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Liebe Leserin, lieber Leser,

die heilige Schrift konfrontiert uns zuweilen mit auf den ersten Blick unverständlichen und selbst auf den zweiten Blick esoterisch wirkenden Passagen. Ich spreche hier nicht von den allegorischen Meisterstücken der Johannesapokalypse, die uns wie durch einen Spiegel nur die „rätselhaften Umrisse“ (1 Kor 13,12) eines kommenden Weltengerichts ankündigen. Vielmehr sind es Szenen, die keinen tieferen Sinn zu bergen scheinen, aber in ihrer Einfachheit irritieren, der hermeneutischen Kraft der Lesenden einiges an Anstrengung abverlangen und trotzdem vielfach die zärtlichsten Geheimnisse des Glaubens offenbaren. Eine solche Begebenheit referiert das heutige Tagesevangelium.

II)

Kurz vor seiner Entrückung erscheint Jesus wieder allen Jüngern in Jerusalem. Wie so häufig können diese ihren Augen nicht trauen und halten den Auferstandenen für einen „Geist“ (Lk 24,37). Um diesen Zweifel in Herzen auszuräumen, verweist der der Heiland wieder auf seine die schmerzhafte Kreuzigung bezeugenden Male:

„Seht meine Hände und meine Füße an: Ich bin es selbst. Fasst mich doch an und begreift: Kein Geist hat Fleisch und Knochen, wie ihr es bei mir seht.“ (Lk 24,39)

Diese leiblichen Zeichen vermögen die versammelten Jünger aber nicht zu überzeugen. Jesus greift daher zu einem ungewöhnlichen Mittel:

„Habt ihr etwas zu essen hier? Sie gaben ihm ein Stück gebratenen Fisch; er nahm es und aß es vor ihren Augen.“ (Lk 24,42-43)

Zunächst könnten wir diese Episode als eine kulinarische Fortsetzung des Beweises der leiblichen Anwesenheit Jesu interpretieren; als Beweis dafür, dass der Messias wirklich auferstanden ist und „in allem wie wir versucht worden ist, aber nicht gesündigt hat“ (Heb 4,15). Allerdings nimmt der Fisch sowohl im alten Testament als auch in den Evangelien eine prominente, über seine reine Materialität hinausgehende Rolle ein. So weist im Buch Tobit der Erzengel Raphael den jungen Tobias auf die leibliches und geistiges Leid lindernde Wirkung des Fisches hin:

„Lass das Herz und die Leber des Fisches vor einem Mann oder einer Frau, die von einem Dämon oder einem bösen Geist angefallen werden, in Rauch aufgehen und jeder Anfall wird vertrieben werden. Die Dämonen werden in Ewigkeit nicht mehr bei ihm bleiben. Mit der Galle hingegen salbe die Augen eines Menschen, in denen weiße Flecken aufgetaucht sind. Danach hauche auf die weißen Flecken auf den Augen und sie werden heilen.“ (Tobit 6,8-9)

Adam Elsheimer, Tobias und der Erzengel Raphael, um 1650 (Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Raphael_and_Tobias.jpg)

Ein Rat, der auch die Heilung seines unter Blindheit leidenden Vaters Tobit bewirken kann:

„Die Fischgalle in seiner Hand, blies er in Tobits Augen, hielt ihn fest und sagte: Mut, Vater! Er legte das Heilmittel auf und gab es darauf. schälte er mit seinen beiden Händen die weißen Flecken aus den Augenwinkeln und Tobit fiel ihm um den Hals.“ (Tobit 11,11-12)

Jesus wird dem Fisch durch den Akt einer wundersamen Vermehrung am See Genezareth den Status eines nicht nur heilsspendenden, sondern auch heilsverkündenden Symbols zusprechen. Brote und Fische verkünden in der Materie die prophetische Natur Christi:

„Dann nahm Jesus die Brote, sprach das Dankgebet und teilte an die Leute aus, so viel sie wollten; ebenso machte er es mit den Fischen. Als die Menge satt geworden war, sagte er zu seinen Jüngern: Sammelt die übrig gebliebenen Brocken, damit nichts verdirbt! Sie sammelten und füllten zwölf Körbe mit den Brocken, die von den fünf Gerstenbroten nach dem Essen übrig waren. Als die Menschen das Zeichen sahen, das er getan hatte, sagten sie: Das ist wirklich der Prophet, der in die Welt kommen soll.“ (Joh 6,11-14)

Michael Pacher, Die wundersame Brotvermehrung, 1481 (Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:St._Wolfgang_kath._Pfarrkirche_Pacher-Altar_Brotvermehrung_01.jpg)

In ähnlicher Weise muss der Verzehr des Fisches durch Jesus im Lukasevangelium interpretiert werden: Erst in der leiblichen Begegnung mit Christus, kirchlich durch die Eucharistie, kann Heil erlangt werden. Damit ist aber wiederum nicht nur die leibliche Verwandlung der oder des einzelnen Gläubigen, sondern die Eröffnung einer vollständig anderen Sicht, die Eröffnung geistiger Geheimnisse gemeint:

„Dann sagte er zu ihnen: Das sind meine Worte, die ich zu euch gesprochen habe, als ich noch bei euch war: Alles muss in Erfüllung gehen, was im Gesetz des Mose, bei den Propheten und in den Psalmen über mich geschrieben steht. Darauf öffnete er ihren Sinn für das Verständnis der Schriften.“ (Lk 24,44-45)

Diese Zeugenschaft unterscheidet sich fundamental von einer auf die Augen bezogenen oder gar okularzentristischen Gotteserkenntnis: Sie ist leibliche Schau, die im ,Kosten‘ des Heilands Heil erwartet, und sich so wieder von den im Rahmen des Newsletters bisher vorgestellten biblischen Wissenskonzeptionen unterscheidet. Das ,Kosten‘ des Heilands, des  „lebendige[n] Brot[es], das vom Himmel herabgekommen ist“ (Joh 6,51), bedeutet weder völlige Inbesitznahme noch Distanz, eher die sich anverwandelnde Begegnung mit dem Fremden, die distanzerzeugende Auflösung der Distanz.

III)

An dieser Stelle liegt der Sprung zu einem zentralen Werk der Psychologie, Ethnologie, Religionswissenschaft und Kulturtheorie nahe: Sigmund Freuds (1856-1939) aus vier einzelnen Aufsätzen zusammengestellte Schrift „Totem und Tabu“ (1913). Im Rahmen seiner Untersuchung gewisser „Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker“ kommt der Vater der Psychoanalyse an vielen Stellen auf den Zusammenhang von Tabu, Opfer und Eucharistie zu sprechen. 

Im Lichte seiner Interpretation der Erbsünde, des adamischen Aufstands gegen den Schöpfer, als „Mord“ (S. 437), der nur durch die „Opferung eines anderen Lebens gesühnt werden“ (ebd.) kann, erscheint Freud die Kommunion als widersprüchlicher Versuch der Versöhnung: Einerseits „bekennt sich denn in der christlichen Lehre die Menschheit am unverhülltesten zu der schuldvollen Tat der Urzeit“ (ebd.); andererseits setzt sich der Mensch im Verzehr von „Fleisch und Blut des Sohnes“ (ebd.) an die Stelle des Vaters und heiligt sich „durch diesen Genuß“ (ebd.) selbst. Für den Psychoanalytiker ist diese Heiligung jedoch trügerisch: Eher wiederholt der Mensch ihn ihr die „Beseitigung des Vaters“ (ebd.). 

Allerdings verkennt Freud hier wohl das sich jenseits der Inbesitznahme vollziehende Wesen der Eucharistie. Sie ist Gabe; Fisch, der den Menschen zwar in den Bereich das Göttlichen zieht, aber fremd bleibt. Das Selbstopfer Christi ermöglicht kein Gottsein. Die leibliche Begegnung mit dem Heiland kann nur vergöttlichen.

Nach dem Gastbeitrag der letzten Woche wird in dieser Woche Sektion IV leer bleiben. Ich hoffe allerdings, dass dies in den kommenden Wochen wieder der Fall ist. Zuletzt gilt mein besonderer Dank wieder denjenigen Mitgliedern, die diesen Newsletter nun seit knapp einem Monat finanziell mit Scherflein, Gabe oder Geschenk unterstützen, sowie allen interessierten Leserinnen und Lesern oder Kommentatorinnen und Kommentatoren auf Twitter.

Herzlichst

Louis Berger

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