Was im Gehirn passiert, wenn du an Alzheimer erkrankst
Jeden Freitag erzähle ich dir von Erkenntnissen aus Neurowissenschaft und Psychologie, die du kennen solltest. Heute: über fiese Schurken, Klumpen und Schienen, die das Gehirn manipulieren.
Das Leben des Brain ist zurück! Ich war in einer kleinen Sommerpause und wieder mit 150 Kindern und Jugendlichen für zwei Wochen im Zeltlager. Ich habe es leider nicht geschafft, während dieser Zeit neue Ausgaben dieses Newsletters zu produzieren, deshalb war hier kurz Ruhe. Aber: Ab jetzt bekommst du wie gewohnt wieder jeden Freitag Erkenntnisse aus Hirnforschung und Psychologie in dein Postfach. Let´s gooo!
Vor einigen Monaten habe ich ein kurzes Video (Abre numa nova janela) gesehen, bei dem ich mehrfach schlucken musste. Im Video sitzen eine schwangere Frau und ein alter Mann an einer Bushaltestelle. Die Frau atmet tief durch und der Mann fragt sie: „Geht´s Ihnen gut?“
Die Frau bejaht.
Der alte Mann fragt sie, wie lange sie schon schwanger ist und die Frau reagiert irritiert. Sie guckt ihn an, als wäre sie ernsthaft verärgert über diese private Frage. Er entschuldigt sich schon, dann atmet sie durch und antwortet doch noch. Sie sei in der 21ten Woche, sagt sie.
Der Mann fragt sie, ob ihr die Schwangerschaft schwerfällt. Und er schiebt hinterher: „Sie müssen doch ganz aufgeregt sein!“
Nach einer Pause sagt sie schließlich: „Ich habe Angst.“
Er fragt: „Wovor?“
Sie: „Vor allem.“
Er: „Es wird schon alles gutgehen!“
Sie: „Das sagen alle. Aber was, wenn es nicht gutgeht?“
Er: „Ihr Mann wird sich bestimmt kümmern. Sie schaffen das schon! Jeder schafft das!“
Sie: „Ist das so?“
Er: „Was ist mit Ihrer Familie?“
Sie: „Es ist kompliziert. Es sind nur ich und mein Vater. Und er ist krank.“
Er: „Es wird schon alles gutgehen!”
Die Frau weint mittlerweile. Als der Bus kommt, sagt sie: „Na los, das ist unser Bus!“
Der alte Mann bleibt sitzen. Die Frau schaut ihn wartend an, nimmt schließlich seine Hand und sagt: „Na los, Papa, komm schon.“
Als ich diesen Kurzfilm zum ersten Mal gesehen habe, schossen mir die Tränen in die Augen. Glücklicherweise kann ich mir bisher nur ausmalen, wie es ist, wenn sich die eigenen Eltern nicht mehr an dich erinnern können. Gemäß Prognosen könnte die Anzahl der Alzheimer-Betroffenen (im Alter ab 65 Jahren) in Deutschland im Jahr 2030 auf bis zu 2 Millionen ansteigen, im Jahr 2040 auf bis zu 2,4 Millionen und im Jahr 2050 bis zu 2,8 Millionen erreichen. In Europa sind fast 10 Prozent der über 65-jährigen betroffen, circa 15 Prozent der 80 bis 84-jährigen und fast jeder Vierte der 85 bis 89-jährigen.
Die Wahrscheinlichkeit, dass ich oder auch du als Leser bzw. Leserin dieses Newsletters selbst mal in eine ähnliche Situation komme, ist also ziemlich hoch. Deshalb geht es heute darum, was eigentlich im Gehirn schief läuft, wenn wir an Alzheimer erkranken.
Die Grundlage unseres Denkens wird angegriffen
Zunächst eine kurze Definition: Als Demenz wird laut der WHO der Abbau und der Verlust kognitiver Fähigkeiten bezeichnet. Das umfasst Bereiche wie Aufmerksamkeit, Lernen und Gedächtnis, Orientierung, Urteilsvermögen und planendes Handeln (exekutive Funktionen), Sprache, Motorik, und Fähigkeiten zum sozialen Austausch. Alzheimer (Abre numa nova janela) gilt als häufigste Form der Demenz – nach Schätzung sind bis zu zwei Drittel aller Menschen mit Demenz von der Alzheimer-Erkrankung betroffen. Deswegen konzentriere ich mich heute auch auf Alzheimer.
Die Deutsche Alzheimer Gesellschaft schreibt: „Das Typische der Alzheimer-Krankheit besteht darin, dass das Absterben von Nervenzellen mit der Bildung von abnorm veränderten Eiweißbruchstücken einhergeht, die sich in Form von Fäserchen im Gehirn ablagern.“
Ich weiß nicht, wie es dir geht, aber ich habe nach dieser Erklärung mehr Fragezeichen als Antworten im Kopf. Fangen wir also vorne an.
Wie ich schon oft beschrieben habe, kann man eigentlich alles, was wir als Menschen können, darauf zurückführen, dass unsere Nervenzellen in der Lage sind, Signale weiterzuleiten und so miteinander zu kommunizieren. Je öfter zwei Nervenzellen miteinander kommunizieren, desto besser werden sie darin. Dieser Mechanismus ist die Grundlage für alles, auch für unser Gedächtnis.
Wenn wir uns nicht mehr gut erinnern können, muss also irgendwas im Gehirn passieren, dass diese Kommunikation zwischen den Nervenzellen verschlechtert. Und genauso ist es.
Amyloid-beta Plaques: Die klebrigen Klumpen
Zwei der wichtigsten „Schurken“ bei Alzheimer sind Amyloid-beta Plaques und Tau-Fibrillen. Diese beiden Proteine spielen eine zentrale Rolle im Krankheitsverlauf und schädigen das Gehirn auf unterschiedliche Weise.
Amyloid-beta ist eigentlich ein Nebenprodukt eines größeren Proteins, das als Amyloid-Vorläuferprotein (APP) bezeichnet wird. APP befindet sich in den Zellmembranen von Nervenzellen und hat dort eine wichtige Funktion, die nicht ganz verstanden ist, aber mit dem Wachstum und der Reparatur von Nervenzellen zusammenhängen könnte.
Normalerweise wird APP durch Enzyme in kleinere Stücke geschnitten, was ein normaler und gesunder Prozess im Gehirn ist. Und eines dieser Stücke ist eben das Amyloid-beta-Protein. Im Gehirn gesunder Menschen wird ständig Amyloid-beta-Protein produziert und abgebaut, ohne Probleme zu verursachen. Amyloid-beta-Proteine gelangen ständig in den synaptischen Spalt zwischen Nervenzellen und werden dort von Glia-Zellen (stell dir diese als Hausmeister im Gehirn vor) abgeräumt.
Bei Alzheimer-Patient:innen funktioniert dieser Abbau jedoch nicht richtig. Das Amyloid-beta-Protein beginnt sich zu verklumpen und bildet Plaques zwischen den Nervenzellen. Diese Plaques sind wie klebrige Ablagerungen, die sich in der grauen Substanz des Gehirns ansammeln.
Das Problem mit diesen Plaques ist, dass sie die Kommunikation zwischen den Neuronen stören. Wenn Amyloid-beta-Plaques die Synapsen blockieren, können die Nervenzellen nicht mehr richtig miteinander sprechen. Dies ist einer der Hauptgründe (Abre numa nova janela), warum Alzheimer-Patient:innen Schwierigkeiten mit dem Gedächtnis und der Verarbeitung von Informationen haben.
Verwirrte Straßen im Inneren der Zellen
Kommen wir zum zweiten Schurken: Tau-Proteine. Die haben in gesunden Gehirnen eine wichtige Aufgabe: Sie stabilisieren das Zellskelett in den Neuronen. Man kann sich das wie kleine Schienen vorstellen, die dafür sorgen, dass wichtige Nährstoffe und Moleküle innerhalb der Nervenzelle sicher transportiert werden.
Bei Alzheimer-Patient:innen verändert sich jedoch die Struktur dieser Tau-Proteine, und sie beginnen sich zu verklumpen. Das führt dazu, dass sich die stabilen Schienen auflösen und die Zellen ihren inneren Transport nicht mehr ordnungsgemäß aufrechterhalten können. Diese verklumpten Tau-Proteine bilden (Abre numa nova janela) sogenannte Neurofibrilläre Tangles, oder einfach Tau-Fibrillen, die sich im Inneren der Zellen ansammeln und die Zellen schließlich absterben lassen.
Das Zusammenspiel von Plaques und Fibrillen
Das Zusammenspiel dieser beiden Schurken – Amyloid-beta Plaques und Tau-Fibrillen – schädigt das Gehirn nachhaltig: Zuerst blockieren die Amyloid-Plaques die Kommunikation zwischen den Nervenzellen, und dann führen die Tau-Fibrillen zum Absterben der Zellen selbst.
Wenn man die Gehirne von Alzheimer-Patient:innen beispielsweise im CT oder MRT anschaut, kann man diese Veränderungen sogar auf struktureller Ebene sehen. Das Gehirn schrumpft um bis zu 20 Prozent, die sogenannten Hirnwindungen an der Hirnoberfläche verkleinern sich und die sogenannten Hirnfurchen vertiefen sind.
Mit der Zeit breitet sich dieser Prozess im gesamten Gehirn aus, beginnend in Regionen, die für das Gedächtnis und das Lernen wichtig sind, und greift schließlich auch andere Bereiche an, was zu immer schwereren kognitiven Störungen (Abre numa nova janela) führt.
Und schließlich, wenn sich die Krankheit weiter ausbreitet, erkennen wir unsere eigene Tochter nicht mehr.
Ich will mit einer guten Nachricht enden: Obwohl noch kein Medikament gefunden wurde, dass diesen Prozess verlässlich verhindert, weiß man mittlerweile, dass wir selbst beeinflussen können, wie sehr und wie früh sich Amyloid-beta Plaques in unserem Gehirn ausbreiten. Eine neue Übersichtsstudie benennt ganz konkrete Schritte, die jeder von uns gehen kann. Darum geht es nächste Woche.
Ist überzeugt davon, dass der Umgang mit Kindern das Gehirn jung hält: dein Bent 🫶🏻🧠