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Mein lieber Sven,

als ich klein war, verlor ich mich gelegentlich in einem Gedankenexperiment. Es begann mit der Frage: Was wäre, wenn es nichts gäbe – keine Autos und keine Menschen, keine Bäume und keine Sahnetorten? Es wäre ein großes Nichts, in dem wir nie erfahren hätten, dass es auch eine Version des Nichts hätte geben können, in der wir etwas gewesen wären – eine mit Autos, Menschen und Sahnetorten. So weit, so gut. Es schloss sich aber eine weitere Frage an: Wie sähe dieses Nichts aus – wäre es weiß? Kann ja nicht sein. Weiß wäre ja nicht nichts. Wäre es schwarz? Auch nicht. Die einzig richtige Antwort wäre ja: weder noch. Aber irgendwas müsste das Nichts ja sein, damit man es sich vorstellen kann, und damit war dann mein Experiment auch schon beendet: Das Nichts war nicht vorstellbar, denn sobald ich es mir vorzustellen versuchte, war es nicht mehr nichts.

Heute, ein paar Jahrzehntchen später, weiß ich: Wenn ein Nichts nicht vorstellbar ist, hat es auch keinen Sinn, darüber nachzudenken. Man muss den Gedanken vielmehr umdrehen. Wir kommen aus dem nicht vorstellbaren Nichts und wir kehren dorthin zurück. In der Zeitspanne dazwischen ist es an uns, dieses Nichts mit Sinn zu füllen. Das Leben selbst hat keinen, es ist ja aus dem nicht vorstellbaren Nichts gewachsen. Aber, und das ist der Trost, es stellt uns alles zur Verfügung, um ihn zu finden.

Doch frei nach Karl Valentin gilt: Das Leben ist schön, macht aber viel Arbeit und die nimmt uns niemand ab. Wer nach dem Sinn des Lebens fragt und auf eine Antwort hofft, die nicht aus dem eigenen Selbst erwächst, kann auch darauf hoffen, satt zu werden, wenn man Anderen beim Essen zusieht. Sinn entsteht, indem man sich in Bewegung setzt. Und deshalb mag ich die Fragen so gern, die Du in Deinem Brief aufgeworfen hast. Sie sind wie ein Kompass, der unsere Nadel nach dem Sinnstern auszurichten hilft.

Lebe ich gerade eine Leidenschaft oder Neugier aus (egal ob erfolgreich dabei oder nicht)?

Macht mir eine Sache oder Tätigkeit gerade Freude, ob klein oder groß?

Gibt mir eine Sache oder Tätigkeit gerade Wert oder Bedeutung?

Gebe ich durch die Tätigkeit meiner Umgebung oder Umwelt, was sie benötigt?

Jede Frage zielt darauf ab, uns täglich zu prüfen: Bewege ich mich in eine Richtung, die meinen Neigungen und Fähigkeiten entspricht? Können die geistigen und körperlichen Energien dabei frei fließen? Oder verlasse ich jeden Morgen mit einem Gefühl die Wohnung, dass der Körper mit Galle geflutet ist, die bis knapp unter den Kehlkopf schwappt, und nach dem Abendessen muss man Wein nachschütten, Chips oder Schokolade, um die Brühe zu verdünnen, wissend, dass sie am nächsten Tag nur umso dickflüssiger und schwerer zu entfernen sein wird?

Das Problem ist ja: Im ewigen Streben nach Fortschritt und Wohlstand, diesem urmenschlichen und sympathischen Zug, gerade weil er uns in Bewegung hält und die Welt auf so vielen Feldern zu einem gesünderen, gerechteren und glücklicheren Ort gemacht hat, hat die Menschheit ein Stadium erreicht, in dem sich nur noch wenige darüber wundern, dass es Essens-Lieferdienste gibt, die Burger und Pommes aus sogenannten Fastfood-Restaurants nach Hause bringen. Zuerst erfindet der Mensch Fastfood, damit er möglichst in Echtzeit bestellen und essen kann. Dann erfindet er Lieferdienste, damit er nicht mehr selbst kochen muss. Und dann liefern die das Essen, das der Mensch ursprünglich möglichst schnell verzehren wollte, nach Hause, wohin es so lange braucht, dass man das Fast nicht mehr englisch aussprechen sollte, sondern deutsch: fast Food.

Wir wollen nicht liefern. Wir wollen beliefert werden. Alles möglichst schnell und mit nur einem Klick. Wir sind keine Bürgerinnen und Bürger mehr, sondern Konsumentinnen und Konsumenten, und was sich nicht mit einem Klick erledigen lässt, ist auch nichts wert, und sei es die Demokratie. Das Paradies heißt heute Amazon Prime und wir merken gar nicht, wie sehr es uns unglücklich macht, erst recht, wo politische Kreise ständig „Freiheit! Freiheit!“ krakeelen, wenn jemand fragt, ob wir eigentlich noch alle Einweg-Becher im Schrank haben angesichts der Auswüchse unserer Sehnsucht nach Bequemlichkeit, weil sie sich offenbar selbst nicht mehr vorstellen können, dass Bewegung Spaß machen kann, wenn sie von uns weggeht und nicht zu uns hin.

Lebe ich gerade eine Leidenschaft aus, indem ich das hinschreibe? Aber hallo: Wenig macht mir mehr Freude als Dir davon zu schreiben, wie irre ich das alles finde. Gebe ich durch diese Tätigkeit meiner Umgebung oder Umwelt, was sie benötigt? Sag du’s mir. Ich jedenfalls habe das Gefühl, etwas sehr Sinnvolles zu tun, wenn ich mich regelmäßig daran erinnere, dass wir ein Stadium von Beklopptheit erlangt haben, das ich manchmal nur noch schwer erträglich finde.

Dazu passt die Premiere eines Films, der mich mindestens so ratlos zurücklässt. „Curveball – Wir machen die Wahrheit“ (Abre numa nova janela) erzählt die Geschichte eines irakischen Ingenieurs, der Ende der neunziger Jahre nach Deutschland kam und dem Bundesnachrichtendienst eine abenteuerliche Geschichte auftischte: Saddam Hussein habe ein geheimes Biowaffen-Arsenal, das er auf LKWs durchs Land fahren lasse, um es verstecken zu können, bevor der Rest der Welt darauf aufmerksam wird. Es stellte sich bald heraus, dass er gelogen hatte, um einen deutschen Pass zu bekommen. Aber da war es schon zu spät: Die Amerikaner hatten die Information bereits für sich nutzbar gemacht, um nach dem 11. September 2001 einen sogenannten Krieg gegen den Terrorismus anzuzetteln. 2003 saß der damalige Außenminister Colin Powell im UN-Sicherheitsrat und präsentierte die vermeintlichen Beweisen für die mobilen Massenvernichtungswaffen, die so stichhaltig waren wie die Erkenntnis, in Brandenburg liefen Einhörner über die Wiesen, die ein zehnjähriges Mädchen auf eine Serviette gemalt hat, weil sie sich gelangweilt hat, als ihre Eltern sie nicht beachtet haben. In den Tagesthemen sagte der ehemalige BND-Chef August Hanning (ab 29:05) sinngemäß: (Abre numa nova janela) Wir haben den Amerikanern doch gesagt, dass die Quelle unsicher war. Tja. Doof gelaufen. Wie ein Kind, das zu seiner Mutter sagt: Der Papa hat mich gestern angefasst. Aber das ist eine nicht bestätigte Information. Der Regisseur Johannes Naber sagt zu seinem Film: „Wenn wir heute von Fake News reden, dann war dort der Anfang davon.“ Und die Frage ist: Überzeichnet der Film die Wirklichkeit? Oder unterzeichnen wir deren Beklopptheit?

Vor wenigen Tagen sagte ich, dass es mir immer wieder schwer falle zu verstehen, dass einerseits die Welt so sehr am Arsch ist und andererseits so viele tolle Menschen so schöne Musik machen, die uns glücklich macht. Für mich geht das schwer zusammen. Man muss doch nur einmal genau hinhören und wird sich danach nie mehr mit der ganzen Unaufrichtigkeit, Verlogenheit und Abgefucktheit gemein machen, die uns gerade so sehr das Leben schwer macht. Da sagte jene, mit der ich darüber sprach: „Aber die Welt ist doch gar nicht so abgefuckt.“ Da wurde es in mir still und ich dachte: hat sie vielleicht recht. Heute Nacht habe ich bei einer Geburtstagsfeier prompt gegen das Nichts angetanzt, im Bewusstsein, dass auch Tanzen Bewegung ist, die Sinn stiftet. Und weil das so ist, schicke ich Dir diesmal zwei Songs und Du kannst selbst entscheiden, wie Du heute schunkeln willst, lässig oder mit Gefühl, und ich kann Dir natürlich nur sehr raten, einfach beides zu machen. Lässiges Fühlen ist ja eh der schönste Zustand.

Sei gedrückt,
Kai

https://www.youtube.com/watch?v=wEj7xYyj9n4 (Abre numa nova janela)

(Ólafur Arnalds ft. Nanna Bryndís Hilmarsdóttir – Particles)

https://www.youtube.com/watch?v=RB8yyLTMabE (Abre numa nova janela)

(Elephanz – Bullitt)

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