits von Alltag und Beziehungsstress. Eine 40-jährige Teilnehmerin sagt, ihr sei vorher nicht klar gewesen, wie groß die Klitoris ist. Als Jugendliche hätte sie kaum Gelegenheit gehabt, ihren Körper zu erkunden.
Jetzt ist sie verheiratet und Mutter zweier Kinder – und das Sexleben ein Problemthema: „Ich weiß, dass die Schwierigkeiten in meiner Ehe davon nicht verschwinden, aber ich möchte erst einmal an meinen eigenen Problemen arbeiten.“ Sie sagt, sie habe viel gelernt, auch wenn sie nicht weiß, ob sie im Alltag Zeit finden wird, es umzusetzen. Für Sung Shi-ye ist das okay. Sie fühlt sich nicht verantwortlich für ihre Klientinnen. Ihre Techniken seien vor allem ein Angebot. Das Üben ist den Teilnehmerinnen sowieso selbst überlassen.
* Chinesischsprachige Namen werden hier entsprechend der originalen Schreibweise mit „Nachname Vorname“ angegeben.