Nächtlicher Heimweg – ein Horrorgame
Porträt einer Game-Designerin
Nachts allein durch dunkle Straßen gehen – für viele Frauen eine beklemmende Vorstellung. Es ist das Thema von Hsu Yi-wens preisgekröntem Spiel „Return at Night“. Die Game-Designerin nutzt virtuelle Realität und Horror, um die Angst von Frauen vor sexualisierter Gewalt zu thematisieren.
Carina Rother, Taipei
Du tauchst ein in eine Welt bei Nacht. Du bist allein, umgeben von grauen Fassaden eng aneinander gereihter Apartmentblocks. Ein paar Straßenlaternen flackern milchig. Hinter Fenstern, hoch oben, ein Lichtschein hier und da, sonst umgibt dich Dunkelheit. Angespannt gehst du durch verwinkelte Hinterhöfe nach Hause. Es ist die Simulation einer typischen Wohngegend in Taiwan, lebensecht nachempfunden bis ins letzte Detail.
Deine Augen tasten sich suchend durch die Nacht. Plötzlich, eine Silhouette. Da steht jemand und blickt herüber. Eine männliche Gestalt, ein schwarzer Kapuzenpulli, darunter ein gespenstisch weißes Gesicht, das dich anstarrt. Flackernde Leuchtschrift taucht auf und schreibt deine panischen Gedanken an die Hausfassaden: „Wer ist das? Ein Fremder? Allein?“ Die Hast nach drinnen beginnt.
Gaming-Preis für Masterarbeit
Es ist der Auftakt des Virtual Reality-Videospiels „Return at Night (Abre numa nova janela)“. Virtual Reality (VR) bedeutet, dass Spieler*innen mit Hilfe eines Headsets eine virtuelle Welt betreten und sie mit allen Sinnen erleben. Das 10-minütige Horror-Game ist die Abschlussarbeit der Spieledesignerin Hsu Yi-wens*. Das Spiel holte 2022 den Impact Award des internationalen Game-Design Festivals „IndieCade“.
Auch das „Sundance der Gaming-Industrie” genannt, feiert das Festival jedes Jahr unabhängig entwickelte Games. Es war das erste Mal, dass eine studentische Arbeit aus Taiwan eine der begehrten Auszeichnungen erhalten hat. Die Jury begründete die Auszeichnung: „[Return at Night] erinnert uns daran, dass die vertrauten Orte außerhalb unserer Headsets höchst umkämpfte Räume sind. Es fordert uns auf, uns mit unserem geschlechtsspezifischen Erleben der Welt auseinanderzusetzen.“
Wie dem Spiel das gelingt und wie es dabei in das Horror-Genre passt, zeigt die weitere Erkundungstour durch die Simulation: Du bist auf der Flucht vor der Kapuzengestalt, stößt die erstbeste Tür auf. Im fahlen Licht einer öffentlichen Toilette erblickst du weibliche Körperteile, mit Stacheldraht umwickelt, von der Decke baumelnd. Oder sind es die Gliedmaßen einer Schaufensterpuppe? „Halluzination? Oder Wirklichkeit?“ flackert die Leuchtschrift. Du hastest weiter.
Deine Schritte auf echtem Boden tragen dich durch die virtuelle Welt. Du wirst verfolgt. Aber nicht von der Gestalt, sondern von einem neuen Wesen, groß und monströs, das aus der Dunkelheit immer näherkommt, auf dich zu. Frauenkörper, nackt, mit Draht zusammengeschnürt, mit Armen, die nach dir greifen, und bizarren, fleischfarbenen Flügeln – ein mit Dornen und Rosen besetztes Geflecht, geformt wie zwei Eileiter, die sich um eine Gebärmutter ranken. Eine Chimäre, das Weibliche – so will es die Designerin.
Weibliche Verwundbarkeit wird zum Horrormotiv
„Dieses Wesen ist ein Symbol für Weiblichkeit und Angst“, sagt Hsu Yi-wen im Gespräch. Die Gestalt symbolisiere die Angst von Frauen vor sich selbst. „Warum hat die Spielerin Angst? Weil sie eine Frau ist. Es ist die Angst, eine Frau zu sein.“ Die Entwicklerin hinter der Horrorwelt von „Return at Night“ ist eine zierliche Person mit langen schwarzen Haaren, die Fragen geduldig anhört und mit einem vorauseilenden Lächeln beantwortet.
Die Taiwanerin hat Multimediale Animationskunst an der Nationalen Taiwan Universität der Künste studiert. Heute arbeitet sie als 3D Art Designerin in einer kleinen Gaming-Firma, in der ungefähr gleich viele Männer wie Frauen beschäftigt sind. Im Studium sei das noch anders gewesen, mit Männerüberhang in den Programmierfächern. Nur der Schwerpunkt Kunstdesign zog mehr Studentinnen an. Auch Hsus ist auf Design spezialisiert, von 3D Modellierung bis Szenen- und Charakterdesign. Seit ihrer Kindheit liebt sie Videospiele, erzählt die 28-Jährige. Als Game-Designerin erlebt sie dieselbe Begeisterung durch andere Augen.
Auf den ersten Blick scheint es überraschend, dass ihr eine Welt entsprungen ist, in der Körperteile von der Decke baumeln und kreischende Frauentorsos hinter knarrenden Türen lauern. Aber sobald sie von der körperlichen Unterlegenheit von Frauen spricht, wird klar, woraus der Horror in Hsus VR-Game eigentlich besteht: Aus der Verwundbarkeit des Weiblichen. „Weil wir Frauen aufgrund offensichtlicher Geschlechtsmerkmale anfällig für Blicke und Verletzungen sind“, erklärt sie, habe sie weibliche Körperteile gewählt, um Schock und Angst zu erzeugen.
Was Hsu Yi-wen in „Return at Night“ als Horrorerlebnis zum Leben erweckt, ist die ständige, implizite Bedrohung durch sexualisierte Gewalt. Sie begegnet Frauen und Mädchen in Form von Warnungen, wie sie sich zu kleiden und zu verhalten haben, als Topos in Kunst, Literatur und Medien, und nicht zuletzt in allen Bereichen des Alltags.
Wem gehört der öffentliche Raum?
Laut einer Umfrage (Abre numa nova janela) des taiwanischen Gesundheitsministeriums vom August 2022 haben 45 Prozent aller Frauen in Hsus Alter (18 – 30 Jahre) bereits sexuelle Belästigung erlebt, ebenso ein Fünftel aller Minderjährigen. 20 Prozent der Belästigung fand in digitalen Medien statt, der Großteil aber in der Öffentlichkeit, körperlich oder verbal: 38 Prozent der Betroffenen nannten öffentliche Räume, 16 Prozent öffentliche Verkehrsmittel.
Wie in vielen Ländern fühlen sich Frauen und Mädchen auf der Straße nicht immer sicher. Auch queere und nicht-binäre Menschen sind statistisch häufiger von Belästigung im öffentlichen Raum betroffen, ebenso wie Angehörige ethnischer oder religiöser Minderheiten. Denn Einschüchterung festigt soziale Machtstrukturen. Täter*innen signalisieren Betroffenen, dass sie sich in öffentlichen Räumen nicht frei und unbeschwert bewegen dürfen.
Sexuelle Belästigung ist dabei besonders wirkmächtig. Überall auf der Welt „schränkt sie die Bewegungsfreiheit von Frauen und Mädchen ein. Sie beschneidet ihre Teilnahme an Schule, Arbeit und öffentlichem Leben“, schreibt die Organisation UN Women in ihrer Kampagne (Abre numa nova janela) zur Beendigung von Gewalt gegen Frauen. Sexuelle Belästigung ist so wirksam, weil ihr stets die Androhung eines sexualisierten Übergriffs innewohnt. Die Gewalt muss gar nicht ausgeübt werden – und ist trotzdem effektiv.
Vorlage war die eigene Erfahrung
Auch in „Return at Night“ entspringt der Horror der bloßen Andeutung der Gefahr. Das ist von der Entwicklerin so gewollt: „Tatsächlich habe ich die Person, die dich im Spiel verfolgt, so entworfen, dass sie dir nie etwas tut. Es gibt keinen Angriff“, so Hsu. Am Ende kommen die Spieler*innen im schützenden Apartment an. Der Horror scheint vorbei. Doch der letzte Blick vom Balkon verrät: Er steht noch unten, regungslos, und starrt herauf.
Die Game-Designerin verarbeitet in dem Spiel eine nächtliche Begegnung, die sich genauso abgespielt hat: Ein Unbekannter, der plötzlich auftaucht und Hsu mit seinen Blicken verfolgt. Panische Angst, als sie durch das Treppenhaus nach oben hetzt. Unten vor dem Haus sieht sie den Mann weiter stehen, der jetzt weiß, wo sie wohnt und wann sie nach Hause kommt. Sie sieht den Mann nie wieder. Doch die Idee für ihr Spiel ist geboren; Hsu will den Horror dieses Moments für alle erfahrbar machen – und nutzt dazu auf eindrucksvolle Weise die Mittel von Virtual Reality Gaming.
Ihren Einsatz von lebensechtem Raum- und Sounddesign, gekoppelt mit einem präzise kontrollierten Spieltempo, nennt der amerikanische Spieleforscher Sean Bouchard „konzeptionell wirklich beeindruckend“. Das Fazit seiner Besprechung des Preisträger-Spiels für die „IndieCade“ lautet: „Es nutzt die Stärken von VR auf unglaubliche Weise.“
Stalking als Metapher
Damit hat die Entwicklerin ihr Ziel erreicht. Sie setzt das Potential ihres Mediums bewusst ein, um die Spieler*innen durch ihr Treppenhaus des Grauens zu jagen. Hsu sagt selbst, dass sie mit dem Spiel keine politischen Ziele verfolgt habe. Hätte sie den Auftakt des Spiels – ein Stalkingerlebnis – als soziales Phänomen eingeordnet, wäre es ein anderes Spiel geworden.
Expert*innen für sexualisierte Gewalt betonen schon lange, dass das verbreitete Bild von dem unbekannten Gewalttäter, der im Dunkeln auf seine Opfer lauert, hinter der täglichen Realität von Missbrauch zurückbleibt. Laut der US-Organisation gegen Missbrauch RAINN (Abre numa nova janela) wird in den USA nur jede fünfte Sexualstraftat von Fremden verübt. Die häufigsten Täter*innen sind Bekannte, Angehörige oder intime Partner*innen.
Dass Stalking meist eine Beziehungstat ist, zeigt auch eine Umfrage (Abre numa nova janela) von Taiwans „Modern Women’s Foundation“ aus dem Jahr 2014. Darin gaben fast 80 Prozent aller Menschen, die von Gewalt in der Beziehung betroffen waren, an, dabei auch Stalking erlebt zu haben – fast die Hälfte von ihnen über ein Jahr hinweg, ein Viertel der Befragten sogar drei Jahre oder länger. Stalking ist nur an der Oberfläche die Androhung von Gewalt in Form eines plötzlichen Übergriffs. Dahinter liegt der Wille zu kontinuierlicher Einschüchterung und Kontrolle.
In „Return at Night“ bleibt der Stalker ein Fremder. Der Mann mit der Kapuze ist eine Metapher für die Furcht vor dem nächtlichen Heimweg, eine kollektive Erfahrung, in Horror übersetzt. „Es geht um die Angst vor dem Unbekannten“, fasst Hsu Yi-wen ihr Spiel zusammen. „Wir wissen nicht, wann uns Gefahr droht.“ So erlebt die Game-Designerin das Frausein in der Welt.
* Chinesischsprachige Namen sind wie im Original als „Nachname Vorname“ angegeben.